Politische Krise in Puerto Rico eskaliert trotz Rücktritt des Gouverneurs

Am Freitag strömten in Puerto Rico erneut Demonstranten vor den Amtssitz des Gouverneurs, der „Die Festung“ genannt wird, um den Sturz von Gouverneur Ricardo Rosselló zu feiern und gegen die Ernennung seines Nachfolgers zu protestieren. Auf einem der vielen Transparente war zu lesen: „Sie bringen die Korruption, das Volk bringt die Revolution“.

Um 17 Uhr verlas Rosselló, ohne das Gebäude zu verlassen und im Schutz Dutzender schwer bewaffneter Polizisten, eine Erklärung, in der er seinen neu ernannten Außenminister Pedro Pierluisi zum neuen Gouverneur erklärte.

Zum ersten Mal in der Geschichte des US-Überseegebiets Puerto Rico, und überhaupt in der Geschichte der USA, wurde ein amtierender Gouverneur durch Massendemonstrationen gestürzt. Die Proteste waren zwei Wochen lang ununterbrochen angewachsen, bis am 22. Juli mehr als eine halbe Million der 3,2 Millionen Einwohner der Insel durch die Innenstadt von San Juan zogen. Zwei Tage später kündigte Gouverneur Rosselló seinen Rücktritt zum 2. August um 17 Uhr an.

Die beispiellose Machtübergabe am Freitag war beherrscht von extremer Nervosität des Establishments der Insel. Es fürchtete vor allem, eine noch größere soziale Explosion auszulösen.

Pierluisi wartete erst die Reaktion der Bevölkerung auf seine verfassungswidrige Einsetzung ab, bevor er seine Ernennung nach zwei Stunden bei einer Pressekonferenz annahm und zur „Einheit“ aufrief. Er erklärte außerdem: „Wir wollen keine Verfassungskrise.“

Pierluisi ist eine Marionette der amerikanischen kapitalistischen Interessen, die für die soziale Krise auf der Insel verantwortlich sind. Er war erst vor drei Tagen aus der Anwaltskanzlei ausgetreten, die vorwiegend die Finanzaufsichts- und Managementbehörde (FOMB) repräsentieren. Diese Bundesbehörde wurde von der Obama-Regierung geschaffen und ist allgemein als die Junta bekannt, da sie eine Finanzdiktatur über die Insel ausübt, um ihre Plünderung durch die Wall Street zu beaufsichtigen.

Die Menschenmenge in San Juan demonstrierte am Freitagnachmittag weiterhin friedlich in feierlicher Stimmung und begann zu skandieren: „Pierluisi, tritt zurück und nimm die Junta mit!“ Auf dem Plakat eines Demonstranten war zu lesen: „Nein zum Putsch der Junta und Pierluisis“.

Gleichzeitig wollen die Trump-Regierung und die parasitäre Finanzaristokratie, für die sie spricht, die Krise für eine Eskalation der Angriffe auf den Lebensstandard und eine Verschärfung des Austeritätskurses ausnutzen. Am Donnerstag kündigte das Weiße Haus an, es werde die Überweisung von acht Milliarden Dollar im Rahmen der Katastrophenhilfe aufgrund der „politischen Unruhen und der finanziellen Unregelmäßigkeiten“ aussetzen. Das Wall Street Journal hatte die FOMB letzte Woche aufgefordert, „Disziplin durchzusetzen“ und die „Zuwendungen“ zu beenden.

In diesem Kontext bedeutet die Ernennung eines weiteren politischen Agenten der Wall Street kein neues politisches Gleichgewicht, sondern den frontalen Zusammenstoß zwischen der Bewegung der Bevölkerung gegen den Austeritätskurs einerseits und der FOMB sowie dem US-Imperialismus andererseits. Die aggressive Reaktion der Trump-Regierung stellt eine Warnung an die Arbeiterklasse und die Jugend Puerto Ricos und der USA dar: Der amerikanische Staat bereitet sich darauf vor, seine ganze Macht einzusetzen, um eine eskalierende soziale Explosion zu unterdrücken.

