Perspektive

Wer ist verantwortlich für den rechten Terror in Chemnitz?

Das politische und mediale Establishment in Deutschland reagiert auf die rechtsradikalen Ausschreitungen in Chemnitz und die Bilder von aggressiven Neonazis, die den Hitlergruß zeigen und Migranten attackieren, mit einer Mischung aus Schock und geheucheltem Entsetzen.

„Eine Schande“, überschrieb die Süddeutsche Zeitung ihren Kommentar und forderte, die Regierung müsse „endlich die Bedrohung von rechts ernst nehmen“. Die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung warnte: „Die Decke zwischen Zivilisation und Barbarei ist dünn… Wo Hetzjagden möglich sind, hat der Rechtsstaat abgedankt.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich am Dienstag auf einer Pressekonferenz mit dem kroatischen Ministerpräsidenten Andrej Plenkovic wie folgt: „Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, dass es Zusammenrottungen gab, dass es Hass auf der Straße gab, und das hat mit unserem Rechtsstaat nichts zu tun.“ Es dürfe „auf keinem Platz und keiner Straße zu solchen Ausschreitungen kommen“.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) sagte, er teile die Erschütterung und die Trauer vieler in der Stadt. „Aber die Erschütterung über diese Gewalttat wurde missbraucht, um Ausländerhass und Gewalt auf die Straßen der Stadt zu tragen. Ich verurteile die rechtsextremen Übergriffe aufs Schärfste.“ Allein der Staat sorge „in diesem Land für Recht und Sicherheit. Aber die Bürger – wir alle! – sorgen für den gesellschaftlichen Frieden.“

Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) erklärte auf einer Pressekonferenz im Namen der sächsischen Landesregierung aus CDU und SPD: „Was auf dem Rücken der Opfer gemacht wurde, ist geschmacklos und verstörend. Die politische Instrumentalisierung durch Rechtsextremisten ist abscheulich und wird von uns zurückgewiesen. Wenn bei einer Spontankundgebung Menschen mit ausländischem Aussehen angegriffen werden, ist das inakzeptabel. Wir führen einen entschiedenen Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im Freistaat Sachsen.“

Meinen Merkel, Steinmeier und Kretschmer wirklich, sie könnten die große Mehrheit der Bevölkerung, die über das massive Auftreten des rechtsradikalen Mobs in Chemnitz zutiefst beunruhigt ist, für dumm verkaufen? Tatsächlich tragen die gleichen Parteien und Medien, die sich jetzt empören, die Verantwortung dafür, dass in Deutschland 73 Jahre nach dem Ende das Nationalsozialismus wieder faschistische Banden eine ganze Stadt terrorisieren.

Dazu einige Bemerkungen:

Kretschmers Behauptung, die Politik führe „einen entschiedenen Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“, ist eine offensichtliche Lüge. In Wirklichkeit vergeht kein Tag, an dem nicht führende Politiker und Medien in AfD-Manier gegen Flüchtlinge hetzen, Nationalismus schüren und an den braunen Bodensatz der Gesellschaft appellieren, um ihre Politik des Militarismus, der inneren Aufrüstung und des Sozialabbaus voranzutreiben. Merkel, die von den Medien lange als „Flüchtlingskanzlerin“ bezeichnet wurde, betont mittlerweile in jeder Regierungserklärung, dass sich „eine Situation wie die des Jahres 2015 nicht wiederholen“ dürfe, und fordert „eine funktionierende Rückführungskultur in Deutschland“.

Der Aufstieg der extremen Rechten und die Übernahme der AfD-Politik durch die Große Koalition und de facto alle etablierten Parteien wurde systematisch ideologisch und politisch vorbereitet. Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) warnt seit Anfang 2014 vor den Konsequenzen der Rückkehr Deutschlands zu einer aggressiven Außen- und Großmachtpolitik, die mit einer systematischen Kampagne zum Umschreiben der deutschen Geschichte und der Verharmlosung der Verbrechen des deutschen Imperialismus im Ersten und Zweiten Weltkrieg einhergeht.

