Corona-Krise: Müssen Ärzte auch in Deutschland bald über Leben und Tod entscheiden?

Müssen Ärzte auch in Deutschland bald darüber entscheiden, welche Covid-19-Patienten intensivmedizinisch behandelt und welche dem Tod ausgeliefert werden, wie dies in Italien, Frankreich und anderen Länder bereits der Fall ist?

Am Mittwoch haben sieben medizinische Fachgesellschaften ein Papier mit entsprechenden Handlungsempfehlungen verabschiedet, in dem es heißt: „Nach aktuellem Stand der Erkenntnisse zur COVID-19-Pandemie ist es wahrscheinlich, dass auch in Deutschland in kurzer Zeit und trotz bereits erfolgter Kapazitätserhöhungen nicht mehr ausreichend intensivmedizinische Ressourcen für alle Patienten zur Verfügung stehen, die ihrer bedürften.“

Tritt dieser Fall ein, so das Papier, müsse „unausweichlich entschieden werden, welche intensivpflichtigen Patienten akut-/intensivmedizinisch behandelt und welche nicht (oder nicht mehr) akut-/intensivmedizinisch behandelt werden sollen“. Auf insgesamt elf Seiten werden dann Kriterien für Ärzte entwickelt, die diese Entscheidung treffen müssen.

Vor allem Alte, Kranke und Gebrechliche mit geringeren Heilungschancen sollen abgewiesen werden. Die „Priorisierung von Patienten“ orientiert sich „am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht“, was den Verzicht auf die Behandlung derer bedeutet, „bei denen keine oder nur eine sehr geringe Erfolgsaussicht“ besteht. Das ist u.a. bei schweren Erkrankungen – auch neurologischen und Krebserkrankungen –, einer schweren Immunschwäche, Multimorbidität und erhöhter Gebrechlichkeit der Fall.

Vorrangig sollen Patienten behandelt werden, die „dadurch eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit bzw. eine bessere Gesamtprognose“ haben, heißt es in dem Papier. Maßgeblich für die Entscheidung sei dabei nicht nur eine „klinisch relevante Zustandsveränderung der Patienten“, sondern auch das „veränderte Verhältnis von Bedarf und zur Verfügung stehenden Mitteln“. Mit anderen Worten, je weniger Beatmungsgeräte, Intensivbetten und Fachpersonal zur Verfügung stehen, desto niedriger ist die Schwelle, ab der Patienten nicht mehr behandelt werden.

Das Papier, das auch von Medizinethikern unterzeichnet wurde, verliert kein Wort darüber, wie es zur gegenwärtigen katastrophalen Lage gekommen ist. Es enthält auch keine Empfehlungen, wie verhindert werden könnte, dass Ärzte in die furchtbare Lage geraten, über Leben und Tod entscheiden zu müssen. Stattdessen nutzt es einen Ausdruck aus der Kriegs- und Katastrophenmedizin, um eine solche Entwicklung als unausweichlich darzustellen.

Es müsse „analog der Triage in der Katastrophenmedizin über die Verteilung der begrenzt verfügbaren Ressourcen entschieden werden“, heißt es darin. Der Begriff Triage (vom französischen trier: sortieren, aussuchen, auslesen) geht auf Napoleons Leib- und Feldarzt Dominique-Jean Larrey zurück, der einen Kriterienkatalog dafür entwickelt hat, welche Soldaten auf dem Schlachtfeld gerettet werden und welche nicht. Er hat sich für Situationen eingebürgert, in denen eine plötzliche und unvorhersehbare Katastrophe die verfügbaren medizinischen Ressourcen sprengt.

Die Corona-Krise ist aber keine solche unvorhersehbare Katastrophe. Experten haben seit Jahren vor einer solchen Pandemie gewarnt. So wies eine Studie des Robert Koch-Instituts im Jahr 2012 die Bundesregierung und den Bundestag eindringlich darauf hin, dass die notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung im Falle einer Virus-Pandemie „die vorhandenen Kapazitäten um ein Vielfaches übersteigt“. Doch die Regierung tat nichts zur Vorbeugung. Stattdessen setzte sie die Stilllegung und Privatisierung von Krankenhäusern ungebremst fort.

Protestierendes Pflegepersonal der Berliner Charité, 2015

Auch nach dem Ausbruch der gegenwärtigen Pandemie verfolgt die Bundesregierung eine Politik der kriminellen Verantwortungslosigkeit. Während sie in Windeseile ein 750-Milliarden-Euro-Paket schnürte, das vor allem der Sicherung der Profite und Großkonzerne und Banken dient, arbeitet das Pflegepersonal weiterhin weitgehend ungeschützt. Es werden auch keine energischen Initiativen ergriffen, um die erforderlichen Kapazitäten für Intensivpatienten zu erweitern.

Inzwischen sind wegen fehlender Schutzkleidung deutschlandweit Tausende Ärzte und Pfleger mit dem Coronavirus infiziert, wie eine Umfrage von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR ergab. Doch die Bundes- und die Länderregierungen halten es noch nicht einmal für nötig, Zahlen über das infizierte medizinische Personal zu sammeln, das für das Überleben Tausender unabdingbar ist, geschweige denn für ihren Schutz zu sorgen.

