Architekt der schwedischen Coronavirus-Politik wollte „Herdenimmunität“ durch offene Schulen

Vor zwei Tagen wurden E-Mails des schwedischen Chef-Epidemiologen Anders Tegnell bekannt, die bestätigen, dass die Behörden des Landes von Beginn der Pandemie an eine Politik der „Herdenimmunität“ verfolgten. Sie hielten die Schulen bewusst offen, um die Verbreitung des Coronavirus zu beschleunigen. Die Mails vom März 2020, die ein freier Journalist durch eine Anfrage beim Gesundheitsamt an die Öffentlichkeit brachte, sind eine vernichtende Anklage gegen die schwedischen Behörden und auch gegen die herrschende Klasse in Europa und Nordamerika, die mit demselben grundlegenden Ansatz auf Covid-19 reagiert hat.

Anders Tegnell (Quelle: Wikimedia Commons)

Die Veröffentlichung von Tegnells E-Mails kommt zur rechten Zeit. Unter Hunderttausenden von Lehrern, Schülern und Eltern in den USA und Europa regt sich bereits Widerstand gegen die lebensgefährliche Wiedereröffnung der Schulen. Die Politiker rechtfertigen diesen Kurs mit Lügen, dass Kinder weniger anfällig für die Infektion seien und das Virus mit geringerer Wahrscheinlichkeit auf andere Menschen übertragen würden.

Tegnells Korrespondenz beweist jedoch, dass die Gesundheitsbehörden schon früh wussten, dass die Schulen sich zu Zentren für Super-Spreading-Events entwickeln würden. Weit entfernt davon, eine solch katastrophale Entwicklung zu verhindern, begrüßte Tegnell sie als Möglichkeit, für die schnellstmögliche Ausbreitung des Coronavirus zu sorgen.

Als das Virus im März in Schweden ankam, lehnten die dortigen Behörden die Verhängung von Beschränkungen ab. Alle Geschäfte blieben geöffnet, und der Präsenzunterricht lief für alle Schüler der Grund- und unteren Sekundarstufe während der gesamten Pandemie weiter. Das Ergebnis war eine katastrophale Todesrate, die zu den höchsten der Welt gehört. Mit etwas mehr als 10 Millionen Einwohnern verzeichnet Schweden bisher über 5.800 Todesfälle und mehr als 85.400 Infektionen. Im Vergleich dazu hat das benachbarte Finnland, das eine strengere Sperre eingeführt hat, bisher 334 Todesfälle zu verzeichnen. Die Sterblichkeitsrate ist in Schweden mehr als neunmal so hoch wie in Finnland.

In Tegnells wohl brisantester E-Mail, die er am 13. März an seinen finnischen Amtskollegen Mika Salminen schrieb, versuchte er, den Nachbarn zu überreden, die schwedische Schulpolitik zu übernehmen. „Ein Punkt, der dafür spricht, die Schulen offenzulassen, wäre, die Herdenimmunität schneller zu erreichen“, schrieb Tegnell am 14. März an Salminen. Nachdem Salminen geantwortet hatte, dass die finnischen Behörden diese Idee ablehnten, weil Kinder das Virus verbreiten würden, antwortete Tegnell: „Richtig, aber wahrscheinlich hauptsächlich untereinander wegen der extrem altersstratifizierten Kontaktstruktur, die wir haben.“

Bei seinen täglichen Pressekonferenzen hat Tegnell stets bestritten, dass er das Ziel verfolge, „Herdenimmunität“ zu erreichen, indem die unkontrollierte Verbreitung des Virus zugelassen wird. Die E-Mails beweisen, dass dies eine Lüge war, um zu verhindern, dass sich die Öffentlichkeit gegen eine solch unmenschliche Politik zur Wehr setzt.

