Massenentlassungen in brasilianischer Autoindustrie: Volkswagen will 35 Prozent der Stellen streichen

Am 19. August bestätigte Volkswagen ein Treffen mit den vier Gewerkschaften in seinen brasilianischen Werken. Der Konzern hatte sie über einen „Personalüberschuss“ im Unternehmen informiert, und über die Notwendigkeit, Pläne für eine „Umstrukturierung“ der brasilianischen Betriebe auszuarbeiten, um einen „Rückgang der Fahrzeugproduktion um 45 %“ gegenüber dem Stand von 2019 aufzufangen. Der Absatz würde sich wohl erst im Lauf von fünf Jahren wieder erholen.

Schon zuvor hatten die Gewerkschaften erklärt, dass die „überschüssige“ Belegschaft ein Drittel der insgesamt 15.000 Beschäftigten ausmache, ohne den Arbeitern weitere Einzelheiten mitzuteilen. Seither haben sie die Linie des Unternehmens, dass „Entlassungen die letzte Option“ seien, übernommen. Sie gingen auf das Angebot des südamerikanischen Volkswagen-Präsidenten Pablo Di Si ein. Dieser hatte im Juli erklärt: "In diesem Moment" müssten die Unternehmen und die Gewerkschaften „zusammen halten und alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um Zeit zu gewinnen“ und „die Kosten zu senken“.

Die Entlassungen in den Volkswagenwerken sind Teil der „Umstrukturierungen“, die die gesamte brasilianische Automobilindustrie betreffen. Allein in diesem Monat hat der Nissan-Renault-Konzern in zwei seiner Werke 1.145 von 10.000 Arbeitsplätzen gestrichen, und auch General Motors kündigte an, eine bisher noch unbestimmte Zahl seiner 15.000 Beschäftigten in Brasilien zu entlassen.

Das VW-Werk São José dos Pinhais in Brasilien [Credit: José Fernando Ogura-AEN]

Im Renault-Werk, das in der Industriestadt São José dos Pinhais im südlichen Bundesstaat Paraná liegt, werden 747 Entlassungen durch Übernahmen organisiert, die in Brasilien unter der Abkürzung PDV bekannt sind. Sie wurden von dem Unternehmen und den Gewerkschaften nach einem militanten 21-tägigen Streik verkündet, der von der Militärpolizei des Bundesstaates brutal unterdrückt wurde. Die örtliche Gewerkschaft SMC hat sich zu keinem Zeitpunkt gegen die Entlassungen gewehrt und nur so getan, als unterstütze sie den Streik, bis das Arbeitsgericht entschied, dass Renault der Gewerkschaft zunächst die Chance geben müsse, die Buyouts durchzusetzen. Im Nissan-Werk, das 2.500 Arbeiter beschäftigt, verzichtete das Unternehmen auf offizielle Verhandlungen mit der lokalen Gewerkschaft SindimetalSF und kündigte 398 Entlassungen an.

Die absichtliche Zweideutigkeit sowohl von Volkswagen als auch der Gewerkschaften hinsichtlich des tatsächlichen Inhalts ihres ersten Treffens muss den Beschäftigten als Warnung vor dienen. Offenbar droht der Belegschaft eine üble Erpressung. Sie soll gerade jetzt mit Arbeitslosigkeit und weiteren Einkommensverlusten unter Druck gesetzt werden. Die Regierung hat durch ihre kriminell fahrlässige Haltung angesichts der Covid-19-Pandemie eine wirtschaftliche Katastrophe verursacht. Die entlassenen Autoarbeiter werden in den Abgrund einer tiefen sozialen Krise gestoßen.

Brasilien hat bereits mehr als 3,8 Millionen Covid-19-Fälle und 120.000 Tote registriert. Täglich werden mehr als 40.000 neue Fälle registriert, und das Land hat im Durchschnitt mehr als tausend Todesfälle pro Tag zu beklagen.

Die Bundes- und Landesregierungen verzeichnen eine erbärmlich niedrige, auf schwere Fälle konzentrierte Testrate, weshalb sowohl die offiziellen Fall- als auch die Todeszahlen von Experten als wilde Unterschätzungen angesehen werden. Ohne dass die Pandemie auch nur annähernd unter Kontrolle ist, gehen die Kommunalverwaltungen dazu über, die Schulen wieder zu öffnen. Als letzter großer Bereich der brasilianischen Gesellschaft unterlagen sie den Einschränkungen.

