Ausstellung erinnert an „Polenaktion“ der Nazis 1938

Die Ausstellung „Ausgewiesen! Berlin, 28.10.1938“ im Centrum Judaicum Berlin dokumentiert die Massenausweisung von 17.000 polnisch-jüdischen Bürgern aus dem Deutschen Reich zwei Wochen vor den Novemberpogromen 1938. Aufgrund des großen Interesses wird sie noch bis zum 28. Februar 2019 gezeigt. Ab 1. September wird sie im Jüdischen Historischen Institut in Warschau zu sehen sein.

Seit der Eröffnung im vergangenen Sommer bis Mitte Januar haben 35.000 Besucher aus dem In- und Ausland die Ausstellung gesehen und drei dicke Gästebücher mit Kommentaren gefüllt – darunter viele, die die Massenausweisung polnischer Juden durch die Nazis mit den heutigen brutalen Abschiebungen durch die EU und Deutschland vergleichen oder sich beunruhigt über das erneute Auftreten rechtsextremer Organisationen wie der AfD zeigen.

In der Ausstellung im Centrum Judaicum

Am 28. und 29. Oktober 1938 verhafteten die Nationalsozialisten im Rahmen der „Polen-Aktion“ rund 17.000 jüdische Menschen mit polnischer Staatsangehörigkeit und schoben sie in das Nachbarland Polen ab, unter ihnen der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki und die Familie Grynszpan aus Hannover. Deren jüngster Sohn Herschel Grynszpan verübte am 7. November 1938 ein Attentat auf den deutschen Botschafter Ernst vom Rath in Paris, vermutlich als Reaktion auf die Ausweisung. Die Nazis nutzten diese Tat als Vorwand für die Novemberpogrome vom 8. bis 11. November.

Mindestens 15.000 weitere Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, waren von den folgenden Ausweisungsaktionen bis Sommer 1939 betroffen, bevor die Wehrmacht am 1. September in Polen einfiel und das Land besetzte.

Für die meisten Familien kam die Aktion überraschend. Zu diesem Zeitpunkt lebten etwa 50.000 polnische Juden in Deutschland, die zum überwiegenden Teil zwischen 1900 und 1918 gekommen oder hier geboren worden waren, als es keinen unabhängigen polnischen Staat gab.

Allein in Berlin wurden im Oktober 1500 Menschen, hauptsächlich Männer ab fünfzehn Jahren, jäh aus ihrem Alltagsleben gerissen. Sie wurden von Kommandos der Schutzpolizei, unter Beteiligung der Gestapo, frühmorgens in den Wohnungen oder auf der Straße verhaftet, durften nur das Allernötigste und etwa zehn Mark Reisegeld mitnehmen. Unter Protesten wurden sie brutal von Frauen und Kindern getrennt, zu Sammeltransporten mit der Deutschen Reichsbahn gebracht und an die deutsch-polnische Grenze transportiert. Im Niemandsland an der Grenze zwang man sie, die letzten sechs Kilometer zur polnischen Grenze zu Fuß zu gehen.

„Die uns begleitenden Polizeimannschaften trugen Gewehre mit aufgepflanzten Bajonetten“, schreibt einer der Betroffenen, der Musiker Mendel Max Karp aus Berlin, der nach seiner erfolglosen Bemühung um Emigration am 27. Januar 1940 im KZ Sachsenhausen ermordet wurde. „Hin und wieder wurden wir von kleinen Scheinwerfern beleuchtet, damit sich auch keiner ‚verkrümeln‘ konnte. Ein bestimmtes Marschtempo musste von uns eingehalten werden, es war schon mehr eine Treibjagd! Wer nicht mithalten konnte, wurde mit schmerzhaften Schlägen und Rippenstößen vorangetrieben.“

Der Bahnhof der polnischen Grenzstadt Zbąszyń

Insgesamt kamen am 28. und 29. Oktober über 8000 Menschen im kleinen Grenzort Zbąszyń (Bentschen) an, der nur 5000 Einwohner hatte. Rund zehn Monate mussten sie dort in improvisierten Notunterkünften ausharren. Dank der überwältigenden Hilfsbereitschaft seitens der örtlichen Bevölkerung und polnisch-jüdischer Organisationen wurden sie mit dem Nötigsten versorgt, eine Infrastruktur mit Krankenhaus und Schule geschaffen.