Nicht nur Tegnell trat für „Herdenimmunität“ ein, sondern auch weite Teile der Gesundheitsbehörden, mit denen er in Kontakt stand. Tegnell beriet sich bei der Reaktion Schwedens auf das Coronavirus mit seinem Vorgänger Johan Giesecke, der von 1995 bis 2005 als staatlicher Epidemiologe tätig war. Giesecke schrieb im März in einer E-Mail an eine schwedische Versicherungsgesellschaft: „Ich glaube, das Virus wird wie ein Sturm über Schweden hinwegfegen und praktisch jeden innerhalb von ein bis zwei Monaten infizieren. Ich glaube, dass Tausende in Schweden bereits infiziert sind... das wird alles ein Ende haben, wenn so viele infiziert und daher immun sind, dass das Virus sich nicht mehr verbreiten kann (sogenannte Herdenimmunität).“

In einer späteren E-Mail an Tegnell beklagte Giesecke, dass weiterführende Schulen und Universitäten geschlossen worden seien. „Ich denke, wir sollten die Schließungen von Schulen und Universitäten der Sekundarstufe II nach Ostern lockern. Sie spielen epidemiologisch keine Rolle, und es wäre ein Signal des Wandels zum Besseren“, schrieb er. Letztendlich wurde diese Politik im Juni umgesetzt.

Tegnells Entscheidung, die Schulen offen zu lassen, ging mit einer katastrophalen Teststrategie einher. Die schwedischen Behörden weigerten sich zunächst grundsätzlich, asymptomatische Personen zu testen. Sie versäumten es, Beschäftigte an der vordersten Front, insbesondere in der Altenpflege, in großer Zahl zu testen. Dadurch war es unmöglich, Coronavirus-Ausbrüche in Pflegeeinrichtungen schnell genug zu verfolgen. Die Menschen starben wie die Fliegen, weil unterbezahlte, prekär Beschäftigte das Virus verbreiteten: Sie sind gezwungen, an mehreren Standorten zu arbeiten, um über die Runden zu kommen.

Um sicherzustellen, dass das Gesundheitssystem unter dem Ansturm der Covid-19-Patienten nicht völlig zusammenbrach, sorgten die Behörden in Stockholm dafür, dass Personen über 80 Jahren die Behandlung de facto verweigert wurde. Es gab zahlreiche Berichte über ältere Bewohner, die man in Pflegeheimen sterben ließ, ohne dass ihnen eine Verlegung ins Krankenhaus angeboten wurde (siehe Schweden: Verzicht auf Covid-19-Maßnahmen führt zu Massensterben in Seniorenheimen.)

Wenn Regierungen jeder politischen Couleur in Europa und Nordamerika ihren Willen durchsetzen, wird sich diese furchtbare Entwicklung in den kommenden Wochen und Monaten in weit größerem Umfang wiederholen.

Zweifellos werden innerhalb der herrschenden Klasse praktisch aller Länder ähnliche Überlegungen angestellt. Sie werden wie in Schweden zu politischen Entscheidungen führen, die Tausende von Menschen zu einem frühen Tod verurteilen. Von der flapsigen Bemerkung des britischen Premierministers Boris Johnson im März, man solle am besten „einfach alles auf einmal nehmen und die Krankheit sozusagen durch die Bevölkerung wandern lassen“, über die Ankündigung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung unweigerlich infiziert werden würden, bis hin zum Verzicht von US-Präsident Trump auf jegliche Bemühungen zur Eindämmung der Pandemie haben sich die herrschenden Kreise Tegnells schwedische Strategie der „Herdenimmunität“ zu eigen gemacht.

Die Regierungen in Europa und den USA führten erst Ende März zögerlich Beschränkungen ein, vor allem aufgrund des zunehmenden Drucks der Bevölkerung. Am deutlichsten zeigte sich dieser Widerstand in spontanen Arbeitsniederlegungen in Autofabriken in ganz Nordamerika sowie durch Streiks von Automobil- und Fabrikarbeitern in Europa. In wissenschaftlichen Studien wurde nachgewiesen, dass die so erzwungenen Lockdowns Millionen von Menschenleben gerettet haben. Eine Studie des Imperial College London schätzt, dass in 11 europäischen Ländern 3,1 Millionen Menschenleben gerettet wurden.

