Prozess gegen Halle-Attentäter hat begonnen

Am Dienstag begann im Landgericht Magdeburg der Prozess gegen Stephan Balliet, der am 9. Oktober letzten Jahres einen Terroranschlag auf die Synagoge von Halle verübt hat. Der 28-Jährige ist wegen zweifachen Mordes, 68-fachen Mordversuchs, räuberischer Erpressung, gefährlicher Körperverletzung und Volksverhetzung angeklagt.

Balliet war an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, schwer bewaffnet und in Kampfmontur vor der Synagoge erschienen, in der sich über sechzig Mitglieder der jüdischen Gemeinde versammelt hatten. Er plante ein Massaker, wie es Brenton Tarrent in zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch verübt hatte.

Als das Türschloss seinen Schüssen standhielt und es ihm nicht gelang, in die Synagoge einzudringen, erschoss er eine zufällige Passantin. Danach begab er sich zu einem Döner-Lokal, wo er einen zwanzigjährigen Maler tötete, den er für einen Südländer hielt. Nur Ladehemmungen am Gewehr verhinderten weitere Morde.

Auf der Flucht lieferte sich Balliet ein Gefecht mit Polizeibeamten und schoss ein Paar nieder, um ihr Auto zu rauben. Die beiden überlebten. Erst geraume Zeit später wurde er festgenommen, nachdem er sechzig Kilometer von Halle entfernt einen Lastwagen gerammt hatte.

Einschusslöcher in der Tür der Synagoge von Halle (Foto: Reise Reise, CC-BY-SA 4.0)

Balliet bekannte sich vor Gericht uneingeschränkt zu seinen Taten und nutzte den Gerichtssaal, in dem viele seiner Opfer als Nebenkläger saßen, um seine antisemitische und rassistische Hetze zu verbreiten.

Er habe sich nach der Flüchtlingskrise 2015 entschieden, „nichts mehr für diese Gesellschaft zu tun“, die ihn „mit Muslimen und Negern“ ersetze, erklärte er. Flüchtlinge bezeichnete er als „Eroberer aus dem muslimischen Kulturkreis“, die Juden als „Organisatoren“ des Flüchtlingszustroms. Von der Vorsitzenden Richterin gefragt, warum er keine Moschee, sondern eine Synagoge angegriffen habe, antwortete er: „Es ist ein Unterschied, Symptom oder Ursache zu bekämpfen.“

Bedauern äußerte Balliet lediglich darüber, dass er zwei Menschen getötet habe, die weder Juden oder Muslime noch Ausländer waren. Sie seien nicht seine „Feinde“ gewesen, sagt er. Dagegen sei es ärgerlich, dass sein Plan nicht geklappt habe. Er sehe sich deshalb als „Versager“, der sich „global lächerlich gemacht“ habe. Als am zweiten Prozesstag im Gerichtssaal das Video gezeigt wurde, in dem Balliet seine Tat über eine Helmkamera live übertragen hatte, lächelte er immer wieder.

Die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens warnte den Angeklagten zwar, sie werde ihn vom Prozess ausschließen, falls er weiterhin Menschen beschimpfe, hat ihre Drohung aber bisher nicht wahrgemacht.

Die Medien bemühen sich indessen, Balliet als einsamen Einzeltäter darzustellen. Laut dem, was seit dem Anschlag und im Gerichtssaal über ihn bekannt wurde, diente er sechs Monate in der Bundeswehr und begann anschließend ein Chemiestudium, das er wieder abbrach. Seither war er arbeitslos und lebte zurückgezogen im Haushalt seiner Mutter. Er soll weder Freunde noch persönliche Kontakte gehabt und sich ausschließlich über einschlägige Foren im Internet radikalisiert haben, in denen er dann seine eigene Tat ankündigte und streamte.

In der 121-seitigen Anklageschrift findet sich kein Hinweis auf Mitwisser und Mittäter – was aber nicht bedeuten muss, dass es sie nicht gab. Auch im NSU-Prozess, der sich in München über fünf Jahre hinzog, hatten Staatsanwaltschaft und Gericht mögliche Hintermänner sorgfältig ausgeklammert. Obwohl es enge Verbindungen zu anderen Neonazis gab, beharrten sie darauf, dass der NSU lediglich aus drei Einzeltätern bestanden habe. Sie versuchten so die zahlreichen V-Leute zu decken, die im Umfeld des NSU für den Verfassungsschutz und die Polizei gearbeitet hatten.

Völlig absurd ist die These vom Einzeltäter, wenn man den gesellschaftlichen Hintergrund berücksichtigt, vor dem der gefährlichste antisemitische Anschlag seit der Befreiung der Konzentrationslager vor 75 Jahren stattfand. Selbst wenn Balliet tatsächlich ein Einzelgänger gewesen sein sollte, kann ein derart barbarischer Plan nur in einem entsprechenden gesellschaftlichen Klima bis zur Tat heranreifen.

