Arbeiter überdurchschnittlich von Corona betroffen

Die Corona-Pandemie trägt klare soziale Züge. Sie betrifft besonders Arbeiterinnen und Arbeiter, die keine Möglichkeit haben, zuhause zu bleiben und soziale Distanz zu wahren. Das hat eine Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), der größten Krankenversicherung Deutschlands, klar aufgezeigt. Die Studie weist nach, wer im Lockdown die große Last der Pandemie getragen hat: Es sind die Krankenschwestern und Pfleger in den Kliniken und Seniorenheimen, die Arbeiter in der Fleischindustrie und Millionen Beschäftigte in vielen andern Sektoren.

„Bestimmte Beschäftigtengruppen, die auch in Pandemiezeiten weiter zur Arbeit gegangen sind, scheinen stärker von Covid-19 betroffen zu sein“, sagte Helmut Schröder, zweiter Geschäftsführer des Instituts, am 8. Juli bei der Vorstellung der WIdO-Studie. Stark betroffen seien „vor allem Berufe mit Kontakt zu anderen Menschen, aber auch Berufe in der Fleischverarbeitung oder der Lagerwirtschaft“.

Die Studie wertete die Krankheitsdaten von 11,6 Millionen Erwerbstätigen aus, die bei der AOK versichert sind, und legte die Zeitdauer des Lockdowns zugrunde, der in Deutschland im Wesentlichen von Mitte März bis Mitte Mai 2020 dauerte. In dieser Zeit waren die Pflegeberufe am stärksten von Corona betroffen. In der Altenpflege erkrankten 1,28 Prozent aller dort Beschäftigten an Covid-19. Bei den Krankenschwestern und –pflegern waren es 1,24 Prozent. Auch knapp einer von hundert Rettungsfahrern erkrankte an Corona.

Rettungssanitäter mit Covid-19-Schutz in Köln (© Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)

Dagegen waren Berufe, die entweder im Lockdown ganz stillegelegt wurden, z.B. die Gastronomie oder die Kosmetik, wie auch IT- oder Verwaltungs-Berufe, die von zu Hause aus im Home-Office ausgeübt werden konnten, fünfmal weniger betroffen. In der Hochschullehre und -forschung traf es sogar zehnmal weniger Beschäftigte, nämlich 0,11 oder 110 pro 100.000 Personen. Da die zugrunde gelegte Zeitperiode nur bis Mai ging, gehörte auch ein großer Teil der Lehrer da noch zu den unterdurchschnittlich betroffenen Berufsgruppen.

Leider sind in den Zahlen der Studie die Arbeiter aus dem Metall-, Stahl- und Elektrobereich, bzw. aus der Auto- und Zulieferindustrie, nicht gesondert aufgeführt. Ebenso wenig werden die Kassiererinnen in den Supermärkten, die Paketdienstleistenden, die Flughafen-Bodendienste, die Amazon-Beschäftigten oder auch die Arbeiter im Nah- und Fernverkehr besonders aufgelistet. Keine Auskunft gibt die Studie auch auf die Frage, wie viele Erkrankte am Ende ihre Covid-19-Infektion mit dem Leben bezahlt haben.

Von März bis Mai erkrankten insgesamt etwa 10.500 AOK-versicherte Erwerbstätige so schwer an SARS-CoV-2, dass sie in ein Krankenhaus eingeliefert werden mussten; das ist fast jeder tausendste oder 91 pro 100.000. Am höchsten war der Satz erneut bei den Pflegekräften mit 157 von 100.000. Das bedeutet, dass über zwölf Prozent der an Covid-19 erkrankten Pflegekräfte einen schweren Verlauf erlitten.

Im Durchschnitt aller Berufsgruppen hatten in der Zeit des Lockdowns von den 11,6 Millionen AOK-versicherten Erwerbstätigen etwa 55.000 nachweislich einen Krankenschein auf SARS-CoV-2. Das ist knapp einer von 200 Beschäftigten (474 je 100.000 oder 0,5 Prozent). Auffällig hoch ist der Prozentsatz bei den jungen Arbeitern: In der Altersgruppe bis zu 20 Jahren wurden 0,7 Prozent der AOK-versicherten Berufstätigen auf Covid-19 krankgeschrieben.

