Perspektive

NATO-Gipfel: Wachsende Konflikte zwischen den Mitgliedsstaaten

Auf dem NATO-Gipfel, der diese Woche in London stattfand, brachen explosive handels- und militärpolitische Konflikte zwischen Washington und seinen wichtigsten europäischen Verbündeten offen aus. Eigentlich war das Gipfeltreffen nicht zuletzt dazu gedacht, zum 70-jährigen Bestehen des Militärbündnisses Geschlossenheit zu demonstrieren. Die NATO war im Jahr 1949 gegründet worden, nachdem die Vereinigten Staaten als die dominante imperialistische Macht aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen waren. Stattdessen ergingen sich die Teilnehmer in gegenseitigen Beschuldigungen. US-Präsident Trump und sein französischer Amtskollege Emmanuel Macron drohten einander mit Strafzöllen in Milliardenhöhe.

Der Zusammenbruch internationaler Institutionen, die lange Zeit die Angelegenheiten des Weltkapitalismus verwalteten, hat eine neue Etappe erreicht. Vor drei Jahren wuchsen die Spannungen innerhalb der NATO rasch an. Großbritannien beschloss den Austritt aus der Europäischen Union (EU), Berlin und Paris leiteten ihre Bemühungen zum Aufbau einer unabhängigen Europäischen Armee ein und Trump begann, Europa mit einem Handelskrieg zu drohen. Heute ist klar, dass die NATO über keinerlei Perspektiven verfügt, um diese hartnäckigen internen Spannungen abzubauen oder gar zu überwinden. Stattdessen treibt sie eine Politik voran, die die akute Gefahr eines Weltkrieg in sich birgt.

Vor dem Gipfel wurde die Presse von der Kontroverse um das Interview des französischen Präsidenten Emmanuel Macron im britischen Economist beherrscht, in dem er die NATO als „hirntot“ bezeichnete. Die Politik der USA gegenüber Russland sei das Ergebnis von „Hysterie“, so Macron weiter. Nach einem Krisentreffen mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Freitag in Paris heizte er die Kontroverse weiter an. Macron sagte, dass die NATO Russland und China nicht zu Feinden machen solle. Stattdessen schlug er einen „Krieg gegen den Terror“ vor – als Vorwand für den neokolonialen Krieg Frankreichs in Mali und staatliche Unterdrückung in Frankreich selbst.

US-Präsident Donald J. Trump auf der Plenarsitzung der NATO am Mittwoch, den 4. Dezember 2019, nahe London (Quelle: Weißes Haus)

Seinen Besuch in London begann Trump nicht lange nach seiner Ankunft mit einer lautstarken Tirade gegen seinen vermeintlichen französischen Verbündeten und wies Macrons Kommentare als „böse“ und „sehr beleidigend“ zurück. Dann versuchte er, die NATO auf eine Politik der militärischen Eskalation gegen Russland einzuschwören.

Am Vorabend der Streiks im öffentlichen Dienst, die gestern in Frankreich begonnen haben, brachte Trump Macrons Erklärung zur NATO auch mit den Protesten der „Gelbwesten“ gegen die verhasste Sparpolitik des französischen Präsidenten in Verbindung. Trump erklärte: „Wenn man sich ansieht, was mit den Gelbwesten war… Sie hatten ein sehr hartes Jahr und man kann nicht einfach überall solche Erklärungen über die NATO abgeben.“

Letztendlich verpflichteten sich die NATO-Staaten in einer Abschlusserklärung dazu, ihre Militärausgaben um hunderte Milliarden Dollar zu erhöhen. In Europa sollen mehr Raketen gegen Russland stationiert, der Krieg in Afghanistan fortgesetzt, China überwacht und die nukleare Abschreckung beibehalten werden.

Dadurch wird nicht nur die Kriegsgefahr, sondern auch die Krise innerhalb der NATO selbst verschärft. Ursache dieser Krise sind objektive Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten, die ihre Wurzeln in der Geschichte haben und sich im 20. Jahrhundert in zwei Weltkriegen zwischen diesen Mächten Bahn gebrochen haben. Tatsächlich brachte Macron in seinem Interview mit dem Economist die in europäischen Regierungskreisen weit verbreiteten Einwände gegen immer neue Kriege der USA auf den Punkt. Die USA versuchen durch diese Kriege ihren wirtschaftlichen Niedergang auszugleichen, seit im Jahr 1991 die Sowjetunion aufgelöst und der NATO damit ihr ursprünglicher gemeinsamer Feind genommen wurde.

Macron machte deutlich, dass er die US-Politik als Bedrohung für die wirtschaftlichen und militärischen Interessen Europas sieht. Dies war schon im Jahr 2003 der Fall, als Berlin und Paris sich der Invasion des Irak widersetzten, die von den USA im Alleingang geführt wurde. Macron bezeichnete die Nahostpolitik als „enormes Problem für die NATO“, nachdem die Stellvertretertruppen der NATO in Syrien besiegt wurden und die Türkei eine Invasion gegen das Land begonnen hat, um kurdische Milizen anzugreifen, die von den USA unterstützt wurden.

