Prozess gegen ehemaligen SS-Wachmann beginnt in Hamburg

Das Landgericht Hamburg hat ein Strafverfahren gegen einen früheren SS-Wachmann im Konzentrationslager Stutthof eröffnet. Dem heute 92-jährigen Bruno R. wird vorgeworfen, als Teil der Wachmannschaft des KZ für die Beihilfe zum 5230-fachen Mord verantwortlich zu sein.

Weil der Mann im betreffenden Zeitraum erst 17 bzw. 18 Jahre alt war, wird der Fall vor der Jugendstrafkammer des Gerichts verhandelt. Wegen des schlechten Gesundheitszustands des Angeklagten soll pro Woche nur an zwei Tagen für jeweils zwei Stunden verhandelt werden. Bis zum 17. Dezember sind zwölf Verhandlungstage vorgesehen.

Der Anklageschrift zufolge, aus der die Zeitung Die Welt zitiert, war der Angeklagte vom 9. August 1944 bis zur Evakuierung des Lagers am 26. April 1945 Teil des SS-Wachpersonals. Bereits 2018 sei er von der Staatsanwaltschaft vernommen worden. Dabei habe er unter anderem ausgesagt, hunderte Leichen gesehen und bisweilen auch Schreie aus der Gaskammer gehört zu haben.

Im Konzentrationslager Stutthof, das etwa 40 Kilometer östlich von Danzig im heutigen Polen liegt, wurden Schätzungen zufolge etwa 65.000 Menschen von den Nationalsozialisten ermordet.

Krematorium im KZ Stutthof (im heutigen Museum). Bild Andrzej O. CC-BY-SA-4.0

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Mann zwar keine konkreten Taten vor. Der Vorwurf der Beihilfe zum Mord erstreckt sich jedoch auf die Tatsache, dass der Angeklagte ein Angehöriger des SS-Wachpersonals war und sich als solcher mitschuldig machte. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, die „heimtückische und grausame Tötung“, überwiegend von Juden, unterstützt zu haben. Denn weder leistete Bruno R. Widerstand gegen das, was in Stutthof geschah, noch ließ er sich von dort an die Front versetzen.

Diese Möglichkeit hätte er den Forschungen des Historikers Stefan Hördler zufolge jedoch gehabt, ohne dabei eine Bestrafung fürchten zu müssen. Auf diese Weise hätte er sich der Ermordung tausender wehrloser Menschen entziehen können. Der Angeklagte wendet nach einem Bericht von Spiegel Online ein, er sei wegen einer Herzerkrankung nur „garnisonsverwendungsfähig“ gewesen, habe also nicht an die Front versetzt werden können.

Hördler, der bereits in früheren Prozessen als Gutachter fungierte und auch diesmal befragt werden soll, erklärte gegenüber der Welt, dass die Wachmannschaften eine entscheidende Voraussetzung für das Funktionieren eines Konzentrationslagers gewesen seien. Sie hätten die Aufgabe gehabt, das Lager nach außen abzuschirmen, Gefangene von der Flucht abzuhalten, sie zum täglichen Arbeitseinsatz zu führen, aber auch ankommende Züge und Selektionen zu bewachen, die für viele Betroffene unmittelbar in die Ermordung führten.

Mit dem Prozess in Hamburg ist Bruno R. einer von ganz wenigen Beteiligten an der Mordmaschinerie der NS-Konzentrationslager, die sich überhaupt vor Gericht verantworten müssen. Der Grund dafür liegt vor allem darin, dass es in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg nie eine politische und juristische Aufarbeitung der zahllosen Verbrechen der Nazis gegeben hatte. Zahllose Richter, Staatsanwälte und Beamte bekleideten nach dem Krieg in einem weitgehend nahtlosen Übergang aus der NS-Zeit weiterhin unbescholten hohe Ämter. So wurden von den etwa 6500 SS-Angehörigen des KZ Auschwitz, die den Krieg überlebt hatten, in der Bundesrepublik nur 29 verurteilt.

Beispielhaft ist etwa das Nachkriegsleben des Lagerkommandanten von Stutthof, Paul Werner Hoppe, der seine Funktion von September 1942 bis zur Evakuierung des Lagers im April 1945 ausübte.

In dieser Zeit hatte Stutthof bereits 39 Außenlager und war fest in die Rüstungsindustrie des NS-Staats eingebunden. Von 1942 an gab es in Stutthof Krematorien zur Leichenverbrennung, die bisweilen auch unter freiem Himmel stattfanden. Ab Frühjahr 1944 gab es im Lager eine Gaskammer; später wurden in einem abgeschlossenen Eisenbahnwaggon Vergasungen mit Zyklon B durchgeführt. Man schätzt, dass auf diese Weise etwa 1150 Menschen ermordet wurden. „Arbeitsunfähige“ Juden schickte Hoppe regelmäßig weiter nach Auschwitz, wo sie ermordet wurden.

Lagerkommandant Hoppe musste sich für diese Verbrechen lange Zeit nicht verantworten und kam letztlich mit einer lächerlich geringen Zuchthausstrafe davon. Kurz nach dem Krieg war er auf der sogenannten „Rattenlinie Nord“ nach Flensburg geflohen, wurde bald verhaftet und interniert. 1949 konnte er allerdings entkommen und in die Schweiz fliehen, von wo er 1952 nach Deutschland zurückkehrte. Im Jahr darauf wurde Hoppe verhaftet und 1957 zu gerade einmal neun Jahren Zuchthaus verurteilt. Schon Ende 1960 wurde er aus der Haft entlassen und lebte bis zu seinem Tod 1974 ein unauffälliges Leben in Bochum.

Erst seit 2011 – also 66 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager und lange nach dem friedlichen Ableben der meisten unbehelligten Täter – greift in Deutschland eine andere Rechtsprechung. Seither muss einem Täter nicht mehr eine konkrete Tat nachgewiesen werden können, um ihn wegen seiner Beteiligung an den massenhaften Morden der Nazis verurteilen zu können. Es genügt irgendeine Form der Beteiligung an den Vorgängen eines Konzentrations- oder Vernichtungslagers, das seinem gesamten Zweck nach auf die Tötung der Insassen ausgerichtet war. Seither sind unter anderem der ukrainische Wachmann John Demjanjuk sowie der SS-Mann Oskar Gröning rechtskräftig wegen tausendfacher Beihilfe zum Mord schuldig gesprochen worden.

Zuletzt hatte das Landgericht Münster im April dieses Jahres das Verfahren gegen einen 95-jährigen Mann einstellen müssen, der ebenfalls als Wachmann im KZ Stutthof gearbeitet hatte. Der Angeklagte war einem medizinischen Gutachten zufolge wegen einer schweren Herzerkrankung und anderer Alterserscheinungen dauerhaft verhandlungsunfähig. Dem Mann war vorgeworfen worden, zwischen 1942 und 1944 in hunderten Fällen an der Ermordung von Häftlingen beteiligt gewesen zu sein.

Der Prozess gegen Bruno R. in Hamburg, der ab 17. Oktober beginnt, gilt als einer der letzten Prozesse, die gegen NS-Täter noch geführt werden können.

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