Soweit Daten verfügbar sind, zeigen Untersuchungen, dass junge Arbeiter zwischen 18 und 34 Jahren 2,6-mal häufiger an Covid-19 erkranken als ihre älteren Kollegen, da sie unter unsicheren Bedingungen in schlecht bezahlten Jobs arbeiten müssen. Die erste unmittelbare Auswirkung für die Entlassenen wird sein, dass sie ihre Krankenversicherung verlieren. Nach jüngsten von El País zusammengestellten Daten sind aufgrund der völligen Überlastung des staatlichen Gesundheitswesens bereits mindestens 4.132 Menschen an Covid-19 gestorben, ohne dass ihnen überhaupt geholfen wurde.

Sie werden in einem Meer von Arbeitsuchenden schwimmen, das aus 25 Prozent der Erwerbsfähigen besteht. Dies verbirgt sich hinter einer offiziellen Arbeitslosenquote von 13 Prozent, von der das Wirtschaftsministerium selbst einräumt, dass sie nicht korrekt ist und weiter steigen wird.

Am 6. August gab das Statistische Amt Brasiliens (IBGE) bekannt, dass im zweiten Quartal 8,9 Millionen Arbeiter aus der Arbeitswelt herausgefallen seien, und dass in Brasilien zum ersten Mal die Mehrheit der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter nicht als aktiv Erwerbstätige registriert sei. Das IBGE meldete auch einen Rekordanstieg der Zahl der Teilzeitbeschäftigten um 15,7 Prozent auf über 25 Millionen.

Außerdem gibt es in Brasilien derzeit 16 Millionen Arbeiter mit ausgesetzten oder Kurzarbeitsverträgen, wobei die Löhne teilweise durch staatliche Darlehen und Entlastungsprogramme für Unternehmen gezahlt werden. Diese Unterstützungsprogramme laufen im vierten Quartal aus, ebenso wie die so genannte Nothilfe in Höhe von 600 R$ (93 Euro), die momentan noch monatlich an 42 Millionen Beschäftigte ausgezahlt wird. Für etwa ein Viertel der Bevölkerung, die als arm gilt, ist diese Nothilfe die einzige Unterstützung.

Die Absicht der Regierung, die Nothilfe-Zahlungen einzustellen, wird den Druck auf die ganze Arbeiterklasse verschärfen. In dieser Situation werden die Konzerne die Tatsache, dass Millionen zusätzlicher Arbeiter auf den Arbeitsmarkt geworfen werden, dazu nutzen, eine massive Lohnsenkung auf breiter Front durchzusetzen.

Produktionsstraße im VW-Werk São José dos Pinhais [Credit: José Fernando Ogura-AEN]

Dies ist sicherlich eine wichtige Erwägung der Autokonzerne und ihrer loyalen Diener in den Gewerkschaften und ein Hauptgrund für die geheimen Gespräche und den zweideutigen Charakter ihrer Presseerklärungen.

Die bitteren Erfahrungen vom August haben bereits gezeigt, dass die Gewerkschaften bei Volkswagen nichts tun werden, um den erneuten Arbeitsplatzabbau zu stoppen. Er gleicht wirklich eher einem Arbeitsplatz-Massaker. Von den vier VW-Werken befinden sich drei in Städten, in denen die örtlichen Gewerkschaften bereits die jüngsten Übernahmen akzeptiert haben: São José dos Pinhais, wo der erbitterte Streik von Renault verraten wurde, und Taubaté und São Bernardo do Campo (beide im Bundesstaat São Paulo), wo die Gewerkschaften in Zusammenarbeit mit GM die Buyouts durchgesetzt haben.

Eine der vier Gewerkschaften, die in São Carlos, wie auch im Bundesstaat São Paulo arbeitet, ist dem von der Arbeiterpartei (PT, Partido dos Trabalhadores) kontrollierten Gewerkschaftsbund CUT angeschlossen. Dieser hat sich an den Verrätereien der Metallarbeitergewerkschaft ABC von São Bernardo do Campo beteiligt. Aus der prominenten ABC-Gewerkschaft ist 1980 die PT hervorgegagen. Seither hat sie 40 Jahre lang den Standard für die Kollaboration der Gewerkschaft mit dem Management bei der Verteidigung kapitalistischer Profite gesetzt.

Für die gesamte Kapitalistenklasse ist die Covid-19-Pandemie eine unschätzbare Gelegenheit, langfristige Pläne zur Kostensenkung umzusetzen. Seit Beginn der brasilianischen Wirtschaftskrise im Jahr 2013 wurden die Verträge in der Automobilindustrie wiederholt ausgesetzt und verschlechtert. Zu der Zeit begannen die Gewerkschaften und die damals regierende PT, systematisch auf Bailouts für die Autokonzerne in Brasilien zu pochen. Seither sind in den letzten sieben Jahren 28.000 Arbeitsplätze in 65 brasilianischen Automobilwerken vernichtet worden, obwohl es seit 2016 Produktionssteigerung gab.

