Mordprozess im Fall Lübcke hat begonnen

Am Dienstag hat vor dem Frankfurter Oberlandesgericht unter Vorsitz des Richters Thomas Sagebiel der Mordprozess gegen Stephan Ernst und Markus Hartmann begonnen. Der 46 Jahre alte Neonazi Ernst wird beschuldigt, vor einem Jahr, in der Nacht auf den 2. Juni 2019, den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) auf dessen Terrasse erschossen zu haben.

Stephan Ernst mit Anwälten im Oberlandesgericht Frankfurt am Main (Thomas Lohnes/Pool Photo via AP)

Seinem Arbeits- und Gesinnungskollegen Hartmann wird Beihilfe zum Mord vorgeworfen. Er soll Ernst den Kontakt zum Waffenhändler beschafft haben, bei dem er sich die Tatwaffe kaufte, und ihm psychische Beihilfe zum Mord geleistet haben, „unter anderem durch gemeinsame Schießübungen in Wäldern und Schützenvereinen in den Jahren 2016 bis 2018“.

Ernst wird außerdem vorgeworfen, im Januar 2016 den Flüchtling Ahmed I. aus dem Irak niedergestochen und schwer verletzt zu haben. Er tritt ebenso wie die Familie Lübckes als Nebenkläger auf.

Im Vorfeld und zu Beginn des Prozesses war viel über die Radikalisierung von Ernst die Rede, die eingesetzt habe, nachdem Lübcke auf einer Bürgerversammlung im Jahre 2015 die Aufnahme von Flüchtlingen verteidigt hatte. Ernst und Hartmann, die beide anwesend waren, hatten mit Zwischenrufen gestört und ein Video der Versammlung auf Youtube verbreitet, das von Rechten geteilt wurde und zu Hassmails und Morddrohungen gegen den Regierungspräsidenten führte.

Die Medien schreiben daher viel über die Rolle von Social Media und Hass-Mails. Außen vor gelassen wird die Frage nach Hintermännern und Komplizen. In Kassel existiert eine militante Neonaziszene, in der Ernst und Hartmann jahrzehntelang aktiv waren. Sie ist eng mit dem Verfassungsschutz verflochten.

Doch die Anklage des Generalbundesanwalts klammert alle Verbindungen zu Hintermännern und staatlichen Behörden aus. Welche Rolle die Neonaziszene und der Verfassungsschutz beim Mord an Lübcke spielten, wird ebenso wenig angesprochen wie die Frage, ob es weitere Motive für den Mord gab. Musste Lübcke möglicherweise sterben, weil er Dinge wusste, die er nicht hätte wissen sollen?

In den letzten Jahren ist publik geworden, dass Teile des Staatsapparates, insbesondere von Geheimdienst, Polizei und Bundeswehr, Neonazi-Strukturen decken und ausbauen. Abgeschirmt von der Öffentlichkeit wird eine rechtsextremen „Schattenarmee“ aufgebaut, bestehend aus KSK-Elitesoldaten, Polizisten aus Sondereinheiten, Richtern, Anwälten und Verfassungsschutz-Beamten, die sich darauf vorbereitet, politische Gegner an einem „Tag X“ zu töten.

Am Donnerstag wurde im Prozess ein Video über Ernsts erste Vernehmung am 25. Juni 2019 gezeigt, in der er ein umfassendes Geständnis abgelegt hatte, das er später wiederrief. Darin äußert sich Ernst ganz im Sinne dieser rechten Verschwörung. „Es schadet nichts, die Leute zu bewaffnen, damit man vorbereitet ist“, erklärt er. „Unser Vorhaben war, Deutschland zu befreien.“

Es ist belegt, dass die rechtsterroristischen Netzwerke seit Jahren von hochrangigen Elementen im Staatsapparat unterstützt werden, insbesondere in den Geheimdiensten. Das gilt auch für die beiden Angeklagten im Mordfall Lübcke.

Ernst hat sich nicht erst 2015 nach Lübckes Bürgerversammlung radikalisiert. Seit er politisch denken kann, terrorisiert er Menschen, die nicht in sein rassistisches Weltbild passen.

Schon 1989, mit 15 Jahren, versuchte er ein Mehrfamilienhaus anzuzünden, das vorwiegend von türkeistämmigen Familien bewohnt wurde. Drei Jahre später, im Jahr 1992, stach er auf einer öffentlichen Toilette auf einen Imam ein. Der Mann brach lebensgefährlich verletzt zusammen, konnte aber gerettet werden. 1993 versuchte Ernst, in einem Flüchtlingsheim mit einer selbstgebastelten Rohrbombe möglichst viele Menschen zu töten.

Damals wurde der Neonazi festgenommen und wegen Körperverletzung, Brandstiftung und versuchten Mordes zu sechs Jahren Jugendstrafe verurteilt. In der Untersuchungshaft verprügelte er noch einen türkeistämmigen Mitgefangenen. Ernst war zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt.

Im damaligen Gerichtsverfahren, berichtet der Spiegel, habe ein Gutachter bei ihm eine „schwere seelische Abartigkeit“ und „Soziopathie“ diagnostiziert, die zu einer verminderten Schuldfähigkeit führte. Die Süddeutsche Zeitung zitiert nun aus der damaligen Urteilsbegründung: Ernst „empfand es für sich als besonders belastend, dass es sich bei dem Zeugen [dem niedergestochenen Imam] erkennbar um einen Ausländer handelte“.

Um die Jahrtausendwende, nach vier Jahren abgesessener Haft, machte Ernst weiter wie zuvor und war sofort wieder Teil der Kasseler Neonazi-Szene. Im Februar 2003 stand er im Verdacht, einen Anschlag auf einen Lehrer verübt zu haben, der sich gegen rechts engagierte. Die Indizien reichten aber nicht für eine Anklage aus.

