BKA: Massenmörder von Hanau „kein Rechtsextremist“

Sehr genau wählte der Massenmörder von Hanau, Tobias Rathjen, am 19. Februar seine Opfer aus: Kaltblütig zielte er an jenem Abend auf Personen, deren Umfeld und Erscheinungsbild einen Migrationshintergrund nahelegten. Er erschoss neun ihm völlig unbekannte junge Menschen, ehe er nach Hause fuhr und seiner Mutter und sich selbst das Leben nahm.

In dieser grauenhaften, rassistisch motivierten Bluttat hat das Bundeskriminalamt (BKA) bisher kein rechtsextremistisches Gewaltverbrechen gesehen.

Nichts deute darauf hin, dass Tobias Rathjen ein Anhänger rechtsextremer Gesinnung gewesen sei – zu diesem Schluss kam laut Recherchen von WDR, NRD und Süddeutscher Zeitung ein vorläufiger BKA-Bericht. Auf eine „typisch rechtsextreme Radikalisierung“ des Täters gebe es keinen Hinweis. Vielmehr habe sich der Verschwörungstheoretiker nur deshalb der rassistischen Mordtat bedient, um mehr Aufmerksamkeit für seine paranoiden Vorstellungen von einer obskuren Totalüberwachung zu erlangen.

Dies schreiben BKA-Beamte über einen Massenmörder, der in einem 24-seitigen Bekennerschreiben im Internet darüber spekuliert hatte, wie viele Deutsche wohl „reinrassig und wertvoll“ seien. Er hatte darin die „Totalvernichtung“ der (mehrheitlich muslimischen) Bevölkerung von mehr als zwei Dutzend Staaten nahegelegt und Pläne zum Völkermord entwickelt, die selbst Adolf Hitler übertroffen hätten.

Dennoch stellen die BKA-Kriminalisten den Massenmörder von Hanau bloß als einen weiteren psychisch gestörten Einzeltäter dar und behaupten, deshalb könne er kein rechtsradikaler Terrorist gewesen sein. Genauso gut könnte man argumentieren, dass Hitler selbst „kein Rechtsextremist“ gewesen sei, weil er ein Psychopath war und mit Holocaust, Diktatur und Zweitem Weltkrieg nur auf seine Ablehnung durch die Wiener Kunstakademie reagiert habe.

Tatort in Hanau mit Plakat gegen die „Einzeltäter“-These

Tatsächlich ist das Massaker von Hanau der größte einer ganzen Reihe rechtsextremer Terroranschläge, die vom Oktoberfestattentat von 1980 über die NSU-Morde und die Schüsse auf Walter Lübke bis hin zum Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019 reichen.

Fassungslos haben Opfer-Angehörige und Überlebende in Hanau auf die Einschätzung des BKA reagiert. „Ihr könnt es so drehen, anders drehen oder auch umdrehen, aber die Wahrheit könnt ihr niemals verbergen“, konstatierte Kemal Kocak, in dessen Kiosk Rathjen fünf Menschen ermordet und weitere schwer verletzt hatte. Der Mörder sei zu 100 Prozent ein Rassist gewesen, daran sei nicht zu zweifeln, so Kocak. Er frage sich, berichtet der Hanauer Anzeiger, wie das BKA wohl reagiert und welche Schlussfolgerungen es gezogen hätte, wenn der Täter „ein Muslim oder ein Ausländer“ und die Opfer neun unschuldige Deutsche gewesen wären.

Auch die „Initiative 19. Februar Hanau“ schreibt auf Twitter und Facebook, dass das BKA mit dieser Einschätzung „alle Lehren aus dem NSU-Komplex“ ignoriere. Offensichtlich reiche es nicht einmal, „neun Menschen aus rassistischen Motiven zu töten, um vom BKA als Rechtsextremist eingestuft zu werden“. Den Betroffenen von Hanau bleibe „nur die Angst, dass sich eine solche Tat wiederholen könnte“. Auch mehrere Medien griffen die Kritik am BKA-Bericht auf.

Darauf reagierte BKA-Chef Holger Münch am 1. April mit einem Dementi: „Das BKA bewertet die Tat als eindeutig rechtsextremistisch. Die Tatbegehung beruhte auf rassistischen Motiven“, schrieb Münch jetzt auf Twitter. Er fügte hinzu, den „angeblichen Abschlussbericht“ gebe es derzeit gar nicht. Worauf ein Leser in der Kommentarspalte konterte: „‘derzeit nicht‘ – heißt: bis gestern schon?“

Tatsächlich ist die erste BKA-Version alles andere als überraschend. Das Herunterspielen des rechten Terrors hat in deutschen Behörden Methode. Immer wieder werden rechtsextremistische Terroranschläge ihrer politischen Dimension beraubt und als Randerscheinungen oder als die Tat psychisch gestörter „Einzeltäter“ gewertet und aus den Statistiken herausgehalten.

Die NSU-Mordserie von 2000 bis 2006 hieß bei den Behörden lange Zeit die „Döner-Morde“. Das Massaker im Münchner Olympia-Einkaufszentrum 2016 galt drei Jahre lang offiziell als Amoklauf eines psychisch gestörten und gemobbten Schülers. Selbst beim Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke brauchte das LKA volle zwei Wochen, ehe es begann, seine Ermittlungen auf die Neonaziszene auszurichten.

