Der Truppenabzug der USA und die Rückkehr des deutschen Militarismus

Die USA wollen ein Drittel ihrer fast 36.000 in Deutschland stationierten Soldaten abziehen. Das kündigte Verteidigungsminister Mark Esper am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Washington an. Der Abzug war erwartet worden, hatte US-Präsident Donald Trump doch immer wieder gedroht, Deutschland auf diese Weise zu „bestrafen“, weil es nicht genug für das Militär ausgebe.

Überraschend war die Höhe der Zahl, die Esper bekanntgab. War bisher von 9.500 Soldaten die Rede, die Deutschland verlassen sollen, sind es nun 11.900. 5.600 sollen an andere Standorte in Europa verlegt und 6.400 in die USA zurückgeholt werden. Vor allem die Kommandozentralen in der Gegend von Stuttgart sind betroffen. So soll das europäische Oberkommando der US-Streitkräfte ins belgische Nato-Hauptquartier und das Kommando für Afrika-Einsätze an einen bisher nicht benannten Ort verlegt werden. Ein Kampfjetgeschwader wird aus Spangdahlem in der Eifel nach Italien und eine Radpanzer-Regiment aus dem bayrischen Vilseck in die USA verlegt.

Präsident Trump besucht US-Truppen in Deutschland, Dezember 2018 (Official White House Photo by Shealah Craighead)

Während Trump am Donnerstag den Abzug auf Twitter erneut damit begründete, dass die Deutschen mit ihrem „2%-Beitrag für die Nato“ hinterher seien, führte Esper sicherheitspolitische Gründe an. Die Verlegung der Truppen erhöhe die Abschreckung, stärke die Alliierten und diene der Rückversicherung der Verbündeten, behauptete er.

Tatsächlich ist unübersehbar, dass das Verhältnis zwischen den USA und Deutschland einen Tiefpunkt erreicht hat. Zahlreiche Spannungen und Konflikte trennen die einstigen „Partner“. Sie reichen von der Gaspipeline Nordstream 2, deren Fertigstellung die USA mit allen Mitteln hintertreiben, über wachsende Handelskonflikte, das Nuklearabkommen mit dem Iran und die internationalen nuklearen Abrüstungsabkommen bis hin zur Haltung gegenüber China – um nur die wichtigsten zu nennen.

Deutsch-amerikanische Spannungen sind nicht neu; bereits 2003 hatte es Differenzen über den Irakkrieg und 2011 über den Libyenkrieg gegeben. Doch nun haben sie eine seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr dagewesene Schärfe erreicht. Die beiden Mächte, die sich in zwei imperialistischen Weltkriegen bekämpften, stehen sich in wachsender Feindschaft gegenüber.

Bisher hatten beide Seiten vom Nato-Bündnis profitiert. Die US-Basen in Deutschland dienten als zentrale strategische Drehscheibe für die US-Kriege im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika. Über Deutschland wurden Truppen und Waffen verlegt, Operationen gelenkt und tödliche Drohnen gesteuert. Keine deutsche Regierung hat dies bisher eingeschränkt oder versucht, zu verhindern.

Auch beim Nato-Aufmarsch gegen Russland arbeiten Deutschland und die USA eng zusammen. Deutschland ist das wichtigste Aufmarschgebiet für Nato-Einheiten, die an der osteuropäischen Grenze zu Russland zum Einsatz kommen. Esper behauptet zwar, der Truppenabzug aus Deutschland ändere daran nichts, da die in die USA zurückgeholten Einheiten weiter für rotierende Einsätze in osteuropäischen Staaten bereitstünden.

Doch in Expertenkreisen wird dies bezweifelt. So schreiben der frühere deutsche Außenminister Sigmar Gabriel (SPD), der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Michael Hüther und der außenpolitische Experte der CDU Norbert Röttgen in einem gemeinsamen Gastbeitrag für den Tagesspiegel: „Die Entscheidung Washingtons beschädigt erneut die über Jahrzehnte aufgebaute Vertrauensbasis zwischen den transatlantischen Partnern, den Zusammenhalt des Westens und seine weltpolitische Wirkmächtigkeit. Autoritäre Regime und illiberale Akteure werden dies erfreut zur Kenntnis nehmen.“

Auch in den USA gibt es von demokratischer und republikanischer Seite erhebliche Kritik an den Abzugsplänen, die von Esper und Trump einseitig, ohne Abstimmung in der Nato angekündigt wurden. So erklärte der republikanische Senator Mitt Romney, ein innenparteilicher Gegner Trumps, der Abzug von US-Truppen aus Deutschland wäre „ein Geschenk für Russland“.