Die Vernichtung von Arbeitsplätzen ist eine direkte Folge der „Rettungspolitik“, wie sie die Gewerkschaften in Brasilien und international betreiben. Der wiederholte Ausverkauf führt das Geld ausnahmslos den langfristigen Kostensenkungsprogrammen zu, entweder indirekt als Rückzahlung von Bankkrediten, die von den Zentralbanken finanziert werden, oder direkt durch Vereinbarungen mit der Regierung, um die Unternehmen am Leben zu erhalten.

Bei Renault wurden 15.000 Arbeitsplätze abgebaut, nachdem das Unternehmen von der französischen Regierung Subventionen in Höhe von 5 Milliarden Euro erhalten hatte. In Deutschland profitierte Volkswagen von ähnlichen Maßnahmen. Die französischen und deutschen Gewerkschaften unterstützen die Rettungspakete, um die „nationale Wettbewerbsfähigkeit“ zu stärken. Nach der gleichen Logik haben die brasilianischen Gewerkschaften auf die Covid-19-Krise reagiert, indem sie sich ausschließlich darüber beklagten, dass die brasilianische Regierung im Vergleich zu Europa oder den Vereinigten Staaten nicht genug Geld an die Unternehmen weitergeleitet habe.

Zu Beginn der Pandemie beklagte sich die Opposition im Kongress, dass Bolsonaro während der Krise nicht genug Geld ausgebe. Die Opposition wird von der PT und anderen Parteien, die den Gewerkschaften nahestehen, angeführt. Dazu gehört auch die PSOL (Partei für Sozialismus und Freiheit). Als Vorbild verwiesen sie auf Donald Trumps beispiellose HIlfsprogramme für die Wall Street.

Später hat die Opposition einer Finanzspritze der Regierung in Höhe von 17 % des brasilianischen BIP an die Finanzmärkte zugestimmt und zynisch argumentiert, dass die kapitalistische Defizitpolitik unterstützt werden müsse, weil sie „die Parameter des Neoliberalismus durchbreche“. Währenddessen forderte der ehemalige PT-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (selbst ein ehemaliger Vorsitzender der ABC-Metallarbeitergewerkschaft) Bolsonaro auf, „Geld zu drucken“, um die Rettungsaktionen zu finanzieren und mehr auszugeben, als nach den Haushaltsbeschränkungen zulässig ist.

Jetzt, da die Konzerne und Regierungen in den USA und Europa weitere Programme zur Kostensenkung durchsetzen wollen, beklagen sich die brasilianischen Gewerkschaften erneut, dass Bolsonaro ihnen nicht schnell genug folge. Als Reaktion auf die Ankündigung von Volkswagen beschwerte sich der Präsident der ABC-Metallarbeitergewerkschaft einfach nur: „In Situationen wie diesen hat es immer Verhandlungsrunden zwischen Regierung, Unternehmen und Arbeitnehmern gegeben.“

Dennoch nimmt der Widerstand der brasilianischen Arbeiterklasse zu. Auf den militanten Streik bei Renault folgte ein 11-tägiger Streik der Beschäftigten von Correios (der brasilianischen Post), der die Gewerkschaft letzte Woche zwang, die Besetzung eines Verteilungszentrums in der Industriestadt Indaiatuba zu unterstützen. Die Stadt ist der Sitz von Ablegern mehrerer Großunternehmen wie Toyota, John Deere und BASF.

Ein echter Kampf gegen die Zerstörung von Arbeitsplätzen ist nur möglich, wenn die Arbeiter bewusst mit den Gewerkschaften brechen und deren nationalistische Politik der „Wettbewerbsfähigkeit“ und ihrer ständigen Rufe nach Kapitalrettungsaktionen ablehnen. Um einen solchen Bruch erfolgreich durchzusetzen, müssen Arbeiter Aktionskomitees gründen und sich mit ihren Kollegen in andern Werken, Konzernen und Ländern zusammenschließen. Sie müssen sich an die Arbeiterklasse in Deutschland, Frankreich, den Vereinigten Staaten und auf der gazen Welt wenden, die den gleichen Angriffen derselben transnationalen Konzerne ausgesetzt und mit einem ähnlichen Verrat der Gewerkschaften konfrontiert sind.

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