Vor allem forderte er engere Beziehungen zu Moskau: „Wenn wir Frieden in Europa schaffen und die strategische Autonomie Europas wiederherstellen wollen, müssen wir unsere Position gegenüber Russland überdenken.“ Macron betonte, dass seine Annäherung an Russland hauptsächlich durch die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs motiviert sei. Seine Bemühungen zielten darauf ab, „Beziehungen aufzubauen, um zu verhindern, dass die Welt in einem Flächenbrand versinkt.“

Präsident Donald Trump trifft den französischen Präsidenten Emmanuel Macron am Dienstag, 3. Dezember 2019, im Winfield House in London. (Foto: AP/Alex Brandon)

Der französische Präsident führt den Zusammenbruch der NATO indessen nicht auf diesen oder jenen taktischen Fehler zurück, sondern auf eine Politik, die seit Jahrzehnten von der NATO verfolgt wird. Obwohl er ein erklärter Gegner des Sozialismus ist, griff er das Narrativ der prokapitalistischen Propagandisten vom „Ende der Geschichte“ an, wonach die Auflösung der Sowjetunion durch den Kreml die endgültige Niederlage des Sozialismus und den Sieg der liberal-kapitalistischen Demokratie bedeute. Er räumte gegenüber dem Economist ein, dass diese falsche Konzeption den Boden für NATO-Kriege im gesamten Nahen Osten bereitet hat, die von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt werden.

Macron erklärte: „Es gab eine weit verbreitete Vorstellung, die sich in den 90er und 2000er Jahren um die Idee vom ,Ende der Geschichte‘ – einer endlosen Expansion der Demokratie – herum entwickelte, wonach das westliche Lager gewonnen habe und sich überall durchsetzen würde. Es war die Geschichte, die wir bis in die 2000er Jahre lebten, als eine Reihe von Krisen zeigte, dass sie nicht stimmte. … Manchmal haben wir Fehler gemacht, indem wir versucht haben, unsere Werte zwangsweise einzuführen und Regimewechsel herbeizuführen, ohne dafür die Unterstützung der Öffentlichkeit zu erhalten. Es ist das, was wir im Irak und in Libyen gesehen haben, und vielleicht das, was für Syrien geplant war, aber gescheitert ist. Es ist ein Element des westlichen Ansatzes – um einen Oberbegriff zu benutzen –, der seit Anfang dieses Jahrhunderts ein Fehler ist."

Worin seine Differenzen mit Macron auch bestehen mögen, Trump brachte kürzlich einen ähnlichen Standpunkt zu den amerikanischen Kriegen im Nahen Osten zum Ausdruck. Er schrieb auf Twitter: „Die Vereinigten Staaten haben acht Milliarden Dollar für den Krieg und die Kontrolle über den Nahen Osten ausgegeben. Tausende unserer Großartigen Soldaten sind entweder getötet oder schwer verwundet worden. Millionen von Menschen sind auf der anderen Seite gestorben. IN DEN NAHEN OSTEN ZU GEHEN, WAR DIE SCHLECHTESTE ENTSCHEIDUNG, DIE JE GETROFFEN WURDE … IN DER GESCHICHTE UNSERES LANDES! Wir zogen unter einer falschen und inzwischen widerlegten Voraussetzung in den Krieg, MASSENVERNICHTUNGSWAFFEN.“

Dass sich die NATO in dieser Woche dennoch entschieden hat, ihre militaristische Politik zu verschärfen, muss von der Arbeiterklasse als Warnung verstanden werden. Die von den großen Marxisten des 20. Jahrhunderts dargelegten grundlegenden Widersprüche des Kapitalismus, vor allem zwischen der Weltwirtschaft und dem Nationalstaatensystem, verschaffen sich vehement Geltung. In Krisen gefangen, für die sie keine Lösung haben, im Bewusstsein ihres eigenen politischen Bankrotts und ihrer eigenen Kriminalität sowie aus Angst vor wachsender Opposition von unten, steuern die imperialistischen herrschenden Klassen mit geschlossenen Augen auf eine militärische Katastrophe von schrecklichem Ausmaß zu.

Die wichtigste Aufgabe für Arbeiter und Jugendliche besteht im Aufbau einer internationalen Antikriegsbewegung in der Arbeiterklasse. Vor zwei Jahren analysierte die WSWS die wachsenden Konflikte innerhalb der NATO nach dem Brexit und der Wahl Trumps zum US-Präsidenten. Wir schrieben: „Die internationale Arbeiterklasse wird als die Kraft hervortreten, die eine Alternative zum Zusammenbruch der bürgerlichen Politik bietet. Sie wird durch unerträgliche Lebensbedingungen, Massenarbeitslosigkeit und das durch Jahrzehnte von Austerität und Krieg geschaffene Elend zum Handeln getrieben.“

Zwei Jahre später wurde diese Analyse durch ein Wiederaufleben des Klassenkampfes bestätigt. Gestern brach in Frankreich die größte Streikwelle seit Macrons Amtsantritt aus.

Im vergangenen Jahr haben Hunderttausende von Arbeitern in den Vereinigten Staaten, Europa, Lateinamerika und Asien im Rahmen eines breiten, internationalen Aufschwungs politischer Proteste gegen soziale Ungleichheit und Unterdrückung durch Polizei und Militär gestreikt. Massenstreiks oder regierungsfeindliche Proteste gab es im Irak, im Libanon, in Algerien, im Sudan, in Indien, Sri Lanka, Bolivien, Chile, Katalonien, Spanien und Puerto Rico.

Dieser Aufschwung des Klassenkampfes bildet die gesellschaftliche Basis, um dem Kriegsdrang der herrschenden Eliten entgegenzutreten. Die notwendige Antwort auf die imperialistische Kriegsgefahr besteht darin, diese wachsenden Kämpfe der Arbeiterklasse durch den Aufbau einer internationalen sozialistischen Antikriegsbewegung zusammenzubringen.

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