Dagegen verzeichneten die älteren Berufstätigen deutlich schwerere Verläufe, die eine Einweisung ins Krankenhaus notwendig machten. Bei den über 60-jährigen AOK-versicherten Erwerbstätigen ist die Zahl derjenigen, die ins Krankenhaus mussten, fast doppelt so hoch (168 je 100.000) wie der Durchschnitt. Da die AOK-Studie keine Rentner mit einbezog, bestätigt dies nachträglich, dass auch im Berufsleben die Senioren und Risikogruppen besonders gefährdet sind.

Indirekt beweist die Studie, dass gerade die Arbeiter, die am wenigsten verdienen, die größte Last mit der Corona-Pandemie haben. Am häufigste wurden Beschäftigte der Fleischindustrie schwer getroffen. Von ihnen wurden 173 je 100.000 im Zusammenhang mit Covid-19 in ein Krankenhaus eingewiesen. Und das sind statistische Zahlen aus der Zeit, als von dem Massenausbruch bei Tönnies im nordrhein-westfälischen Gütersloh noch nichts bekannt war.

„Es bleibt abzuwarten, ob sich die Unterschiede zwischen den Berufsgruppen durch Infektionsherde in einzelnen Betrieben in den kommenden Wochen und Monaten noch deutlicher abzeichnen“, kommentierte WIdO-Geschäftsführer Schröder. Zweifellos hatte er dabei Massenausbrüche wie den bei Tönnies im Sinn.

Dort wurden im Juni 1553 Beschäftigte positiv auf Covid-19 getestet. Von ihnen liegen immer noch fünf auf der Intensivstation, und einer wird künstlich beatmet. Unklar ist, ob alle es überleben, und wie viele der erkrankten Fleischarbeiter noch jahrelang an den Covid-19-Folgeschäden leiden werden.

In Rheda-Wiedenbrück arbeiten inzwischen Unternehmer und Kreis- und Landespolitiker daran, die Produktion so rasch wie möglich wieder anlaufen zu lassen. Das Oberverwaltungsgericht Münster hat den Lockdown für die zwei am stärksten betroffenen Landkreise durch einen Gerichtsentscheid am Donnerstag wieder aufgehoben.

Ebenfalls seit Donnerstag arbeiten bei Tönnies die Betriebstechniker wieder. Schon am 17. Juli soll auch die Produktion wieder laufen. Bis dahin soll ein neues Hygienekonzept vorliegen. Darüber sei man „in konstruktiven Gesprächen“ mit der Unternehmensleitung, versicherte der zuständige Landrat Sven-Georg Adenauer (CDU), ein Enkel des ersten Nachkriegs-Bundeskanzlers Konrad Adenauer.

Inzwischen behauptet Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), er werde „mit Werksverträgen und Leiharbeit in der Fleischindustrie aufräumen“. Gegenüber dem Redaktions-Netzwerk Deutschland (RND) versicherte Heil, dass die Regierung daran „mit Hochdruck“ arbeite und sich „nicht von Lobbyinteressen bremsen“ lasse. Im Zusammenhang mit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft versprach Heil sogar, er werde in ganz Europa für „angemessene Mindestlöhne und eine gute Grundsicherung“ sorgen.

Was davon zu halten ist, das hat Heils SPD-Kollege Sigmar Gabriel vor kurzem mehr als deutlich gemacht. Er hat sich von März bis Ende Mai 2020 von Clemens Tönnies als hochbezahlter Berater anheuern lassen. Noch als Bundeswirtschaftsminister und SPD-Vorsitzender hatte Gabriel die Werksverträge bei Tönnies harsch kritisiert und als „Schande für Deutschland“ bezeichnet.

Eine Augenzeugin der unsäglichen Wohn- und Arbeitsbedingungen für osteuropäische Werksvertragsarbeiter ist Frau Inge Bultschnieder, Gründerin der Interessengemeinschaft WerkFairträge. In einem kurzen Telefonat mit der World Socialist Web Site bezeichnete Frau Bultschnieder Sigmar Gabriel als „die Enttäuschung des Lebens“. Wie sie bestätigte, hatte Gabriel sie vor fünf Jahren, als er noch Bundeswirtschaftsminister war, persönlich besucht. „Er war da“, berichtete sie dem Recherche-Magazin Panorama. „Und er war super-interessiert und hat ganz gezielte Fragen gestellt.“ Sie habe geglaubt, dass das für die Werksvertragsarbeiter „der Durchbruch“ sei.

