Prozess gegen ehemaligen SS-Wachmann im KZ Stutthof

Seit dem 17. Oktober letzten Jahres läuft der Prozess gegen den inzwischen 93-jährigen Bruno D., einen ehemaligen SS-Wachmann im KZ Stutthof. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Beihilfe zum Mord an mindestens 5230 Menschen vor.

Bruno D. war vom 9. August 1944 bis zum 26. April 1945 Teil der SS-Wachmannschaft im KZ Stutthof. Weil er zur Tatzeit erst 17 bzw. 18 Jahre alt war, findet der Prozess in Hamburg vor der Jugendstrafkammer statt. Im Konzentrationslager Stutthof, das etwa 40 Kilometer östlich von Danzig im heutigen Polen liegt, wurden Schätzungen zufolge etwa 65.000 Menschen von den Nationalsozialisten ermordet (siehe auch: Prozess gegen ehemaligen SS-Wachmann beginnt in Hamburg).

Von Beginn des Prozesses an spielen die Aussagen von Nebenklägern, Überlebenden des KZ Stutthof und ihrer Angehöriger eine wichtige Rolle, um die grausamen und mörderischen Zustände und die Rolle der SS-Wachleute lebhaft vor Augen zu führen.

So wurde die Aussage von Judy Meisel verlesen, die heute 90 Jahre alt ist und in den USA lebt und nicht mehr nach Deutschland reisen konnte. Sie kam als 13-jähriges Mädchen nach Stutthof, zusammen mit ihrer Mutter, die in der Gaskammer ermordet wurde. In ihrer Aussage, die von ihrem Anwalt verlesen wurde, heißt es: „Stutthof war der organisierte Massenmord der SS, ermöglicht durch Wachmänner. Sie sorgten dafür, dass keiner aus dieser Hölle entkommen konnte.“

Der Angeklagte Bruno D. erklärte in seinen Aussagen, dass er vorwiegend auf dem Wachturm des KZs seinen Dienst geleistet habe. Er habe nie von der Waffe Gebrauch gemacht. Im Unterschied zu anderen Details, an die er sich gut erinnern konnte, behauptete er, dass er sich z.B. nicht an den Geruch aus dem Krematorium erinnern könnte, in dem jeden Tag Leichen verbrannt worden waren. Von diesem Geruch sagen Überlebende der Konzentrations- und Vernichtungslager, dass man ihn sein Leben lang nicht vergessen könne.

Bruno D. behauptete auch, dass er keine Möglichkeit gesehen habe, sich dem Dienst im Konzentrationslager zu entziehen. Dem widersprach der Historiker Stefan Hördler, der wie schon in früheren Prozessen als Gutachter fungiert.

Hördler wies auch auf die Rolle der SS-Wachmannschaften hin, die eine entscheidende Voraussetzung für das Funktionieren eines Konzentrationslagers gewesen seien. Sie hätten die Aufgabe gehabt, das Lager nach außen abzuschirmen, Gefangene von der Flucht abzuhalten, sie zum täglichen Arbeitseinsatz zu führen, aber auch ankommende Züge und Selektionen zu bewachen, die für viele Betroffene unmittelbar in die Ermordung führten.

Auch die Frage, warum dieser Prozess angesichts des hohen Alters des Angeklagten so spät stattfindet, wurde von Bruno D.s Anwalt wieder aufgeworfen. Der Grund liegt vor allem darin, dass es in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg nie eine politische und juristische Aufarbeitung der zahllosen Verbrechen der Nazis gegeben hatte. Unzählige Richter, Staatsanwälte und Beamte bekleideten nach dem Krieg in einem weitgehend nahtlosen Übergang aus der NS-Zeit weiterhin unbescholten hohe Ämter. So wurden von den etwa 6500 SS-Angehörigen des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, die den Krieg überlebt hatten, in der Bundesrepublik nur 29 verurteilt.