Einigen wenigen gestatteten die deutschen Behörden die Rückreise ins Reichsgebiet, meist nur, um Geschäfte aufzulösen und ihren Besitz zu Schleuderpreisen zu verkaufen. Die Erlöse landeten auf Sperrkonten, und ihre Eigentümer sahen sie nie wieder. Manchen gelang die Emigration ins Ausland, die Rettung ihrer Kinder durch Kindertransporte nach Großbritannien, Palästina oder Australien, oder wenigstens die Weiterreise zu Verwandten ins Landesinnere Polens. Hier gerieten sie nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht 1939 in die Fänge der Besatzer. Die meisten wurden in den Ghettos und Lagern ermordet.

Diese erste Massenabschiebung ist in der öffentlichen Debatte und der Forschung bis heute nahezu vollständig ausgeblendet worden. Und doch bildete sie die Generalprobe der Nazi-Diktatur für die Novemberpogrome einen Monat später und für die folgenden massenhaften Deportationen der jüdischen Bevölkerung. Erstmals wird nun ihre Geschichte in einer Ausstellung in Deutschland erzählt.

Medizinisches Personal im Behelfskrankenhaus in Zbąszyń (Bild CentrumJudaicum)

Die Sonderschau entstand im Rahmen eines Projekts des Osteuropainstituts der Freien Universität Berlin. Die Leiterin des dortigen Arbeitsbereichs Geschichte, Gertrud Pickhan, und die Vorsitzende des Vereins „Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin“, Christine Fischer-Defoy, initiierten umfassende Recherchen von Studierenden zu einigen der betroffenen Familien in Berlin. Kuratiert wurde die Ausstellung mit einem sehr lebendigen Konzept durch Alina Bothe von der Freien Universität.

Über viele Monate sind Studierende auf die Suche nach Spuren in Archiven gegangen, sind in die polnische Grenzstadt Zbąszyń gefahren, haben Nachfahren gefunden, manche interviewt und zu einer Gedenkveranstaltung im vergangenen Oktober nach Berlin gebracht. Einige sahen erstmals den Ort der Geburt und des Lebens ihrer Großeltern und Eltern und wohnten der Verlegung von Stolpersteinen bei. Im Fall der Familie Merory erfuhren Nachfahren der Ausgewiesenen sogar zum ersten Mal voneinander und lernten sich in Berlin kennen.

Zugleich ist eine Datenbank von rund 500 polnischen Jüdinnen und Juden mit biographischen Details entstanden, die in der Ausstellung zugänglich ist und in Zukunft weiterhin wachsen soll. Im Katalog zur Ausstellung sind fünfzehn Familienbiographien dokumentiert. Sechs davon stehen im Mittelpunkt der Ausstellung.

Blick in die Ausstellung mit Tafeln zu den Familien Adler und Better (Foto: CentrumJudaicum / Henry Lucke)

Gezeigt werden neben Dokumenten der Verfolgung und Ermordung auch private Familienfotos, die das Leben vor der Ausweisung veranschaulichen oder vom Weiterleben nach 1945 erzählen. Briefe ausgewiesener Berliner aus dem Notlager in Zbąszyń, in einem Hörtunnel vorgelesen, lassen den Besucher erschauern und unwillkürlich an heutige Flüchtlingsschicksale denken.

Christine Fischer-Defoy vom Verein „Aktives Museum“ verwies in ihrer Rede zur Ausstellungseröffnung auf die Parallelen. Die Ausstellung habe eine „geradezu bestürzende Aktualität“, sagte sie. Wenn „scheinbar harmlos über Transitzonen und Abschiebungen an den Außengrenzen der EU“ gesprochen werde, so könne man in der Ausstellung „hören und lesen, was es für die 1938 ausgewiesenen Menschen bedeutete“ und ebenso für die abgeschobenen Menschen heute bedeuten werde.

