Ehemaliger SS-Wachmann im KZ Stutthof zu zweijähriger Bewährungsstrafe verurteilt

Am Donnerstag, den 23. Juli 2020, verkündete das Landgericht Hamburg das Urteil im Prozess gegen den 93-jährigen Bruno Dey. Es verurteilte ihn wegen der Beihilfe zum Mord an 5232 Menschen und der Beihilfe zum versuchten Mord in einem Fall zu zwei Jahren Haft auf Bewährung. Die Taten hatten in der Zeit vom 9. August 1944 bis zum 26. April 1945 im Konzentrationslager Stutthof stattgefunden.

KZ Stutthof: Gefangenenbaracken und Kommandantur (Foto: Hans Weingartz / CC-CY-SA 2.0)

Der Prozess begann am 17. Oktober letzten Jahres und fand vor der Jugendstrafkammer des Landgerichts Hamburg statt, weil der Angeklagte zur Tatzeit erst 17 bzw. 18 Jahre alt war. Im Konzentrationslager Stutthof, das etwa 40 Kilometer östlich von Danzig im heutigen Polen liegt, wurden Schätzungen zufolge etwa 65.000 Menschen von den Nazi-Verbrechern ermordet.

Bruno Dey war als Wachmann des Konzentrationslagers Mitglied der 1. Kompanie des SS-Totenkopfsturmbanns. Er verbrachte seine Dienstzeit vor allem auf den Wachtürmen des Lagers und sorgte mit dafür, dass niemand dem Grauen in dem Konzentrationslager entkommen konnte.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft wurden während der Zeit, als Bruno Dey Wachdienst leistete, mindestens 5232 Gefangene ermordet. 30 wurden in einer geheimen Genickschussanlage im Krematorium des Lagers getötet. Mindestens 200 wurden in der Gaskammer und in einem verschlossenen Eisenbahnwaggon mit Zyklon B umgebracht. Wenigstens 5000 Menschen starben in Folge der lebensfeindlichen Bedingungen im sogenannten Judenlager von Stutthof.

Mit lebensfeindlichen Bedingungen sind vor allem die Vernichtung durch harte Arbeit bei ungenügender Versorgung mit Nahrung, fehlende medizinische Versorgung bei Krankheit, unmenschliche Unterbringung und ständige Willkür und Schikanen gemeint. An einer Fleckfieber-Epidemie starben zahlreiche Menschen.

Staatsanwalt Lars Mahnke forderte in seinem Plädoyer drei Jahre Haft für den Angeklagten Bruno Dey.

An dem Prozess waren etwa 40 Nebenkläger, unter ihnen 35 Überlebende des Konzentrationslagers beteiligt. Viele der überlebenden Zeugen und Nebenkläger sowie Hinterbliebene der Opfer gingen während dem Prozess anschaulich auf diese Zustände ein.

So beschrieb der 93-jährige Zeitzeuge und Nebenkläger Marek Dunin-Wasowicz aus Warschau, der mit seinen Eltern und Brüdern den Widerstand gegen die deutsche Besatzung unterstützt hatte, bei seiner Aussage Ende Oktober letzten Jahres die grauenhaften Zustände im KZ Stutthof. Er selbst hatte zu den politischen Gefangenen im Lager gehört.

Er beschrieb, wie im Herbst 1944 Tausende Juden in das Lager transportiert wurden, gejagt und geschlagen von SS-Männern. Viele von ihnen sah man später im Lager nicht mehr, d.h. sie wurden direkt ermordet und vernichtet. Wie er berichtete, waren menschliche Leichen Alltag im Lager.

Gefangenenunterkünfte im KZ Stutthof (Foto: Hans Weingartz / CC-BY-SA 2.0)

Dunin-Wasowicz schilderte auch die Zustände in den Baracken, wo sich in Drei-Etagen-Betten jeweils drei Personen ein Bett aus Stroh teilen mussten. Hunger war allgegenwärtig. Es gab eine Scheibe Brot zum Frühstück und einen Schöpflöffel Suppe zum Mittagessen. Viele Menschen, die unter diesen Bedingungen zum Arbeitseinsatz gezwungen wurden, starben an Hunger und Erschöpfung.