Die gleichen Politiker, Journalisten und Akademiker, die sich jetzt schockiert geben, dass Neonazis in Chemnitz den Hitlergruß zeigen, haben kein einziges Wort des Protests verloren, als der Humboldt-Professor Jörg Baberowski Anfang 2014 im Spiegel Ernst Nolte, den bekanntesten Nazi-Apologeten unter den deutschen Historikern, verteidigte und behauptete: „Hitler war kein Psychopath, er war nicht grausam. Er wollte nicht, dass an seinem Tisch über die Judenvernichtung geredet wird.“

Und es blieb nicht beim feigen Schweigen. Als die SGP und ihre Jugendorganisation IYSSE öffentlich gegen die Verharmlosung Hitlers und die damit verbundene rechte politische Offensive protestierten, brach ein Sturm der Verleumdung los. Im Gleichschritt mit der AfD und rechtsradikalen Publikationen wie der Jungen Freiheit und dem NPD-Blatt Deutsche Stimme denunzierten die Leitung der Humboldt-Universität und bürgerliche Medien wie Die Zeit und die taz die SGP und die IYSSE. Jürgen Kaube, der Mitherausgeber der FAZ, denunzierte die Kritik an den militaristischen und rechtsradikalen Standpunkten Baberowskis als „Mobbing, trotzkistisch“.

Im April 2017 vereinbarten dann deutsche Regierungskreise mit dem Chefingenieur für die Suchmaschinen bei Google, Ben Gomes, die Zensur der World Socialist Web Site, um die Verbreitung von Artikeln und Erklärungen der SGP und der IYSSE gegen Militarismus, Faschismus und Krieg einzuschränken.

Nun zählt auch der aktuelle Verfassungsschutzbericht, der im Juli mit einem Vorwort von Innenminister Horst Seehofer (CSU) veröffentlicht wurde, die SGP offiziell zu den „Beobachtungsobjekten“, weil sie gegen „Nationalismus, Imperialismus und Militarismus“ kämpft und gegen Rechtsextremismus protestiert. Unter anderem werden im Bericht „Proteste gegen die beiden Parteitage der Alternative für Deutschland (AfD) im April in Köln und im Dezember in Hannover“ als Beleg für eine „linksextreme“ Gesinnung angeführt. Dasselbe gilt für den „andauernden ‚Kampf‘ gegen Rechtextremisten“ und das Sammeln von „Informationen über vermeintliche oder tatsächliche Rechtsextremisten sowie deren Strukturen“.

Mit anderen Worten: Vom Standpunkt des Verfassungsschutzes, der selbst enge Kontakte zur AfD pflegt, sind nicht die Neonazis, sondern ihre Gegner, d.h. die große Mehrheit der Bevölkerung, das wirkliche Problem. Es ist kein Zufall, dass der rechtsextreme Mob am Sonntag nahezu unbehelligt von der Polizei durch Chemnitz ziehen konnte und auch am Montagabend weitgehend Narrenfreiheit hatte. Gerade in Sachsen sind die engen Verbindungen zwischen Rechtsextremen, Polizei und Regierung Legion.

Arbeiter und Jugendliche müssen aus den gefährlichen Entwicklungen in Chemnitz die notwendigen politischen und historischen Schlussfolgerungen ziehen. Der bürgerlich-kapitalistische Staat – mit seinen Parteien, Medien, Geheimdiensten und Sicherheitskräften – ist wie zu Zeiten der Weimarer Republik kein Garant für „Recht und Sicherheit“ (Steinmeier), sondern eine Brutstätte für Rechtsradikalismus und Faschismus. Nur der Aufbau einer revolutionären sozialistischen Bewegung in der Arbeiterklasse kann einen erneuten Rückfall in die Barbarei stoppen.

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