In der Tat erinnert vieles an die gegenwärtige Politik, wie ein Ausweisungsbefehl an Mojzesz Kalkstein zeigt. Er wurde im Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin gefunden und fordert Kalkstein samt Ehefrau und Kindern zum Verlassen des Reichsgebiets innerhalb von 24 Stunden auf. Er räumt ihnen ein Einspruchsrecht von zwei Wochen ein und kündigt gleichzeitig an, dass ein Einspruch aus „öffentlichem Interesse“ abgelehnt werde. Bei Zuwiderhandlung droht der Ausweisungsbefehl mit Gefängnisstrafe. Ganz ähnlich klingen heutige Ausweisungsbescheide. Wenn Geflüchtete aus Afghanistan überraschend aus Schule, Arbeitsstätte oder Wohnung abgeholt werden, um sie in Sammelflügen abzuschieben, sind die Parallelen augenfällig.

Ausweisungsverfügung an Mojzesz Kalkstein vom 27. Oktober 1938

Erschütternd sind auch einige Dokumente aus den Archiven der Entschädigungsämter, bei denen überlebende Angehörige nach dem Krieg Anträge gestellt hatten und kaltschnäuzig abgewiesen wurden. Beispielsweise stellte Sabine Adler, die mit ihren Kindern in der Sowjetunion überlebt hatte, während Vater Leo bei einem SS-Massaker ermordet wurde, 1957 einen Antrag auf Entschädigung für die Wohnung in der Prinzenstraße 73 – ohne Erfolg. Das Finanzamt Berlin-Charlottenburg erklärte zur Begründung: „Mit der sogenannten Polenaktion waren keine Vermögenseinziehungen verbunden. Die teilweise erfolgte Versiegelung der Wohnungen bedeutete keine Beschlagnahme, sondern bezweckte nur die Sicherung des Vermögens.“

In manchen Entschädigungsakten fanden sich sogar noch Briefe von Angehörigen aus den Vernichtungslagern, die die Beamten den Antragstellern nicht zurückgegeben hatten. So halfen sie nach dem Krieg, die Spuren der Ermordeten für ihre Angehörigen und Nachfahren zu verwischen.

Sehr bewegend ist die Kunstinstallation des aus Zbąszyń stammenden Fotokünstlers Wojciech Olejniczak am Ende der Ausstellung, die biographische Bruchstücke wieder zusammenfügt. Ein Vitragefenster, ähnlich den Fenstern der Neuen Synagoge in Berlin, besteht aus zerbrochenen Glasnegativen des damaligen Ateliers Sikorski mit Fotos ausgewiesener polnisch-jüdischer Familien. Daneben der authentische Stuhl für Porträts aus demselben Atelier, auf dem sich heutige Besucher unter dem Titel „Ich war in Zbąszyń“ fotografieren lassen können.

Die Deportation der polnischen Juden war monatelang sorgfältig vorbereitet worden. Bereits Anfang 1938 versuchte die Nazi-Regierung, sowjetische Juden aus Deutschland auszuweisen. Als im März, kurz nach der Annexion Österreichs, das polnische Parlament eine Gesetzesvorlage beschloss, ab Ende Oktober polnischen Staatsbürgern ihre Staatsbürgerschaft zu entziehen, wenn sie länger als fünf Jahre im Ausland lebten, bereiteten Reichsinnenministerium und Auswärtiges Amt in einer konzertierten Aktion die Massenausweisung der polnischen Juden vor.

Federführend waren für das Reichsministerium des Innern der SS-Reichsführer und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler und seine direkten Mitarbeiter Reinhard Heydrich und Werner Best. Im Auswärtigen Amt lag die Leitung bei Staatssekretär Ernst von Weizsäcker, der rechten Hand von Außenminister Joachim von Ribbentrop und dem Vater des späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Letzterer hatte als Jurastudent bei der Verteidigung seines Vaters im Nürnberger „Wilhelmstraßen-Prozess“ mitgeholfen und ihn bis ans Lebensende als heimlichen Widerständler gegen die Nazis dargestellt. Ernst von Weizsäcker wurde 1949 wegen der Deportation französischer Juden zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, nicht jedoch wegen der „Polen-Aktion“, und kam 1950 schon wieder frei.