Auf diese und andere Aussagen von Zeitzeugen und Überlebenden im Prozess bezog sich auch die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring bei ihrer Urteilsbegründung. Das Gericht geht zum ersten Mal davon aus, dass im Konzentrationslager Stutthof ein Massenmord durch lebensfeindliche Bedingungen stattfand. Bisher waren KZ-Wachleute nur wegen Beihilfe zu unmittelbaren Tötungen verurteilt worden.

Das milde, ja man muss sagen, symbolische Urteil angesichts der Größe des Verbrechens, zu dem Bruno Dey als KZ-Wachmann Beihilfe geleistet hatte, löste zwiespältige Reaktionen aus. Christoph Rückel, ein Anwalt der Nebenkläger sagte: „Das Signal der Bewährung halte ich für falsch.“ Der Nebenklagevertreter Roland Krause zeigte sich hingegen zufrieden. Seine Mandantin aus Litauen habe nicht gewollt, dass der alte Mann ins Gefängnis komme. Aber sie habe gewollt, dass die Wahrheit ans Licht komme.

Der Mehrheit der Nebenkläger in diesen späten Prozessen geht es darum aufzuzeigen, dass diese grausamen Massenverbrechen aus der Zeit der Nazidiktatur nicht verjähren und nicht vergessen werden

Mehrere Nebenkläger betonten in ihren Aussagen im Prozess, dass dieser angesichts des Wiedererstarkens von Rechtsextremismus und Faschismus in Deutschland, Europa und weltweit auch aktuelle Bedeutung habe. Es müsse angesichts des Mordes an dem hessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke in Kassel und dem Terroranschlag auf die Synagoge in Halle klar gemacht werden, dass jede rechtsextreme Tat „unerbittlich” verfolgt werde und dass sich das Grauen, das sie selbst im Konzentrationslager erlebt hatten, nicht wiederholen dürfe.

Der Frage, warum Bruno Dey erst 75 Jahre nach den ihm zur Last gelegten Taten und im hohen Alter von 93 Jahren vor Gericht gestellt wurde, ist wie in ähnlichen Fällen eine Folge des Umgangs mit den Verbrechen der Nazidiktatur in der Bundesrepublik. Der Grund liegt vor allem darin, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg nie eine wirkliche politische und juristische Aufarbeitung der zahllosen und monströsen Verbrechen der Nazis gegeben hat.

Unzählige Richter, Staatsanwälte und Beamte bekleideten nach dem Krieg in einem weitgehend nahtlosen Übergang aus der NS-Zeit weiterhin unbescholten hohe Ämter. So wurden von den etwa 6500 SS-Angehörigen des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, die den Krieg überlebt hatten, in der Bundesrepublik nur 29 verurteilt.

Zum jahrzehntelangen Schutz der SS-Leute und KZ-Schergen vor Strafverfolgung hat ein Urteil des Bundesgerichtshofs, dem höchsten deutschen Gericht für Zivil- und Strafverfahren, vom 20. Februar 1969 maßgeblich beigetragen. Darin heißt es: „Jedem einzelnen müsse ein konkreter Tatbeitrag zu einer Tötung nachgewiesen werden, nur dann sei eine Verurteilung möglich (BGH, Urteil vom 20.2.1969, 2 StR 280/67).”

Dieses Urteil ist auch deshalb besonders zynisch, weil dieser persönliche Tatnachweis aufgrund fehlender überlebender Zeugen aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern nicht erbracht werden konnte.

Auch gegen Bruno Dey wurde 1982 ermittelt, aber kein Verfahren eingeleitet.