Stattdessen ließ Gabriel sich fast sofort von Clemens Tönnies einspannen. Nach einem Gespräch mit dem Fleischbaron postete Gabriel schon am 3. Februar 2015 in einem Text auf Facebook folgende anbiedernde Sätze: „Es ist faszinierend, zu sehen, wie schnell dieses Unternehmen gewachsen ist. Und es ist gut, dass Tönnies in einer Branche, die immer auch mit schwarzen Schafen zu kämpfen hat, im positiven Sinne Standards setzt.“

Nur folgerichtig war es dann, dass Clemens Tönnies 2015 persönlich angehört und beteiligt wurde, als die Regierung eine „freiwillige Selbstverpflichtung“ zur Einhaltung von Arbeitsstandards in der deutschen Fleischwirtschaft beschloss. Bei dieser jahrelangen, vertrauten Kollaboration ist Gabriels jüngster Beratervertrag bei Tönnies mitten in der Corona-Pandemie nur noch das Tüpfelchen auf dem i.

Hubertus Heils Versprechen werden am Kern der Ausbeutung nichts ändern. Nach wie vor gibt es Arbeitsschichten von zwölf und noch mehr Stunden, nach wie vor leisten die Schlachter und Fleischpacker harte Knochenarbeit bei Frosttemperaturen. Ihre Billiglohnverträge werden durch überzogene Abzüge für Unterkunft und Transporte geschmälert, während ihre Unterkünfte jeder Beschreibung spotten und jegliche vernünftige Gesundheitsvorsorge fehlt. Die Pandemie hat diese Missstände, die in der Fleischindustrie seit Jahrzehnten grassieren, nicht geschaffen, sondern nur offengelegt.

Inzwischen gibt es neue, von den Medien kaum beachtete Corona-Ausbrüche. Im Nachbarkreis des Tönnies-Kreises Rheda-Wiedenbrück wird schon ein neuer Hotspot befürchtet: Die Fleischfirma Westphal musste letzte Woche ihren Zerlegungs- und Schlachtbetrieb in Herzebrock-Clarholz stilllegen, weil ein Arbeiter an Covid-19 erkrankt war. Bisher sind er und zwei Mitbewohner, die ebenfalls bei Westphal arbeiten, positiv getestet worden.

Nicht weit entfernt liegt Göttingen, wo es bereits Massenausbrüche im Iduna-Zentrum und in einem weiteren Hochhauskomplex gab. Dort ist seit einer Woche auch das Grenzdurchgangslager Friedland betroffen. Ende Juni wurden in dem Lager 62 Menschen positiv getestet, 52 sogenannte „Spätaussiedler“, die aus Kasachstan nach Deutschland kamen, sieben Beschäftigte der Einrichtung und drei Asylbewerber. In dem Lager, das traditionell Einwanderer aus Russland und Kasachstan aufnimmt, sind heute neben 191 Spätaussiedlern auch 123 Asylbewerber einquartiert.

Die täglichen RKI-Zahlen bringen die soziale Dimension der Pandemie nicht annähernd zum Ausdruck. Nicht nur vermeiden sie es, einen aufgeschlüsselten Einblick in die betroffenen Berufsgruppen und sozialen Schichten zu vermitteln. Sie sind zweifellos auch stark untertrieben, da nach wie vor nicht systematisch getestet wird.

Das zeigt das jüngste Beispiel eines katholischen Kindergartens in Friedrichshafen. Dort ließ die Leiterin am Montag, den 6. Juli, die Einrichtung wieder schließen, weil so viele Kinder krank waren. Mehr als 40 Kinder zeigten Corona-Symptome. Die Behörden sahen dennoch keine Notwendigkeit, alle 67 Kinder der Einrichtung und ihre Erzieherinnen auf Covid-19 testen zu lassen. Die Begründung lautete, vor allem bei Kindern könnten „verschiedene Faktoren“ zu einer „allgemein wahrgenommenen Häufung von Atemwegssymptomen“ führen.

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