Die größte Gefahr ist das Fehlen eines klaren Programms und einer politischen Führung sowie Organisation, die unabhängig von den beiden kapitalistischen Parteien in den USA und ihren Vertretern in Puerto Rico agiert. Die Demokraten und ihre Agenten in den Gewerkschaften sowie den Parteien in Puerto Rico sind dabei, die Proteste politisch zu entwaffnen und zu unterdrücken, hauptsächlich indem sie Illusionen in die undemokratischen Manöver innerhalb des verkommenen und kolonialen politischen Systems von Puerto Rico schüren.

Der demokratische Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders twitterte beispielsweise am Freitagabend: „Die puerto-ricanische Bevölkerung [...] hat uns gezeigt, was einfache Menschen erreichen können, wenn wir uns organisieren. Jetzt ist es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie eine gerechte und angemessene Vertretung erhalten. Puerto Rico verdient Demokratie und nicht Austerität.“

Am Freitag fand eine Anhörung im puerto-ricanischen Repräsentantenhaus statt, um Pierluisi als Außenminister zu bestätigen. In dieser Position ist er der direkte Nachfolger, falls der Gouverneur zurücktritt. Dieses überstürzte Verfahren endete um 16 Uhr, eine Stunde vor Rossellós geplantem Rücktritt, mit einer zustimmenden Mehrheit. Doch der Präsident des puerto-ricanischen Senats, Thomas Rivera Schatz, der ebenfalls den Gouverneursposten anstrebt, hat die Anhörung seines Gremiums auf nächsten Mittwoch vertagt.

Unter Medienkommentatoren und Abgeordneten – und zweifellos auch im Weißen Haus, wo die endgültige Entscheidung getroffen wurde – tobten Debatten darüber, ob Pierluisi verfassungswidrig als Übergangsgouverneur eingesetzt werden soll oder ob Justizministerin Wanda Vázquez den Posten erhalten soll. Sie käme in der Rangfolge als nächste, hat sich jedoch bis Freitag geweigert, den Posten anzunehmen.

Auslöser für die Massenproteste war die Veröffentlichung von geleakten Online-Chats zwischen Rosselló und seinen engsten Partnern durch das Center for Investigative Journalism (CPI). Sie haben nicht nur die klägliche Unterwürfigkeit Rossellós und seiner engen Vertrauten gegenüber der Wall Street enthüllt, sondern auch die Verachtung der gesamten herrschenden Elite gegenüber der puerto-ricanischen Arbeiterklasse.

Die Veröffentlichung war der Katalysator für die tief sitzende soziale Wut nach der jahrzehntelangen Verschlechterung der sozialen Bedingungen und führte nicht nur zur Forderung nach Rossellós Rücktritt, sondern auch des gesamten politischen Establishments. Der populärste Twitter-Hashtag Puerto Ricos am Freitag war: #niSchatzNiPierluisiNiWanda (weder Schatz, noch Pierluisi, noch Wanda).

Abgesehen von Witzen über die Todesopfer des Hurrikans Maria, homophoben und frauenfeindlichen Beleidigungen, Angriffen auf Journalisten und einer Äußerung über das Erschießen von politischen Gegnern haben die Leaks auch Beweise für ein riesiges Korruptionsnetzwerk enthüllt. Tatsächlich konzentrierten sich die Enthüllungen des CPI auf Elías Sánchez Sifonte, einen ehemaligen Regierungsvertreter bei der FOMB und Lobbyisten, zu dessen Klienten Microsoft und Walgreens sowie andere Großkonzerne gehören. Die geleakten Texte zeigen, dass er vertrauliche Informationen erhalten und Rosselló und seiner Clique politische Befehle erteilt hat.

