Schulstart im Regelbetrieb: eine „menschenverachtende Politik“

Laut den offiziell verfügbaren Zahlen fordert die Corona-Pandemie mittlerweile weltweit täglich rund 6000 Todesopfer – allein in den USA rafft das Virus jeden Tag 1000 Menschen dahin. Doch obwohl die Zahl der täglichen Neuinfektionen auch in Deutschland mit 1226 Fällen am Dienstag auf dem höchsten Stand seit drei Monaten liegt, ließ Berlins Bildungssenatorin Andrea Scheeres (SPD) die Schulen am Montag mit Präsenzpflicht im Regelbetrieb öffnen.

Gleichzeitig ließ die Berliner Landesregierung aus SPD, Linkspartei und Grünen den Mindestabstand von 1,50 Meter zum Schutz vor Ansteckung fallen. Über 370.000 Schüler der allgemeinbildenden Schulen, 87.000 Berufsschüler, sowie ihre Lehrerinnen und Lehrer kehrten damit zu Beginn der Woche ohne Maskenschutz in ihre vollen Klassen zurück.

Auch in Brandenburg, Hamburg und Schleswig-Holstein wurde der Regelbetrieb am Montag wieder aufgenommen. In Mecklenburg-Vorpommern begann er bereits letzte Woche und in Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, am gestrigen Mittwoch.

Im Februar 2019 streikten 10.000 Beschäftigte der Berliner Schulen und Kitas gegen die unhaltsamen Zustände, die nun angesichts der Corona-Pandemie fatale Folgen haben

Die rot-rot-grüne Berliner Landesregierung unter Bürgermeister Michael Müller und Bildungssenatorin Sandra Scheeres (beide SPD) bedient damit – entgegen der Bedenken seriöser Virologen – ungeniert die Forderungen der Wirtschaft: Damit die Unternehmen von der Arbeitskraft der Eltern profitieren können, müssen deren Kinder um jeden Preis in die Schulen zurück.

So heißt es denn auch in einer gemeinsamen Erklärung der Industrie- und Handelskammer (IHK), des Hotel- und Gaststättenverbands (Dehoga), des Handelsverbands und der Unternehmensverbände (UVB) vom vergangenen Samstag: „Es liegt im Interesse der Unternehmer und ihrer Mitarbeiter, dass ihre Kinder wieder verlässlich unterrichtet und betreut werden.“ Es sei, so die Wirtschaftsbosse, „höchste Zeit, dass der Regelbetrieb an den Berliner Schulen wieder startet.“

In den sozialen Medien finden derartige Aussagen und die Öffnungspolitik der Landesregierung ein empörtes Echo. Kathy, eine Berliner Lehrerin, erklärte auf Twitter: „Andauernd wird das Kindeswohl angeführt bei den Schulöffnungen, dabei geht es nur um wirtschaftliche Interessen.“ Die Forderungen der Wirtschaftsverbände, fährt sie fort, seien „unglaublich menschenverachtend“. Einer von Kathys Kollegen bemerkt: „Der UVB ist anscheinend der Verband, dem Scheeres und der Senat direkt unterstellt sind.“

Jasmin, eine Grundschullehrerin aus Berlin, sprach gegenüber der World Socialist Website über die Zustände an ihrer Schule und über die Frage, was nun zu tun sei.

Den „Plan“ der Berliner Landesregierung bezeichnet Jasmin als „vollkommen lächerlich“. In ihrem „Musterhygieneplan“ verfüge die Berliner Senatsverwaltung, „dass mindestens einmal pro Unterrichtsstunde und Pause mehrere Minuten durchgelüftet werden solle. Nur lassen sich wie vor den Sommerferien viele Fenster aus Sicherheitsgründen nicht richtig öffnen. Doch enge und schlecht belüftete Räume bieten ideale Ausbreitungsbedingungen für Covid-19.“

Twitter-Nutzer Dieter R. sieht das ähnlich. Über die scheinheilige Mahnung von Familienministerin Franziska Giffey, auf regelmäßiges Lüften in den Schulen zu achten, schreibt er: „In vielen Schulen lassen sich die Fenster gar nicht öffnen, weil sie dann herausfallen! In ganzen Gängen kann man nicht mal auf Kipp stellen! Und was nützt es überhaupt, die Fenster in einer Klasse mit 30 Kids zu kippen? Es gibt kaum frische Luft im Klassenraum und durchlüftet wird gar nicht. Das ist alles nur ein schlechtes Alibi – genauso wie die angeblichen Maßnahmen der KMK [Kultusministerkonferenz].“