Am 1. Mai 2009 überfielen Ernst und Hartmann gemeinsam mit etwa 400 rechten Schlägern die Erste-Mai-Kundgebung des DGB in Dortmund mit Steinen und Holzlatten. Das Amtsgericht Dortmund verurteilte ihn deshalb 2010 zu sieben Monaten Haft, Hartmann ging ohne Strafe aus.

Der Verfassungsschutz behauptet, Ernst und Hartmann seien seitdem nicht mehr auffällig gewesen und daher nicht weiter beobachtet worden. Das entspricht nachweislich nicht der Wahrheit. Die beiden waren fester Bestandteil der Kasseler Neonazi-Szene, nahmen an rechten Demos teil und posteten im Internet ihre rassistische Hetze. Ernst spendete 150 Euro an den von Björn Höcke geführten Thüringer Landesverband der AfD.

Ein Foto zeigt beide auch am 1. September 2018 in Chemnitz auf der Demonstration von AfD und Neonazis, bei der Nazis Jagd auf Ausländer machten, was der damalige Chef des Bundesverfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen abstritt.

Der hessische Verfassungsschutz hatte die beiden immer „auf dem Radar“. Dennoch konnten Ernst und Hartmann offenbar den Mord an Lübcke akribisch vorbereiten. Ernst habe „sein Opfer eingekreist, observiert, er verbrachte ganze Nächte an Wochenenden rund um das Haus von Lübcke“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Zweimal soll Ernst mit seiner Pistole zum Haus Lübckes gefahren sein, bevor er ihn kaltblütig erschoss.

Hartmann hatte 2015 dank der Hilfe des hessischen Geheimdienstes einen Waffenschein erhalten. Es besteht der dringende Verdacht, dass er einer der sieben V-Leute war, die der hessische Verfassungsschutz in der nie mehr als 50 Personen umfassenden Kasseler Neonazi-Szene führte.

Diese Szene hatte nachweislich Kontakte zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), der zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin ermordete. In Kassel erschoss der NSU 2006 den jungen Halit Yozgat.

Hartmann selbst kommt ursprünglich aus Rudolstadt, also derselben Gegend in Thüringen, aus der auch der NSU stammt. Schon dort war er in der rechtsextremen Szene aktiv gewesen. 2006, zur Zeit des Mordes an Halit Yozgat, befand er sich bereits in Kassel. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat Ernst 2006, kurz vor der Ermordung des 21jährigen Yozgats, die NSU-Mitglieder persönlich kennengelernt.

Eine Schlüsselfigur dieses Neonazi-Netzwerks ist Andreas Temme, der als Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz V-Leute in der rechtsextremen Szene in Kassel führte, womöglich auch Hartmann. Beim Mord an Yozgat war Temme am Tatort, später wechselte der Beamte ins Regierungspräsidium von Walter Lübcke, wo er bis heute arbeitet.

Hartmann muss Verbindungen zum Staatsapparat haben. Recherchen der Wochenzeitung Die Zeit zufolge gilt der nicht eingetragene Schützenverein „SSG Germania Cassel“, auf dessen Schießstand Ernst und Hartmann trainierten, als Gemeinschaft für Reservisten.

Der Spiegel hatte zudem erst kürzlich berichtet, dass Ermittler auf Hartmanns Mobiltelefon ein abfotografiertes Dokument der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung fanden, das als „Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft war. Es handelte sich um eine Schulungsunterlage zur Polizistenausbildung, in der es um Fahndungen in Fällen „terroristischer Gewaltkriminalität von bundesweiter Bedeutung“ ging. Wer dem Neonazi das interne Dokument gab, ist bislang unklar.

Obwohl zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte ein Politiker von Rechtsterroristen ermordet worden ist, waren die staatlichen Behörden von Anfang an darauf bedacht, die wirklichen Hintergründe des Mordes an Lübcke zu verschleiern.

Das begann unmittelbar nach dem Mord, als die Präsidentin des hessischen Landeskriminalamts Sabine Thurau behauptete, mit der rechten Stimmungsmache gegen Lübcke habe seine Ermordung nichts zu tun. Nun klammert die Anklage Verbindungen zu Hintermännern und staatlichen Behörden aus. Die hessische Landesregierung, geführt vom früheren Innenminister Volker Bouffier, hat entschieden, die NSU-Akten des hessischen Verfassungsschutzes bis zum Jahr 2044 geheim zu halten. In diesen Akten befindet sich auch das Protokoll der Befragung des von Temme geführten V-Manns Gärtner aus dem Jahr 2016 mit seinen Kenntnissen über Ernst und seine Kontakte.

Auch die Prozessberichterstattung wird, wie schon beim NSU-Prozess in München, erschwert. Von den rund 200 Journalisten, die sich für den Prozess akkreditiert haben, gelangen weniger als ein Drittel ins Gericht. Aufgrund der Coronabestimmungen werden nur 19 Personen in den Saal gelassen. Weitere 41 Journalisten können in einen Nebenraum der Tonübertragung zuhören. Die anwesenden Medienvertreter dürfen keine technischen Geräte wie Notebooks oder Smartphones mitführen. Die Anmietung eines größeren Raums oder gar eines Messesaals, wie beispielsweise beim Loveparade-Prozess in Düsseldorf, wurde abgelehnt.

Es zeichnet sich schon jetzt ab, dass, wie schon beim Münchener NSU-Prozess, weder der Generalbundesanwalt noch das Gericht den Fragen nachgehen werden, die Licht auf die offensichtliche Verschwörung im Staatsapparat und ihre Kontakte zur Neonazi-Szene werfen würden.

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