Viele deutsche Kommentatoren hoffen deshalb darauf, dass der Abzugsplan – der wegen der hohen Kosten der parlamentarischen Zustimmung bedarf – spätestens nach der US-Präsidentenwahl im November gestoppt wird. An den wachsenden transatlantischen Spannungen würde dies allerding wenig ändern.

In Deutschland haben vor allem Vertreter der Linkspartei sowie einige Sozialdemokraten den angekündigten Truppenabzug begrüßt. Der Gründer und langjährige Führer der Linkspartei, Gregor Gysi, kommentierte auf Twitter: „US-#Truppenabzug: Von der Strafe kann ich gar nicht genug kriegen. Wenn der #Trump nur in dieser Form straft, meinetwegen.“

Der Tweet unterstreicht, dass Gysi ein skrupelloser Zyniker ist. Wikileaks hatte bereits vor zehn Jahren aufgedeckt, dass er selbst den Militarismus unterstützt. In einer Depesche, die die Enthüllungsplattform veröffentlichte, schilderte der damalige US-Botschafter Philip Murphy einen Besuch des Linken-Politikers in der Berliner US-Vertretung. „Gesellig und in Plauderlaune“ habe ihm Gysi versichert, dass er sich keine Sorgen wegen der Haltung der Linkspartei zur Nato machen müsse, meldete Murphy nach Washington.

Nun tut Gysi so, als wäre der angekündigte amerikanische Truppenrückzug ein Beitrag zur militärischen Abrüstung. In Wirklichkeit dient er der militärischen Eskalation – sowohl von amerikanischer wie von europäischer und deutscher Seite.

Von Seiten der USA ist er Bestandteil der Verlagerung ihrer militärischen Schlagkraft in den Pazifik, die schon unter dem demokratischen Präsidenten Barack Obama begonnen hatte. Der US-Imperialismus ist nicht bereit, den Aufstieg Chinas hinzunehmen, und bereitet einen Militärschlag gegen die Nuklearmacht vor. Seit Beginn der Corona-Pandemie haben die Provokationen und Kriegsvorbereitungen gegen China massiv zugenommen.

Gleichzeitig übt Washington mit dem Teilabzug Druck auf die europäischen Nato-Mitglieder aus, ihren eigenen Beitrag zur Konfrontation mit Russland zu erhöhen und sich im Konflikt mit China hinter die USA zu stellen. In beiden Fragen gibt es vor allem mit Deutschland erhebliche Differenzen. Diese sind inzwischen derart tief, dass sie zum Auseinanderbrechen der Nato führen können.

Während Berlin beim Aufmarsch gegen Russland eine führende Rolle spielt und die Nato-Battlegroup in Litauen leitet, hält es am Bau der Nordstream-Pipeline fest, die russisches Erdgas über die Ostsee direkt nach Deutschland transportiert. Aus Berliner Sicht ist sie für die Sicherung der deutschen Energieversorgung unerlässlich. Außerdem sind bereits 12 Milliarden Euro investiert worden, die im Falle eines Stops verloren wären.

China wird in offiziellen europäischen und deutschen Papieren zwar immer häufiger als „strategischer Rivale“ bezeichnet. Doch Handelskriegsmaßnahmen, wie sie Washington forciert, lehnt Berlin bisher ab, da China für die deutsche Wirtschaft auch als Absatzmarkt von entscheidender Bedeutung ist. Die deutsche Autoindustrie, die wichtigste Industrie des Landes, macht dort Schätzungen zufolge zwischen 35 und 50 Prozent ihrer Gewinne.