Auch das regelmäßige Händewaschen und das Desinfizieren bleiben „so chaotisch wie vor den Sommerferien“, berichtet Jasmin weiter. „Unsere Schule hat nur eine Reinigungskraft für das gesamte Schulgebäude, wie schon vor der Pandemie! Für nicht mal 11 Euro pro Stunde putzt er von 10 bis 19 Uhr – nachdem er mit der letzten Toilette fertig ist, kann er wieder von vorn anfangen. Die stark verdreckten Klos und Räume sind der Graus und übersteigen seine Aufgaben. Die Waschräume werden um die Mittagszeit geputzt – das wäre aber eigentlich schon in den Vormittagsstunden notwendig. Manchmal gibt es nur ein funktionierendes Waschbecken und nur einen funktionstüchtigen Seifenspender. In den Räumen selbst wird nur einmal täglich von der Reinigungskraft der Boden gefegt.“

Die Lehrer und Erzieher, so Jasmin, müssten daher zusätzlich zu ihren bestehenden Pflichten noch Reinigungsaufgaben übernehmen. So müssten sie etwa „vor und nach jeder Hofpause“ dafür Sorge tragen, „dass die Grundschüler in den Waschräumen einzeln gründlich ihre Hände waschen“. Außerdem seien sie verantwortlich für die Desinfektion der Räumlichkeiten und Oberflächen: „In unseren Pausen müssen wir sämtliche Oberflächen nach jedem Wechsel von Klassenverbänden desinfizieren. In den Computerräumen kommt noch die Desinfektion aller Tastaturen, Mäuse und Bildschirme nach jeder Benutzung hinzu.“ Für die Putzarbeiten und Toilettenbegleitungen müssten die Lehrkräfte ihre Pausen zwischen den Unterrichtsstunden verwenden.

Ingo R., Klassenpflegschaftsvorsitzender in der Klasse seines Kindes, kritisiert gegenüber der World Socialist Website die fehlende Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schulpersonal: „Ich finde es schade, dass viele Schulleiter nicht in den Dialog mit den Eltern gehen“, sagt er. „Ich habe viele Eltern kennengelernt, die gerne dabei mitgeholfen hätten, die technischen Mittel der Arbeitswelt in die Schulwelt zu übertragen.“

Doch während viele Lehrer, Eltern und Schüler sich gegen eine Schulöffnung unter unsicheren Bedingungen wenden, setzt sich die Berliner Schulbehörde arrogant über diese Sorgen hinweg. Stattdessen verkündete Scheeres die Einrichtung eines „Hygienebeirats“, bestehend aus Ärzten, Kinderpsychologen, Eltern, Schüler und Politikern, die sich – bislang unter Ausschluss der Lehrer – in einem „Arbeitskreis“ versammeln sollen.

„Anstelle von Maßnahmen, die durch medizinische Fachleute abgesichert sind, gibt es also erst einmal einen Arbeitskreis“, stellt Sven D., ein Berliner Lehrer, auf Facebook fest. „Dann hat man nochmals Zeit gewonnen, um nichts tun zu müssen. Und damit man auch danach keine Arbeit bekommt, holt man sich nur diejenigen Gruppen in diesen Stuhlkreis, die die ‚richtigen‘ Positionen vertreten. Vor nunmehr über sechs Monaten wurde dieses Virus in Deutschland erstmals festgestellt, über 9.200 Menschen sind tot, darunter auch Schüler und Lehrer – und jetzt gründet man einen Arbeitskreis. Diese Verwaltung ist arbeitsunwillig und geht für ihre Faulheit und Inkompetenz auch über Leichen.“

Sein Kollege Andreas S. schreibt: „Wieso wird nicht seit Monaten Geld in das Schulsystem gepumpt? Nicht einmal jetzt, wo zu große Klassenstärken, kleine Klassenräume, fehlende Belüftungssysteme, fehlende Ausstattung lebensgefährlich werden?“

Wie die World Socialist Website gestützt auf die Erkenntnisse international führender Virologen und Epidemiologen wiederholt gewarnt hat, bieten die spezifischen Bedingungen, die in Betrieben und an Schulen herrschen, optimale Bedingungen für sogenannte „Superspreading“-Ereignisse. Der Virologe der Berliner Charité, Christian Drosten, sowie unzählige andere Wissenschaftler haben zudem wiederholt erklärt, dass angemessene Abstandsregeln und die Verwendung persönlicher Schutzmasken in geschlossenen Räumen unabdingbar seien, um Massenausbrüche und Ketteninfektionen mit hunderten gleichzeitigen Erkrankten zu verhindern.