Der Grund sind die rechten, rassistischen und AfD-nahen Standpunkte, die in den deutschen Behörden gang und gäbe sind. Während die arbeitende Bevölkerung den Faschismus ablehnt und hasst, sind die Sicherheitsdienste, der Verfassungsschutz, das BKA und der ganze Staat von rechten Netzwerken durchdrungen.

Das zeigte sich schon vor drei Jahren im Zuge des G20-Gipfels in Hamburg. Damals wurde unversehens die Existenz einer „schwarzen Liste“ beim BKA publik, als das Amt 32 Journalisten wegen „Sicherheitsbedenken“ denunzierte, so dass sie ihre Gipfel-Akkreditierung verloren. Als die Journalisten ihren Rauswurf nicht akzeptierten und Akteneinsicht forderten, kam ans Licht, dass das BKA seit Jahren wegen möglichen „Linksextremismus“ die Daten von hunderttausenden Personen willkürlich und wahllos gespeichert hatte.

Mehr und mehr verwandeln sich die Geheimdienste in Organe eines wirklichen Überwachungsstaats, der sich gegen den wachsenden sozialen Widerstand richtet. Immer neue Gesetze erlauben es dem BKA, verdachtsunabhängige Ermittlungen zu führen, auf alle Datenbanken zuzugreifen und die modernste Technologie zu nutzen. Damit knüpft es an alte und berüchtigte Traditionen an.

Als nach dem Krieg das BKA ab 1951 als zentrale Behörde für die Innere Sicherheit wiederaufgebaut wurde, setzte es die Arbeit der Kriminalbehörde im faschistischen Dritten Reich fast ungebrochen fort. Diese Kontinuität ist wohl dokumentiert (siehe:Auf dem rechten Auge blind – die brauen Wurzeln des BKA“).

Hunderte Alt-Nazis konnten in diesem Amt ihre Karriere, die sie als Kriminalpolizisten des Dritten Reichs begonnen hatten, bis zur hochbezahlten Rente fortsetzen. Dies, obwohl die Kriminalpolizei unter Himmler und Heydrich direkt für die Ermordung von Hunderttausenden verantwortlich war, die sie in KZs einweisen ließ oder im besetzten „Feindesland“ eigenhändig ermordete. Ihre Aufgabe war es, „Volksfeinde“ aufzuspüren, zu denen sie sowohl Juden, Sinti, Roma und Homosexuelle als auch oppositionelle Arbeiter, Jugendliche, Intellektuelle, KPD-, SPD- und Gewerkschaftsmitglieder rechneten.

Mit anderen Worten, sie sahen ihren Hauptgegner im Wesentlichen auf der gesellschaftlichen „Linken“ und hauptsächlich unter Personen, Gruppen und Parteien, die sich auf die Arbeiterklasse stützten. Diese Tradition lebte im BKA wieder auf, und sie lebt bis heute weiter. Erstmals zeigte sich das, als das BKA die Ermittlungen gegen die KPD führte, die in dem undemokratischen KPD-Verbot von 1956 gipfelten.

„Die Kriminalisierung nahm da ihren Anfang, wo ein dubioser ‚Kommunismusverdacht‘ vorlag, während der Bereich des Rechtsextremismus weitgehend unbeachtet blieb“, fasst es der Autor und Zeitzeuge Dieter Schenk zusammen, der selbst jahrelang als Kriminaldirektor im BKA tätig war.

„Auf dem rechten Auge blind“ – diese Einschätzung trifft offensichtlich bis heute zu. Bis heute sieht das BKA keine rechtsextreme Gefahr, während es in einer wahren Sammelwut, welche die DDR-Stasi weit in den Schatten stellt, Dateien über „Linksextremisten“ erstellt.

Nicht zufällig löste die erste BKA-Einschätzung über Hanau gerade in den Reihen der AfD große Begeisterung aus. Sofort forderte der Brandenburger AfD-Chef Andreas Kalbitz (von Björn Höckes „Flügel“), dass all diejenigen, die der AfD eine Mitschuld zugeschoben hätten, sich nun „für diese schäbige Instrumentalisierung entschuldigen“ müssten.

Von Anfang an hatte AfD-Führer Alexander Gauland Rathjen als „verwirrten Menschen“ hingestellt und erklärt: „Im Moment ist es ein Kranker, ein Irrer, der nicht in dieser Gesellschaft frei herumlaufen sollte.“ Und AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen hatte behauptet: „Das ist weder rechter noch linker Terror, das ist die wahnhafte Tat eines Irren.“

Trotz des BKA-Dementis hat der vorläufige BKA-Bericht bestätigt, was die WSWS seit langem erklärt: Die Rückkehr des Faschismus ist nicht etwas, was aus der Bevölkerung kommt oder von ihr gutgeheißen würde, im Gegenteil. Sie wird von höchster staatlicher Stelle gefördert und betrieben. Wie es in Christoph Vandreiers Buch „Warum sind sie wieder da?“ heißt: „Mit der Zuspitzung internationaler Konflikte und der Verschärfung sozialer Spannungen kehren die deutschen Eliten zur Großmachtpolitik und zu den diktatorischen Herrschaftsformen der Vergangenheit zurück.“

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