Die systematische Verharmlosung nationalsozialistischer Verbrechen; die Vertuschung und Förderung brauner Terrornetzwerke in Bundeswehr, Polizei und Verfassungsschutz; die herausragende Stellung, die der AfD im Politikbetrieb und den Medien eingeräumt wird – all das hat zum Anschlag in Halle beigetragen.

Erinnert sei hier an den Fall des rechtsradikalen Historikers Jörg Baberowski, der Hitler 2014 im Spiegel bescheinigt hatte, er sei „nicht grausam“, und den Nazi-Apologeten Ernst Nolte verteidigt hatte. Als ihn die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) und ihre Jugendorganisation IYSSE deshalb kritisierten, stellte sich das gesamte akademische Establishment hinter Baberowski. Die Medien führten eine Hetzkampagne gegen „trotzkistisches Mobbing“. Schließlich wurde die SGP als „linksextremistische Organisation“ in den Verfassungsschutzbericht aufgenommen. Ein Schriftsatz des Innenministeriums rechtfertigte das mit der Begründung, das „Streiten für eine demokratische, egalitäre, sozialistische Gesellschaft“ und die Agitation gegen Imperialismus und Militarismus seien verfassungswidrig.

Die AfD, deren Führer Alexander Gauland die Nazi-Verbrechen als „Vogelschiss“ in tausend Jahren ruhmreicher deutscher Geschichte bezeichnet, ist Oppositionsführerin im Bundestag. Die anderen Parteien haben ihr den Vorsitz mehrerer wichtiger Ausschüsse anvertraut. Als prominente AfD-Mitglieder im Sommer 2018 gemeinsam mit militanten Neonazis einen rassistischen Aufmarsch in Chemnitz anführten, verteidigten Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen, der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer und Innenminister Horst Seehofer den rassistischen Mob.

Erst nach einem öffentlichen Aufschrei wurde Maaßen in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Seither tritt der Staatspensionär, der weiterhin Mitglied der Regierungspartei CDU und der sogenannten Werteunion ist, als gefeierter Redner vor AfD-Anhängern und als rechter Agitator im Netz auf.

Einzelheiten über das rechtsterroristische „Hannibal“-Netzwerk – bestehend aus KSK-Soldaten, Sonderpolizisten, Richtern, Anwälten und Verfassungsschutzbeamten –, das Waffen hortet, Feindeslisten führt und sich auf einen Umsturz am „Tag X“ vorbereitet, sind seit langem bekannt. Ohne Folgen. Hie und da wird jemand entlassen, um die Spuren zu verwischen. Doch die Protagonisten befinden sich weiterhin auf freiem Fuß.

Auch die rechten Netzwerke in der Polizei werden vertuscht. Inzwischen sind 69 Drohbriefe mit der Unterschrift „NSU 2.0“ an Politiker, Künstler und Prominente verschickt worden, die wahrscheinlich aus der hessischen Polizei stammen, ohne dass die Quelle bisher aufgedeckt wurde.

In Halle hatte die Polizei der jüdischen Gemeinde vor dem Jom-Kippur-Attentat jeglichen Schutz versagt. Auch danach ließen die antisemitischen Drohungen nicht nach. Inzwischen wird gegen einen Polizisten wegen Strafvereitelung ermittelt, der ein aus Zellstoff gefertigtes Hakenkreuz vor einem Gebäude der jüdischen Gemeinde stillschweigend entfernt hatte.

Die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland erreichte im vergangenen Jahr mit 2032 einen neuen Rekord. Im Durchschnitt wurden jeden Tag über fünf solche Straftaten verübt. 93 Prozent davon kamen nach Erkenntnis der Polizei von rechts. Der Terroranschlag von Halle war nur die Spitze des Eisbergs.

Die tiefere Ursache dieser Rückkehr von rechtem Terror und Antisemitismus ist die tiefe Krise des kapitalistischen Systems. Die herrschende Klasse Deutschlands hat, trotz anderslautender Beteuerungen, nie wirklich mit ihrer Nazi-Vergangenheit gebrochen. Führende Nazis besetzten nach dem Krieg bald wieder führende Positionen in Wirtschaft, Staat und Lehre. Hans Globke, der Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, leitete zehn Jahre lang das Bundeskanzleramt von Konrad Adenauer. Das frühere NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger wurde 1966 sogar Bundeskanzler.

Nun, angesichts wachsender Klassenspannungen und internationaler Konflikte, kommt der braune Untergrund unter der demokratischen Tünche wieder zum Vorschein. Das sind die objektiven Umstände, die Balliet zu seiner barbarischen Tat ermutigt haben.

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