Pierluisi kommt zwar in den geleakten Texten nicht vor, er ist aber sogar noch krimineller als Rosselló. 1993 wurde er für eine Amtszeit Justizminister unter Rossellós Vater, danach wechselte er für elf Jahre zur Anwaltskanzlei O'Neill & Borges LLC. Zwischen 2008 und 2016 diente er als Resident Commissioner (nicht wahlberechtigtes Mitglied Puerto Ricos im US-Kongress). Dann arbeitete er für die gleiche Anwaltskanzlei als Berater der FOMB weiter.

Als Resident Commissioner warb er für den Gesetzesentwurf, der zur Schaffung der FOMB führte. Seine Frau, deren Bruder der Vorsitzende der Junta ist, wurde mit einem Unternehmen reich, das Geierfonds berät, wie man von der Finanzkrise Puerto Ricos profitieren kann. Als das Paar aus Washington abreiste, war es 27-mal so reich wie bei seiner Ankunft.

Rivera Schatz und Vázquez wurden ebenfalls Einflussnahme und die Annahme von Schmiergeldern für Konzessionen zur Last gelegt.

Es wurde enthüllt, dass das gesamte politische Establishment, einschließlich der örtlichen Legislative und der Bundesbehörden, sich völlig den Diktaten der amerikanischen Finanzelite unterworfen haben und den sozialen und demokratischen Rechten der puerto-ricanischen Arbeiter und Unterdrückten mit Feindschaft gegenüberstehen.

Laut einer Studie der Chan School of Public Health der Universtität Harvard hat Hurrikan Maria im September 2017 5.740 Todesopfer gefordert. Als Präsident Donald Trump die Insel einen Monat nach dem Sturm besuchte, behauptete er, es habe keine „wirkliche Katastrophe“ gegeben. Der Hurrikan hatte u.a. 70.000 Haushalte zerstört, nur fünf Prozent des Stromnetzes funktionierten noch und nur eins von 69 Krankenhäusern war noch voll funktionsfähig. Laut lokalen Behörden beliefen sich die Schäden auf mehr als 139 Milliarden Dollar.

Laut CBS News hat die Bundesregierung bis April nur 11,2 Milliarden Dollar Hilfsgelder an Puerto Rico ausgehändigt.

BuzzFeed News berichtete Mitte Oktober, die Rosselló-Regierung habe Beerdigungsinstituten grünes Licht gegeben, mindestens 911 der Leichen ohne jede medizinische Untersuchung zu verbrennen, die sich nach dem Hurrikan angesammelt hatten. Rossellós oberster Finanzbeamter scherzte in einem der geleakten Texte dazu: „Wenn wir schon mal dabei sind, können wir nicht ein paar Kadaver den Krähen vorwerfen?“

Zudem war es die puerto-ricanische Legislative, die jetzt moralische Empörung wegen der geleakten Nachrichten vortäuscht, die drei Monate nach Hurrikan Maria den „New Government of Puerto Rico Act“ verabschiedet hat. Mit diesem Gesetz wurden die Zerstörungen durch den Hurrikan ausgenutzt, um Rosselló umfassende Vollmachten zu geben, 118 Regierungsbehörden zu 35 „zusammenzuführen“ und die jährlichen Kosten um 2,75 Milliarden Dollar zu senken, um so die Schulden der Insel in Höhe von 74 Milliarden Dollar abzubauen.

Laut der Harvard Humanitarian Initiative waren zeitweise bis zu 17.000 US-Soldaten in Puerto Rico und auf den nahegelegenen Jungferninseln stationiert, nachdem die staatliche Intervention dem Northern Command des US-Militärs unterstellt wurde.

Obwohl die Hilfslieferungen aus Washington minimal waren, und sie von privaten, profitorientierten Deals über die Bereitstellung von Diesel, Benzin und Wasser erschwert wurden, welche die FEMA unterzeichnet hatte, hat die massive Anwesenheit von Militärs es nicht geschafft, sie auszuliefern. AFP veröffentlichte am Dienstag Luftaufnahmen von Zehntausenden abgelaufenen Wasserflaschen, die ein paar Kilometer außerhalb von San Juan auf einem Feld liegen.

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