Erst seit 2011 – also 66 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager und lange nach dem friedlichen Ableben der meisten Täter – greift in Deutschland eine andere Rechtsprechung. Seither muss man einem Täter nicht mehr eine konkrete Tat nachweisen, um ihn wegen Beteiligung an den massenhaften Morden der Nazis verurteilen zu können. Ausreichend ist irgendeine Form der Beteiligung an den Vorgängen eines Konzentrations- oder Vernichtungslagers, das seinem gesamten Zweck nach auf die Tötung der Insassen ausgerichtet war. Seither sind unter anderem der ukrainische Wachmann John Demjanjuk sowie der SS-Mann Oskar Gröning wegen tausendfacher Beihilfe zum Mord rechtskräftig verurteilt worden.

Die Bedeutung der Prozesse, die jetzt noch stattfinden, liegt vor allem darin, aufzuzeigen, dass diese grausamen Massenverbrechen aus der Zeit der Nazidiktatur nicht verjähren. Damit wird ihren Opfern wenigstens ein kleines Stück Gerechtigkeit erwiesen. Schließlich mussten auch die Überlebenden dieser Gräueltaten und ihre Angehörigen ein Leben lang mit diesen schrecklichen Erfahrungen zurechtkommen.

Im Prozess gegen Bruno D. haben auch mehrere der bisher gehörten Nebenkläger betont, dass angesichts des Widererstarkens von Rechtsextremismus und Faschismus in Deutschland, Europa und weltweit der Prozess auch eine aktuelle Bedeutung habe. So sagte der Nebenklagevertreter Christoph Rückel, dass dieses Verfahren nach den tödlichen Schüssen auf den hessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke in Kassel und dem Terroranschlag von Halle „dringend notwendig“ sei. Jede rechtsextreme Tat müsse „unerbittlich“ verfolgt werden.

Ende Oktober trat der 93-jährige Zeitzeuge Marek Dunin-Wasowicz im Prozess gegen Bruno D. in den Zeugenstand. Dunin-Wasowicz, der aus Warschau anreiste, hatte in KZ Stutthof zu den politischen Gefangenen gehört. Er hatte mit seinen Brüdern und Eltern den Widerstand gegen die deutsche Besatzung unterstützt.

Dunin-Wasowicz schilderte die grauenhaften Zustände im Lager und beschrieb, wie im Herbst 1944 Tausende Juden in das Lager transportiert wurden, gejagt und geschlagen von SS-Männern. Viele von ihnen sah man später im Lager nicht mehr, d.h. sie wurden direkt ermordet und vernichtet. Wie er berichtete, waren menschliche Leichen Alltag im Lager.

Dunin-Wasowicz beschrieb auch die Zustände in den Baracken, wo sich in Drei-Etagen-Betten drei Personen ein Bett aus Stroh teilen mussten. Hunger war allgegenwärtig. Es gab eine Scheibe Brot zum Frühstück und einen Schöpflöffel Suppe zum Mittagessen. Viele Menschen, die unter diesen Bedingungen zum Arbeitseinsatz gezwungen wurden, starben an Hunger und Erschöpfung.

Nur mit Glück überlebte Dunin-Wasowicz den Todesmarsch, zu dem ihn die Gestapo im Januar 1945 zwang, und es gelang ihm zu fliehen.

Zum Abschluss seiner Aussage sagte Dunin-Wasowicz laut spiegelonline, es sei zwar nicht angenehm, hier im Saal zu sein, aber es sei seine Pflicht. Er sei mit dem Gefühl gekommen, all jenen, die mit ihm inhaftiert waren und die in Stutthof ums Leben kamen, Ehre zu erweisen. Aber er sei auch gekommen, um laut zu sagen, dass er bis zu seinem Lebensende alles getan habe und tun werde, damit sich das, was er erlebt habe, nicht wiederhole.