Erst seit 2011 – also 66 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager und lange nach dem friedlichen Ableben der meisten Täter – greift in Deutschland eine andere Rechtsprechung. Seither muss man einem Täter nicht mehr eine konkrete Tat nachweisen, um ihn wegen Beteiligung an den massenhaften Morden der Nazis verurteilen zu können. Ausreichend ist irgendeine Form der Beteiligung an den Vorgängen eines Konzentrations- oder Vernichtungslagers, das seinem gesamten Zweck nach auf die Tötung der Insassen ausgerichtet war.

Diese Rechtsprechung kam zum ersten Mal in der Verurteilung des ukrainischen Wachmanns John Demjanjuk zum Tragen, der 2011 vom Landgericht München wegen Beihilfe zum Mord an 28.000 Juden im Vernichtungslager Sobibor im von der deutschen Wehrmacht besetzten Polen zu einer Haftstrafe von fünf Jahren verurteilt wurde. Eine angestrebte Revision beim Bundesgerichtshof wurde nicht mehr entschieden, weil Demjanjuk vorher in einem Pflegeheim verstarb.

Erst 2016 hat der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil des Landgerichts Lüneburg bestätigt, das den ehemaligen SS-Mann Oskar Gröning wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 300.000 Juden im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz zu vier Jahren Gefängnis verurteilt hatte.

Das höchste deutsche Gericht für Zivil- und Strafverfahren hat damit zum ersten Mal entschieden, dass jemand, der im KZ organisatorisch am Massenmord beteiligt war, der Beihilfe zum Mord schuldig sein kann, auch wenn ihm keine direkte Tatbeteiligung an einzelnen Tötungshandlungen nachgewiesen wird. Der BGH-Beschluss vom 20. September 2016 stellt klar: Wer in Auschwitz als SS-Angehöriger funktionell in den arbeitsteilig organisierten, systematischen Massenmord eingebunden war, hat Beihilfe zum Mord geleistet.

Zurzeit laufen nach Angaben der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg noch 14 Ermittlungsverfahren von deutschen Staatsanwaltschaften wegen Verbrechen in Konzentrationslagern.

Die World Socialist Web Site merkte in ihrem Artikel zum BGH-Beschluss von 2016 bereits an, dass man das Urteil des BGH nicht unkritisch betrachten sollte. Und dies nicht nur, weil der BGH sich ausdrücklich weigerte, sich von seiner früheren Rechtsprechung zu distanzieren.

„Das Urteil kommt über siebzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz zu einem Zeitpunkt, an dem es – zumindest was die Nazi-Verbrechen betrifft – kaum noch praktische Wirkung entfaltet. Wer von den Tätern heute noch lebt, ist über 90 Jahre alt. Gleichzeitig schafft es einen Präzedenzfall, der als politische Waffe bei der Verfolgung außenpolitischer Ziele eingesetzt werden kann.”

Dass es dem BGH bei der Bewertung und Verfolgung von „staatlich organisierten Massenverbrechen” nicht um die aktuellen oder zukünftigen Verbrechen des deutschen Imperialismus geht, machte er bereits im Oktober 2016 klar, als er eine Entschädigung für die Opfer des Massakers von Kundus ablehnte, bei dem 2009 über hundert Zivilisten in Afghanistan einem Luftangriff zum Opfer fielen, den ein Oberst der Bundewehr befohlen hatte.

Angesichts des Wiederauflebens des deutschen Militarismus, der Vorbereitung auf neue Kriege und monströse Verbrechen sowie der damit verbundenen Förderung faschistischer Netzwerke im Staatsapparat, der Armee und der Polizei sowie der Angriffe und Drohungen durch rechtsextreme Terrororganisationen gegen Juden, Migranten und Andersdenkende ist die dringendste politische Aufgabe der Aufbau einer internationalen sozialistischen Bewegung der Arbeiterklasse. Nur sie kann die Ursache von Faschismus und Krieg, den Kapitalismus, wirkungsvoll bekämpfen und durch eine weltweite sozialistische Gesellschaft ersetzen.

Loading