Macron-Regierung beendet Coronavirus-Lockdown

Der französische Premierminister Édouard Philippe und fünf seiner Minister bestätigten am vergangenen Donnerstag in einer Fernsehansprache, dass Präsident Emmanuel Macron ein Ende der Ausgangsbeschränkungen und das Hochfahren der Wirtschaft für den 11. Mai angeordnet hat. Diese verantwortungslose Entscheidung liegt auf einer Linie mit ähnlichen Maßnahmen in ganz Europa und den USA. Sie bedroht unzählige Menschenleben.

In den USA haben hohe Vertreter der Trump-Regierung erklärt, mit dem Ende der Einschränkungen müssten sich die Amerikaner an bis zu 3.000 Todesopfer pro Tag gewöhnen.

Der Lockdown, der in Frankreich am 17. März begann, hat zwar die Zahl der Neuansteckungen und Todesopfer verringert, doch die „erste Welle“ der Pandemie ist noch lange nicht vorbei – weder in Frankreich, noch in Europa. Am Mittwoch vergangener Woche stieg die Zahl der gemeldeten Corona-Fälle in Frankreich um 3.640. Am Tag von Philippes Rede wurden in ganz Europa 28.490 neue Fälle gemeldet, 17.000 davon außerhalb Russlands. Philippe gab zu, dass er mit einem deutlichen Anstieg der Fälle rechnet und nicht weiß, welche Folgen das Ende der Beschränkungen haben wird.

Der französische Premierminister Édouard Philippe (zweiter von links) stellt am 28. April in der Nationalversammlung in Paris seinen Plan zur Beendigung des Lockdowns vor. (David Niviere, Pool via AP)

Der Premierminister erklärte: „In drei Wochen, Ende Mai, werden wir genau wissen, wo wir stehen. Wir werden wissen, ob wir es geschafft haben, die Epidemie einzudämmen. Wir werden den Umfang der Ansteckungen und der Aufnahmen in die Krankenhäuser und Intensivstationen kennen... Wenn diese Zahlen niedrig bleiben, werden wir uns gratulieren können, in die nächste Phase eintreten und unsere Freiheiten auf viele Bereiche ausdehnen, die für den kommenden Sommer besonders wichtig sind. Andernfalls werden wir die Konsequenzen ziehen und uns anpassen.“

Philippe tut so, als bleibe der Regierung nichts anderes übrig, als die Lockerung durchzuführen und sich in das folgende Schicksal fügen. Diese zynische Argumentation zeugt nicht nur von Gleichgültigkeit gegenüber Menschenleben, sondern ist auch falsch. Um in solchen Fällen fundierte Entscheidungen zu treffen, gibt es Epidemiemodelle. Und mehrere Studien zeigen, dass die Aufhebung der Einschränkungen zu einem massiven Wiederaufleben der Epidemie führen wird.

Die staatliche Gesundheitseinrichtung Assistance Publique-Hôpitaux de Paris (AP-HP) hat eine Modellrechnung zur Ausbreitung des Virus durchgeführt. Sie ging dabei davon aus, dass sich die Bevölkerung nach Macrons Vorstellungen schützt: durch Masken, Tests von Erkrankten und soziale Distanzierung. In Frankreich wurden bereits über 26.000 Corona-Todesopfer gemeldet, und die Studie rechnet mit 33.500 bis 87.100 weiteren Todesopfern in Frankreich von Mai bis Dezember 2020.

Die Studie kam zu dem Schluss, dass sogar in einem optimistischen Szenario, in dem die Maßnahmen zur sozialen Distanzierung in Kraft bleiben, der Anstieg der Infektionen so stark sein würde, dass die Notaufnahmen schon im Juli mit schweren Fällen überfüllt sein könnten. Nicolas Hoertel, ein Psychiater der AP-HP und Mitverfasser der Studie, erklärte: „In diesem Szenario wären weitere Beschränkungen unvermeidlich.“

Eine andere Studie der Behörde Inserm und der Universität von Paris (Sorbonne) prognostiziert, dass die vollständige Wiederaufnahme des Schulbetriebs eine Epidemiewelle auslösen würde, die die Intensivstationen überfordern würde. Zu ihrer Bewältigung wären 138 Prozent der Krankenhauskapazitäten notwendig. Wenn hingegen nur ein Viertel der Schüler wieder in den Unterricht kommen würde, könnte diese Welle nur 72 Prozent der Krankenhauskapazität erfordern. Allerdings bleibt unklar, wie die Arbeiter wieder in die Betriebe zurückkehren könnten, wenn drei Viertel ihrer Kinder zu Hause bleiben würden.

Vittorio Colizza, einer der Verfasser der Studie, wies auf die Gefahr hin, dass „uns möglicherweise ab Ende Juni eine zweite Welle bevorsteht, die noch heftiger sein wird als die erste. Die Möglichkeiten der Krankenhäuser für lebenserhaltende Maßnahmen wären bis August überlastet.“

Die Gleichgültigkeit und Verachtung der Regierung gegenüber dem Leben der Arbeiter ist offensichtlich. Die herrschende Klasse ist sich darüber hinaus ihrer eigenen Kriminalität bewusst. Deshalb hat der Senat vorsorglich ein Gesetz verabschiedet, das für die Zeit der Pandemie Straffreiheit für die Gefährdung der öffentlichen Gesundheit vorsieht.