„Ich habe Angst“, sagt Marek Dunin-Wasowicz, „wenn ich verfolge, was so in Deutschland, in Polen, in Frankreich und vielen anderen Ländern passiert: wenn Nationalismus und Rassismus wieder aktiv werden – und in aller Konsequenz auch der Faschismus. Deswegen komme ich. Ich will keine Rache.“

Anfang Dezember kam auch der KZ-Überlebende Abraham Koryski nach Hamburg. Der inzwischen 92 Jährige kam mit seiner Tochter und zwei weiteren Angehörigen aus Israel, um über die sadistischen Gräueltaten der SS-Leute auszusagen. Mit 16 Jahren war er im August 1944 ins Konzentrationslager Stutthof gekommen. Koryski, der aus Litauen stammt, hatte vor seiner Odyssee durch mehrere Lager nach Stutthof bereits Jahre im Ghetto in der Altstadt von Vilnius, der Hauptstadt Litauens, verbracht. Von dort aus hatten die Nationalsozialisten Tausende Juden zur Massenvernichtung nach Ponar gebracht.

Auch Koryski wurde kurz vor Ende des Kriegs zum Todesmarsch gezwungen, ohne Essen, Trinken, wärmende Kleidung oder Schuhe. Wer starb, wurde auf die Seite geschoben, die anderen mussten weiterlaufen. „Wir aßen Schnee“, sagte Koryski. Mehrfach habe er sich hingesetzt, weil er die Schmerzen nicht länger ertragen konnte. Dann stand er doch wieder auf. Schließlich befreite ihn die Rote Armee.

Abraham Koryski wollte ausdrücklich in diesem Verfahren aussagen. Er sagte: „Für mich ist es nicht einfach. Ich komme nicht aus Rache. Allerdings: Ich beschuldige, ich verzeihe nicht. Ich will, dass die Welt erfährt, was passiert ist. Alle sollen alles wissen.“ Das sei besonders wichtig für die nächsten Generationen. „Meine Rache ist meine Familie, meine Angehörigen, die hier im Saal sind“, sagte Abraham Koryski. „Sie zeigen, dass ich es geschafft habe, das alles zu überleben.“

Am letzten Freitag, den 24. Januar 2020, hat das Landgericht Hamburg eine weitere bewegende Zeugenaussage eines Überlebenden des KZ Stutthof gehört. Sie wurde von Gunnar Solberg verlesen, dem Sohn des 97-jährigen Johan Solberg aus Norwegen. Er liegt zur Zeit im Krankenhaus und ist zu krank um selbst nach Hamburg zu kommen.

Johan Solberg gehörte der Widerstandsbewegung an, die in Norwegen gegen die deutschen Besatzer kämpfte. Er wurde verhaftet und mit 44 Männern und 18 Frauen in das Konzentrationslager Stutthof gebracht. Auch er sagte, er erinnere sich noch heute an den „süßlichen Rauchgeruch“, der über dem Lager schwebte.

Solberg kam am 10. August 1944 an, und ihm bot sich ein erstes Bild des Schreckens: Etwa 15 abgemagerte Leichen lagen vor einer Baracke; während ein Mann aus ihren Gebissen die Goldzähne herausriss. Auch Solberg schildert die totale Überfüllung der Baracken. Für jüdische Gefangene sei es am Schlimmsten gewesen. Er habe jeden Tag Hunderte von Menschen gesehen, wie sie zur Gaskammer geführt wurden. Viele hätten geweint. „Alle wussten, wohin es ging.“

Weiter schilderte Solberg, wie alle Gefangenen antreten mussten, wenn einer bestraft wurde. Er habe elf Hinrichtungen erlebt. Das Schlimmste war, wie zwei russische Jungen wenige Tage nach Heiligabend 1944 direkt neben einem Weihnachtsbaum erhängt wurden.

Der Sohn berichtete, dass er in den 1970er Jahren mit seinem Vater die Fernsehserie „Holocaust“ sah und ihn fragte: „War es wirklich so schlimm?“ Der Vater antwortete: „Nein, Schlimmer.“

Johan Solberg betont in seiner Erklärung: „Ich hasse das Nazi-System, aber keine einzelnen Menschen. Rache löst keine Probleme, sie eskaliert nur neue Probleme … Ich erzähle meine Geschichte, damit diese grausamen Taten nicht vergessen werden. Lasst uns zusammen verhindern, dass sie sich je wiederholen.“

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