Sobald die Regierungen jedoch die Staatskassen geplündert hatten, um Billionen in die Kassen der großen Unternehmen und Banken zu transferieren, wurde eine katastrophale Politik der vorzeitigen Wiedereröffnung der Wirtschaft in Gang gesetzt. Infolgedessen breitet sich die Pandemie jetzt weltweit im Rekordtempo aus. Die Zahl der Todesopfer ist in kürzester Zeit auf 800.000 angestiegen.

In den drei Wochen, die seit Beginn der Schulöffnungen in den Vereinigten Staaten Ende Juli vergangen sind, wurden mindestens 2.500 Lehrer, Schüler und andere Schulbeschäftigte mit dem Virus infiziert. Im ganzen Land wurden Ausbrüche an Schulen registriert. Nur sechs US-Bundessstaaten haben noch keinen Ausbruch gemeldet.

In Deutschland legen die Landesregierungen eine kalte Verachtung für das Leben von Lehrern und Schülern an den Tag. Sie treiben die vollständige Wiedereröffnung der Schulen voran, obwohl die Neuinfektionen den höchsten Stand seit April erreicht haben. In dem kleinen Bundesland Hamburg wurden in den zwei Wochen seit der Wiedereröffnung über 50 Infektionen aus Schulen gemeldet. Im benachbarten Schleswig-Holstein lehnte die Landesregierung fast alle der 2.000 Anträge von Lehrern mit Vorerkrankungen auf Befreiung vom Präsenzunterricht ab. Alle Landesregierungen haben die Abstandsregel im Unterricht aufgehoben.

Kein Land unternimmt auch nur den Versuch, Lehrern und Schülern angemessene Tests und Kontaktverfolgung anzubieten. Dabei ist erwiesen, dass die Bedingungen in den oftmals maroden Schulgebäuden ein erhöhtes Infektionsrisiko mit sich bringen.

Zwar herrscht in den Landesregierungen mit Sicherheit kein Mangel an Chaos und Inkompetenz, doch sie verfolgen damit eine bewusste Politik: die „Herdenimmunität“ durch Infektion. Wie Tegnell und seine Kollegen rechnen sich die Regierungen aus, dass den Interessen des Großkapitals und der Finanzelite am besten gedient ist, wenn man das Virus wie einen „Sturm“ durch die Bevölkerung ziehen lässt. Die Rückkehr der Kinder in die Schule wird als unerlässlich angesehen, damit die Eltern gezwungen werden, wieder zu arbeiten, um den Aktionären und den Superreichen die Taschen zu füllen. Und sollten Lehrer, Schüler und Eltern an dem Virus sterben, insbesondere diejenigen mit Vorerkrankungen, hat das in den Augen der Herrschenden den Vorteil, dass weniger Kosten im Gesundheitswesen anfallen.

Eine neue Etappe der Covid-19-Katastrophe kann nur durch das bewusste politische Eingreifen der Arbeiterklasse verhindert werden. Die skrupellosen Schulöffnungen müssen aufgehalten werden. Dazu müssen in jeder Schule, an jeder Universität und in jedem Wohnviertel Aktionskomitees gebildet werden, die einen Generalstreik vorbereiten, um die Schulöffnungen zu stoppen. Gefordert werden muss eine umfassende Aufstockung der Mittel für das öffentliche Bildungswesen, damit Kinder und Jugendliche während der Pandemie eine vernünftige Bildung erhalten. Ein wichtiger Teil dieses Kampfs besteht darin, Regierungsbeamte wie Tegnell zur Rechenschaft zu ziehen, die ihre medizinische Qualifikation und ihre Stellung im kapitalistischen Staatsapparat ausgenutzt haben, um eine Politik zu betreiben, die das Leben von Millionen arbeitender Menschen auf der ganzen Welt bedroht.

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