Das Robert-Koch-Institut teilte dem Rechercheteam auf Anfrage mit, dass derzeit 2300 Mitglieder des medizinischen Personals in Krankenhäusern infiziert seien. Arztpraxen, Labore, Senioren- und Pflegeheime und ambulante Pflegedienste sind in dieser Zahl nicht berücksichtigt. Gestützt auf schriftliche Anfragen bei 400 Gesundheitsämtern, Ärztekammern, Landesregierungen und anderen Institutionen gelangte das Rechercheteam zum Schluss, „dass deutschlandweit bereits Tausende betroffen sind“. Vollständige Zahlen konnte es allerdings nicht erhalten. Das Bayrische Gesundheitsministerium verbot den Gesundheitsämtern des Landes sogar, die Nachfragen der Journalisten zu beantworten.

Die Gesamtzahl der Infizierten steigt derweil unvermindert an. In den letzten zwei Wochen haben sich allein in Deutschland täglich zwischen 4000 und 7000 Menschen neu angesteckt. Mit 90.000 Infizierten liegt Deutschland inzwischen – nach den USA, Spanien und Italien – als viertes vor China. Auch die Zahl der Todesopfer ist über 1200 gestiegen.

Die Haltung der Bundesregierung gegenüber Ärzten und Pflegern entspricht ihrer Haltung gegenüber der gesamten Arbeiterklasse. Zahlreiche Arbeiter werden ohne ausreichenden Schutz in nicht systemrelevanten Betrieben zur Arbeit gezwungen. Und auch in unverzichtbaren Bereichen – wie dem Lebensmittelhandel, dem öffentlichen Transport, usw. – wird den Beschäftigten oft der elementarste Schutz verwehrt. Für Millionen Arme, prekär Beschäftigte, Alleinerziehende, Arbeiter, Künstler und Kleinunternehmen bedeutet die Krise den Verlust ihrer Existenz, ohne dass sie die notwendige Hilfe erhalten.

In den Talkshows und den Spalten der Zeitungen melden sich inzwischen zahlreiche Ethikexperten mit Professoren- und Doktortitel zu Wort, um die Bevölkerung darauf einzustimmen, dass den schwächsten Opfern des Coronavirus in Zukunft die Intensivbehandlung verweigert wird.

So verteidigte in der allabendlichen Palaverrunde von Markus Lanz der Strafrechtler Reinhard Merkel, der dem Deutschen Ethikrat angehört und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) berät, die Triage von Intensivpatienten. Er salbaderte über „tragische Konflikte, für die es keine moralisch schuldlose Lösung gibt“, und beschrieb unterschiedliche Szenarien, wie die Behandlung älterer Patienten verweigert oder abgebrochen werden könne. Das wahrscheinlichste Szenario sei: „Die Mediziner sagen sich, bevor ich mir die Entscheidung zumute, hänge ich den 80-Jährigen gar nicht mehr an das Beatmungsgerät, weil der 30-Jährige bald kommt.“

Die naheliegende und einzig ethisch vertretbare Lösung – genügend Beatmungsgeräte und Intensivbetten bereitzustellen und Personal zu schulen, um alle zu behandeln – ziehen die Ethik-Experten gar nicht in Erwägung. Dabei wäre dies ohne Problem möglich.

Der deutsche Maschinenbau, die Elektro- und die Autoindustrie umfassen zusammen über 12.000 Betriebe, beschäftigen fast 3 Millionen Arbeiter und erzielen einen Jahresumsatz von 725 Milliarden Euro, von dem über die Hälfte in den Export geht. Sie stellen komplexe, technisch hochentwickelte Produkte her und könnten auch Beatmungsgeräte und Intensivbetten bauen – genug, um ganz Europa damit zu versorgen.

Das würde allerdings Eingriffe ins kapitalistische Privateigentum und den Einsatz erheblicher Geldsummen erfordern. Bereitete sich die Regierung auf einen Krieg vor, wäre dies kein Problem. Die Produktion würde innerhalb kürzester Zeit umgestellt. Statt Motorblöcken würden Granathülsen gegossen, statt Lastwagen Panzer montiert und statt Maschinensteuerungen Luftleitsysteme gebaut.

Doch was für Werkzeuge des Todes gilt, gilt nicht für Werkzeuge, die Leben retten. Alte, Kranke und Gebrechliche sind der herrschenden Klasse diese Mühe schlicht nicht wert. Sie hat innerhalb kürzester Zeit 600 Milliarden Euro bereitgestellt, um die Profite der Banken und Großkonzerne abzusichern. Für die schwächsten Opfer der Covid-19-Epidemie hat sie nur zynische „ethische“ Begründungen übrig, weshalb sie sterben müssen.

Siehe auch:

Coronakrise: Gesundheitsminster Spahn will Ältere monatelang isolieren (27. März 2020)

Finanzinvestor Dibelius: Wirtschaft hat Vorrang vor Gesundheit (25. März 2020)

Corona-Notpaket der Bundesregierung: Milliarden für die Reichen, Almosen für die Armen (24. März 2020)

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