Die amerikanischen Abzugspläne dienen der herrschenden Klasse in Europa und Deutschland als Vorwand, die eigenen Aufrüstungspläne zu beschleunigen. In deutschen Blättern wimmelt es von Kommentaren, die fordern, man müsse die Nato-Verpflichtung nun endlich erfüllen und die Militärausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöhen. Denn obwohl Deutschland die Militärausgaben in jüngster Zeit massiv gesteigert hat und Rüstungsprojekte in mehrstelliger Milliardenhöhe plant, liegen sie derzeit nur bei 1,38 Prozent des BIPs.

In Wirklichkeit geht es vor allem darum, militärisch unabhängig von den USA zu werden, um die eigenen imperialistischen Interessen ohne Einflussnahme der USA und auch gegen diese durchzusetzen.

Die Neue Zürcher Zeitung, die das politische Weltgeschehen aus Sicht der Schweizer Banken mit zynischer Offenheit kommentiert, schreibt dazu: „Auf den ersten Blick mag Trump das Land bestraft haben. Doch in Wahrheit eröffnet der Truppenabzug eine Chance: All jene Realpolitiker, die seit Jahren gegen die teils pazifistische, teils amerikafeindliche Mehrheitsmeinung in Deutschland anreden, sind nun zur Abwechslung im Vorteil.“

Deutschland müsse sich entscheiden, fordert die NZZ. „Will es das wohlige Gefühl bewahren, eine ‚Friedensnation‘ zu sein? Das hat bisher bedeutet, dass andere den Frieden sichern. Oder springt das Land über seinen Schatten, der über der Vergangenheit liegt, und sichert selbst den Frieden für sich und seine europäischen Partner?“

Der ehemalige SPD-Vorsitzende und Außenminister Sigmar Gabriel, der nun im Aufsichtsrat der Deutschen Bank sitzt und den Thinktank Atlantik-Brücke leitet, kam der Aufforderung sofort nach. Er warb in einem langen NZZ-Interview dafür, dass Deutschland die Rolle des „Weltpolizisten“ übernehme. Die drängendste Frage sei momentan, sagte Gabriel: „Wer ersetzt die USA im außen- und sicherheitspolitischen Umfeld Europas? Wer übernimmt diese strategische Rolle?“

Auf den Einwand der NZZ, Deutschland scheine dafür weder willens noch in der Lage zu sein, antwortete Gabriel, das liege „weniger am Unwillen der Bevölkerung als an der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Politik, über diese entscheidenden strategischen Fragen öffentlich zu sprechen“. Er glaube, „wir unterschätzen die Bereitschaft und die Fähigkeit unserer Bevölkerung, sich diesen Fragen zu stellen“.

In Wirklichkeit lehnt die überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung Krieg und Militarismus ab. Die Schrecken zweier Weltkriege und die enormen Verbrechen, die dabei begangen wurden, sind nicht vergessen. Der Ruf nach Rückkehr des deutschen Militarismus kommt ausschließlich aus der herrschenden Klasse. Konfrontiert mit einer tiefen Krise des Kapitalismus, wachsenden internationalen Spannungen und heftigen Klassengegensätzen kehrt sie zu den Mitteln von Krieg und Diktatur zurück, um ihren Reichtum und ihre Macht zu sichern.

Seit Jahre werden deshalb die Verbrechen der Nazis verharmlost, rechte Terrornetzwerke im Staatsapparat gedeckt, die AfD gefördert und die Bundeswehr aufgerüstet. Unterstützt wird das von allen im Bundestag vertretenen Parteien. Die Grünen, einst aus der pazifistischen Friedenbewegung hervorgegangen, sind zur führenden Kriegspartei geworden. Selbst die Linkspartei begeistert sich für die Bundeswehr. Ihr Fraktionsvorsitzender Dietmar Bartsch hatte bereits 2017 beim Deutschen Bundeswehrverband dafür geworben, dass Soldaten seine Partei wählen.

Die breite Opposition gegen Krieg und Militarismus braucht eine Perspektive und eine Strategie. Sie muss der Kriegstreiberei aller imperialistischen Mächte die internationale Einheit der Arbeiterklasse entgegenstellen. Sie muss den Kampf gegen Krieg mit dem Kampf gegen seine Ursache, den Kapitalismus, verbinden. Das ist die Perspektive des Internationalen Komitees der Vierten Internationale und seiner deutschen Sektion, der Sozialistischen Gleichheitspartei.

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