Fulda: Freispruch für Polizisten nach tödlichen Schüssen

Gegen den hessischen Polizeibeamten, der im April 2018 einen 19-jährigen Afghanen erschoss, sind alle Ermittlungen eingestellt worden. Das hat die Staatsanwaltschaft Fulda am 5. Februar bekanntgegeben.

In ihrer Erklärung heißt es, die Schüsse seien „zur Abwehr einer bestehenden Gefahr für Leib und Leben … gerechtfertigt“ gewesen. Deshalb werde gegen den Polizeibeamten keine Anklage erhoben.

Aber was war in Fulda wirklich geschehen?

Matiullah Jabarkhil war als 16-Jähriger aus Afghanistan nach Deutschland gekommen. Drei Jahre später stand der junge Mann völlig perspektiv- und mittellos, ohne Ausbildung oder Arbeit da und hatte bereits seinen Abschiebebescheid in der Tasche.

Am 13. April 2018 sah er von der Unterkunft aus, in der er wohnte, wie in der Bäckerei schräg gegenüber um vier Uhr früh das Licht anging. Dort hatten junge Geflüchtete zuvor schon mehrmals altes Brot geschenkt bekommen.

Matiullah ging sofort hin, um nach Brot zu fragen, doch eine Verkäuferin verschloss die Tür von innen. Darauf rastete der junge Mann aus und bewarf die Schaufensterscheibe, hinter der sich ein Berg frischer Brötchen türmte, mit Steinen. Auch geriet er mit dem Fahrer eines eintreffenden Lieferwagens aneinander.

Nach wenigen Minuten trafen zwei Einsatzwagen ein. Der junge Mann rannte weg, mindestens vier Polizisten hinterher. Etwa 150 Meter vom Bäckereiladen entfernt kam es zu den tödlichen Schüssen. Ein Polizeibeamter gab zwölf Schüsse auf den 19-Jährigen ab. Vier trafen ihn, davon drei im Bauch- und Brustbereich. Kurze Zeit später war Matiullah Jabarkhil an Ort und Stelle verblutet.

Die Staatsanwaltschaft stützt ihren skandalösen Freispruch auf die Behauptung, der junge Afghane habe sowohl den Lieferfahrer als auch einen Polizisten schwer verletzt. Er sei nicht zu bändigen gewesen. Er habe einem Polizisten einen Schlagstock entwendet und den Schützen damit angegriffen. „Die Anzahl der in der Eisenhowerstraße in schneller Folge abgegebenen Schüsse ist ein Indiz dafür, dass der Beschuldigte in begründeter Angst und höchster Bedrängnis schoss“, heißt es im Schreiben der Staatsanwaltschaft.

Für jeden, der den Fall unvoreingenommen betrachtet, ist es jedoch viel wahrscheinlicher, dass es der Junge selbst war, der „in höchste Bedrängnis“ geriet.

Zunächst fällt auf, dass über den ganzen Hergang sehr wenige konkrete Angaben in der Öffentlichkeit bekannt geworden sind. Es gibt keine Aussagen unbeteiligter Zeugen, keine Interviews mit Anwohnern oder dem „schwer verletzten“ Fahrer. Aber auch ohne dies springen einige eklatante Widersprüche ins Auge.

Matiullah soll den Bäckereilieferanten „schwer verletzt“ haben – welche Verletzungen trug er davon? Der junge Afghane hatte weder Messer noch andere Waffen bei sich. Einen großen Stein soll er wütend gegen die Scheibe geschleudert haben, und der Fahrer mag versucht haben, ihn davon abzubringen, worauf es wohl zu einem Gerangel kam, bis die Polizeistreifen eintrafen.

Zu den tödlichen Schüssen kam es 150 Meter weiter weg. Das deutet klar darauf hin, dass Matiullah die Flucht ergriffen hatte. Die Polizei behauptet, er habe einem Polizisten einen Schlagstock entwendet und den Todesschützen damit bedroht. Aber dafür gibt es nur das einzige „Indiz“, dass ein Schlagstock neben seiner Leiche lag.

Matiullah litt, wie seine Mitbewohner später aussagten, an psychischen Störungen und Aggressionsanfällen, was kein Wunder ist, angesichts seiner ungeklärten Lebenslage und der drohenden Abschiebung. Wie die Mitbewohner ebenfalls aussagten, habe man den jungen Mann durch ruhige Ansprache jedes Mahl rasch beruhigen können. Aber am 13. April verfolgten den Flüchtenden mindestens vier bewaffnete Polizisten, ehe ein Beamter ihn nur Minuten später niederstreckte.

Die Entscheidung der hessischen Staatsanwaltschaft in Fulda, alle Ermittlungen gegen den Polizeischützen einzustellen, kommt der hochoffiziellen Sanktion eines polizeilichen Todesschusses gleich.

Bezeichnend war in dem Zusammenhang schon die Aussage des LKA-Sprechers Christoph Schulte gegenüber der Welt kurz nach dem Geschehen. Wie die Zeitung berichtete, rechtfertigte Schulte die Schüsse damit, es sei „für eingesetzte Beamte in solch einem Fall nicht immer möglich, nur Arme oder Beine zu treffen: ‚Denn der Angreifer bewegt sich ja auch.‘ Die Beamten stünden unter enormem Stress in einer ‚hochdynamischen Situation‘. Generell gelte: Die Beamten lernten zu schießen, bis die Gefahr gebannt sei.“

Diese Erklärung ist umso alarmierender, als das hessische LKA (Landeskriminalamt) in Fulda die Aufgabe hatte, als nicht betroffene Behörde den Tathergang zu untersuchen. Der Sprecher dieser Behörde nahm nicht nur im Voraus den betreffenden Polizeischützen in Schutz, seine Worte vermittelten außerdem den Eindruck, dass es bei der hessischen Polizei offenbar heute als normal und akzeptabel gilt, in Stresssituationen tödliche Schüsse abzugeben.

Die Entscheidung der Fuldaer Staatsanwaltschaft kann nicht isoliert von dem jüngsten Skandal um ein Neonazi-Netzwerk in der hessischen Polizei betrachtet werden, der immer weitere Kreise zieht. Mindestens zwölf Polizisten wurden mittlerweile wegen rechtsradikaler Aktionen vom Dienst suspendiert. Auch wird im kürzlich veröffentlichten Bericht des NSU-Untersuchungsausschusses den hessischen Polizei- und Geheimdienstbehörden ein „struktureller Rassismus“ bescheinigt.

Die Zunahme tödlicher Polizeigewalt zeigt, dass sich der Staat auf kommende Klassenkonflikte vorbereitet. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. Wie die internationale Hilfsorganisation Oxfam Anfang des Jahres bekanntgab, besitzen weltweit 26 Milliardäre genauso viel Vermögen wie die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, d.h. etwa 3,8 Milliarden Menschen.

Diese gewaltige soziale Polarisierung ist mit Demokratie nicht vereinbar. In dem Zusammenhang wird der Staatsapparat systematisch aufgerüstet und gegen Geflüchtete, Einwanderer und die ganze Arbeiterklasse in Stellung gebracht. Das ist auch der Grund dafür, dass neue Polizeigesetze und Bestimmungen in Hessen und andern Bundesländern den Polizeibeamten immer weiter gehende Vollmachten erteilen, und dass die Justiz ihre Verbrechen rechtfertigt und abdeckt.

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