Das Hygienekonzept des Senats ist nicht nur unzureichend, sondern scheitert in der Praxis auch an den Zuständen in den Schulen. „Die von der Schulbehörde betonte Kohortenbildung und Verhinderung einer Durchmischung verschiedener Klassenverbände fällt spätestens in der Nachmittagsbetreuung durch den Hort weg“, sagt Jasmin dazu. „Im Hort gibt es weder feste Gruppen noch Maskenpflicht. Selbst wenn die Erzieher für die Hortzeit die leeren Klassenzimmer benutzen, ist es gar nicht möglich, die aus dem Unterricht bestehenden Gruppenstrukturen beizubehalten, weil es nicht genug Betreuungspersonal gibt.“

Sollte in einem Klassenverband – also einer Kohorte – dann eine Infektion bekannt werden, fährt sie fort, „entscheidet nur das Gesundheitsamt über entsprechende Quarantänemaßnahmen. Bis diese Entscheidung getroffen wird, kommt nur der betroffene Schüler in Quarantäne. Alle anderen müssen normal weiter beschult werden, auch etwaige Geschwisterkinder, die über mehrere Klassen verstreut sind.“

Hinzu kommen die überfüllten öffentlichen Verkehrsmittel in der Großstadt Berlin, auf die die meisten Schüler angewiesen sind, um zur Schule zu gelangen.

Die Betroffenen reagieren entsetzt und verzweifelt auf die Entscheidungen und Maßnahmen der Schulbehörden. Laut einer Umfrage des ARD-Presseclubs betrachten 56 Prozent aller Befragten einen schulischen „Normalbetrieb ohne Abstandsregeln“ als verantwortungslos.

Bezeichnend ist ein weiterer Beitrag einer Berliner Lehrerin auf Twitter: „Diese Schule im Regelbetrieb ist eine Zeitbombe, in der jetzt für eine Weile Unterricht stattfindet“, schreibt sie. „Wenn man durch die engen Flure geht, hört man geradezu das Ticken.“

Ihre Kollegin Verena spricht offenbar für Viele, wenn sie schreibt: „Was gerade von der Politik angeordnet wird, ist absolut menschenverachtend. Auch bei leichten Krankheitsverläufen weiß noch keiner wirklich, wie die Langzeitschädigung aussieht. Letztendlich ist jeder gefährdet, angesteckt zu werden und keiner kann vorhersagen, wie der Virus tatsächlich bei jedem einzelnen wüten wird. Wenn man nur noch die ‚Bildung‘ und den Kapitalismus vor Augen hat, hat man in meinen Augen alle wichtigen Werte verloren. Außerdem ist noch nicht gewährleistet, dass man angemessene Bildung erfährt, indem man sich selbst und das Leben seiner Angehörigen in Gefahr bringt“, fügt sie ironisch hinzu.

Auch Jasmin hebt die sozialen Auswirkungen auf arme Familien und ihre Kinder besonders hervor: „Sehr viele Schüler – gerade diejenigen aus den ärmeren Familien – haben gar keine Laptops und Pads. Es liegen Lösungen und Lernkonzepte seit Jahren bereit: Mehr Sozialpädagogen und Übersetzer als Familienhilfen, kleinere Lerngruppen, mehr Räume, mehr Personal, bessere Reinigung und Ausstattung von Schulen. Schulen und Lehrer wurden kaputtgespart und werden nun ins Versuchsfeld Herdenimmunität gedrängt – mit folgenschwerem Verlauf.“

An ihre Kolleginnen und Kollegen richtet Jasmin vor diesem Hintergrund einen dringenden Appell: „Lehrkräfte sollten geschlossen den Dienst unter diesen Umständen verweigern und streiken bis ihre Forderungen nach kleineren Klassen, mehr Unterstützung auf allen Ebenen des schulischen Lebens erfüllt sind. Das umfasst auch Reinigungskräfte, Familienhelfer, Übersetzer, und weiteres Hilfspersonal. Für Kinder sollten zusätzlich kostenlose Freizeitaktionen organisiert werden und psychologische Begleitangebote geschaffen werden. Geld ist da. Besteuert die Reichen!“

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