Sogar im Staatsapparat gab es Kritik. Frédérick Bierry, der Ratspräsident des Départements Bas-Rhin im Elsass, einer der am stärksten betroffenen Regionen, erklärte: „Die Regierung hat am Donnerstag angekündigt, sie wolle den Lockdown in den am stärksten betroffenen Départements beenden. Das ist heller Wahnsinn.“ Er zitierte eine epidemiologische Studie, laut der „damit eine weitere Gesundheitskatastrophe mit noch mehr Toten“ droht.

Bierry weigerte sich jedoch, zu kollektivem Widerstand gegen die Lockerung der Einschränkungen aufzurufen. Er riet lediglich zu Gesundheitsschutzmaßnahmen, die auch die Regierung bereits vorgeschlagen hat: Schutzmasken, Schutz der gefährdeten Älteren und Hygieneregeln wie das Husten in die Armbeuge.

Der einzige konsequente und tragfähige Widerstand gegen Macrons Politik kommt aus der Arbeiterklasse. Macron war bereits vor der Pandemie als Präsident der Reichen allgemein verhasst. Jetzt trifft seine Öffnungspolitik bei den Arbeitern auf großes Misstrauen, obwohl die Medien unablässig Propaganda für ein Ende des Lockdowns betreiben.

Die Behauptungen der Regierung, die Wiederaufnahme des Schulbetriebs würde nicht zur Verbreitung des Virus beitragen, oder soziale Distanzierung wäre in überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln möglich, sind unglaubwürdig. Laut einer Umfrage von YouGov sind 76 Prozent der französischen Bevölkerung der Ansicht, die Schulen sollten erst im September wieder öffnen. Weitere 59 Prozent betrachten die Aufhebung der Einschränkungen am 11. Mai „mit Sorge“.

Dass zehntausende Menschenleben in Frankreich und Millionen in Amerika und Europa gefährdet werden, ist keine wirtschaftliche oder soziale Notwendigkeit, sondern eine politische Entscheidung, die von den selbstsüchtigen Motiven der Finanzaristokratie diktiert wird. Die Zentralbanken in den USA und der Eurozone überschütten Staaten und Konzerne mit Billionen von Dollar und Euro. Doch abgesehen von den geringen Summen, die für Arbeitslosengeld aufgewandt werden, erreicht so gut wie nichts von diesem Geld Arbeiter oder Kleinunternehmer.

Arbeiter und Kleinunternehmer werden durch die drastische Stilllegung der Wirtschaft in Hunger und Bankrott getrieben, während die Banken und Superreichen sich die Taschen vollstopfen und sich weigern, ihnen unter die Arme zu greifen.

In seiner Rede vor dem Senat am Montag vergangener Woche behauptete Philippe, die Einschränkungen würden aufgehoben, um Frankreich zu schützen: „Diese Situation kann nicht so weitergehen. Die Flaggschiffe unserer Industrie – der Flugzeugbau, die Autoindustrie und die Elektronikindustrie – sind in Gefahr. Kleine und mittelständische Unternehmen und Startups stehen kurz vor dem Erstickungstod. Alles, was Frankreich prägt ­– Tourismus, Kunst, Gastronomie – steht still.“

Breite Teile der Arbeiterklasse befinden sich in einer katastrophalen wirtschaftlichen Lage, weil die Macron-Regierung und ihre Pendants in Europa so gut wie nichts unternommen haben, um ihre Lage zu verbessern.

Die Äußerungen der anderen Minister, die neben Philippe sprachen, verdeutlichten die massiven Widersprüche im Vorgehen der Regierung. So befürworteten sie den massenhaften Einsatz von Masken, obwohl die Regierung bisher behauptet hatte, Masken wären für die allgemeine Bevölkerung zwecklos (und abgesehen davon ohnehin keine Vorräte hat). Außerdem wurde vorgeschlagen, den öffentlichen Nahverkehr auf 15 Prozent des Normalbetriebs zu verringern, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Die Minister erklärten aber nicht, wie die Beschäftigten dann zur Arbeit kommen sollen.

Die wohl zynischste Aussage kam von Arbeitsministerin Muriel Pénicaud. Sie lobte die Zusammenarbeit zwischen Staat, Arbeitgebern und Gewerkschaften mit den Worten: „Die Gesundheit der Arbeiter stand niemals zur Disposition und wird niemals zur Disposition stehen... Sozialer Dialog [war] ein entscheidender Faktor bei der Umsetzung dieser Maßnahmen.“

Die Bedingungen sind noch nicht reif für die Aufhebung der Maßnahmen und eine sichere Rückkehr an die Arbeit. Deshalb haben die Arbeiter das Recht, die Rückkehr in die Betriebe zu verweigern. Sie haben das Recht, sich dem Vorhaben der Regierung zu widersetzen und sich gegen die offene Missachtung der herrschenden Klasse gegenüber ihrem Leben zu wehren. Das erfordert die Organisation von Streiks unabhängig von den Gewerkschaftsapparaten und den Kampf für den Übergang der politischen Macht an die Arbeiterklasse in Europa und der Welt.

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