Im April 1938 stimmten sich die beiden Ministerien über eine neue Ausländerpolizeiordnung ab, die den automatischen Entzug der Aufenthaltsgenehmigung für Menschen ohne polnischen Pass verfügte, sowie über die Erstellung einer reichsweiten „Judenkartei“. Ernst von Weizsäcker begründete dies gegenüber dem polnischen Botschafter Józef Lipski mit den Worten, man müsse verhindern, dass „uns im Wege der Ausbürgerung ein Klumpen von 40–50.000 staatenlosen ehemaligen polnischen Juden in den Schoß fiele“. (Zitiert nach: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Bd.2, München 2009, S. 52 mit Anm. 136).

Kuratorin Alina Bothe erklärte in ihrer Rede zur Gedenkveranstaltung am 29. Oktober, dass sich bei den Aktionen gegen polnische Juden zwei „ideologische Stränge des Nationalsozialismus“ gekreuzt hätten: „der Antisemitismus und der Antislawismus“.

Bei genauer Betrachtung muss man sagen, es kam noch eine weitere wichtige Frage hinzu. Der Antisemitismus wie auch der Antislawismus waren eng mit dem Antisozialismus verbunden. Die Nazis hassten den „jüdischen Bolschewismus“, den sie für die Oktoberrevolution 1917 und die Entstehung der Sowjetunion verantwortlich machten. Oder wie 1936 der Journalist Konrad Heiden in seiner Hitler-Biographie sagte: „Die Arbeiterbewegung stieß ihn nicht ab, weil sie von Juden geführt wurde, sondern die Juden stießen ihn ab, weil sie die Arbeiterbewegung führten“. Und weiter: „Nicht Rothschild der Kapitalist, sondern Karl Marx der Sozialist schürten Adolf Hitlers Antisemitismus.“ (Konrad Heiden, Adolf Hitler. Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit. Eine Biografie, Zürich 1936)

Jüdinnen und Juden aus Polen und anderen slawischen Ländern spielten eine herausragende Rolle in der sozialistischen Arbeiterbewegung, die bekanntesten unter ihnen waren Rosa Luxemburg und Leo Trotzki. In Polen lebte mit 3,4 Millionen Menschen im Jahr 1939 die größte jüdische Gemeinde Europas, die politisch sehr aktiv war, besonders in sozialistischen Parteien. Der Ghetto-Aufstand in Warschau 1943, der die Nazi-Besatzer empfindlich traf, wurde von Sozialisten und Kommunisten geleitet.

2,8 Millionen polnische Juden, über achtzig Prozent, wurden ermordet. Diese Tragödie wäre nicht ohne die Degeneration der Sowjetunion unter Stalin, die Säuberung und Ermordung der Anhänger Trotzkis und der meisten polnischen Kommunisten im Großen Terror möglich gewesen.

Ein Monat vor dem Einmarsch der Nazi-Truppen am 1. September 1939 wurde der Hitler-Stalin-Pakt geschlossen, der sich in diesem Sommer zum 80. Mal jährt. Das Stalin-Regime gestand darin der Nazi-Diktatur nicht nur sowjetische Neutralität bei einem Krieg gegen Polen zu, sondern vereinbarte auch in einem geheimen Zusatzprotoll die Aufteilung Polens in eine deutsche Einflusssphäre in Westpolen und eine sowjetische in Ostpolen. Der Verrat der stalinistischen Führung, die Auflösung der polnischen Kommunistischen Partei und Erschießung ihrer Führer auf Stalins Befehl lieferten letztlich die jüdische Bevölkerung der Nazi-Barbarei aus.

AUSGEWIESEN! Berlin, 28.10.1938

Die Geschichte der „Polenaktion“

08.07.2018 – 28.02.2019

Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum

Oranienburger Str. 28-30, 10177 Berlin

www.polenaktion-1938-berlin.de

Die Ausstellung ist dreisprachig: Deutsch, Englisch und Polnisch.

Begleitband zur Ausstellung: Metropol-Verlag 2018, 20 €

Loading