Deutschland und Frankreich verhängen wegen angeblichem Giftanschlag auf Nawalny Sanktionen gegen Russland

Im Vorfeld des für den 12. Oktober geplanten EU-Gipfels hat die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) einen Bericht veröffentlicht, laut dem der russische Oppositionspolitiker Alexei Nawalny mit einer Nowitschok ähnlichen Substanz vergiftet wurde. Es handele sich um eine als Cholinesterasehemmer wirkende Chemikalie, die selbst nicht auf der OPCW-Liste verbotener Substanzen stehe, solchen Stoffen in ihrer Struktur aber ähnlich sei.

Alexei Nawalny (Quelle: Alexei Juschenkow, CC-BY-SA-3.0, via Wikimedia Commons)

Der Bericht der OPCW bildete die Grundlage für eine Erklärung der Außenminister von Frankreich und Deutschland, laut welcher der Kreml keine zufriedenstellende Antwort auf den Angriff „auf einen russischen Oppositionspolitiker, auf russischem Boden, mit einem militärischen Nervenkampfstoff, der von Russland entwickelt wurde“ geliefert hat. Laut der Erklärung gibt es „keine andere plausible Erklärung für Nawalnys Vergiftung als eine Beteiligung und Verantwortung des russischen Staats“.

Bundesaußenminister Heiko Maas drohte: „Klar ist, dass dann, wenn die Vorgänge nicht aufgeklärt und die dafür notwendigen Informationen nicht zur Verfügung gestellt werden, zielgerichtete und verhältnismäßige Sanktionen gegen Verantwortliche auf russischer Seite unvermeidlich sein werden. Russland täte gut daran, es nicht so weit kommen zu lassen.“

Laut der französischen Tageszeitung Le Monde wird die EU am Montag über Sanktionen gegen neun hohe russische Regierungsvertreter diskutieren, darunter Mitglieder des Präsidentenstabs und des Sicherheitsapparats.

Russische Regierungsvertreter reagierten auf den Bericht der OPCW und die Erklärungen aus Berlin und Paris mit ärgerlichen Zurückweisungen. Der russische Botschafter bei der OPCW Alexander Schulgin erklärte: „Russland schuldet niemandem etwas, weder Deutschland noch anderen Ländern, die ihm kategorisch und grundlos einen Giftanschlag auf Alexei Nawalny unterstellen. Wir müssen uns ihnen gegenüber nicht erklären und werden es auch nicht.“

Das russische Außenministerium bekräftigte seine Forderungen, die Testanalysen und Befunde des Bundeswehrlabors in München vorgelegt zu bekommen. Russlands Außenminister Sergei Lawrow erklärte: „Wir sind überrascht, dass die EU ohne Gerichtsverfahren und ohne Ermittlungen agiert. Sie fordern von uns eine Untersuchung, aber gleichzeitig liefert uns Deutschland keine Fakten.“ Anfang der Woche erklärte die Sprecherin des Außenministeriums Marija Sacharowa, es werde keine „Rückkehr zur Tagesordnung“ zwischen Berlin, Paris und Moskau geben, solange Frankreich und Deutschland im Fall Nawalny nicht ihre Haltung ändern.

Keine der Verlautbarungen der OPCW und der imperialistischen Mächte darf für bare Münze genommen werden. Die OPCW ist dafür berüchtigt, Vorwände für politische und militärische Interventionen der imperialistischen Mächte zu liefern. Im Jahr 2018 fälschte sie einen Bericht, um zu behaupten, der syrische Präsident Baschar al-Assad habe im Bürgerkrieg Chemiewaffen eingesetzt, obwohl ihr eigenes Personal gegenteilige Beweise gefunden hatte. Diese Behauptung diente als Vorwand für die Luftangriffe Frankreichs, Großbritanniens und der USA auf Syrien.

Der angebliche Nowitschok-Anschlag auf Nawalny wirft zahlreiche unbeantwortete Fragen auf. Die wichtigste und naheliegendste ist, wie Nawalny den Kontakt mit einem besonders tödlichen Nervenkampfstoff überlebt hat, und warum niemand, der mit ihm in Kontakt gekommen ist, auch nur schwache Symptome gezeigt hat. Als im Jahr 2018 der ehemalige russische Agent Sergei Skripal und seine Tochter in Salisbury mutmaßlich mit Nowitschok vergiftet wurden, starb mindestens eine Person. Eine weitere ist wegen minimalem Kontakt mit dem Gift schwer erkrankt. Ganze Gebäude mussten evakuiert werden.

In Nawalnys Fall hat jedoch keine einzige Person, die an Bord des Flugzeugs von Tomsk nach Moskau war, irgendwelche Symptome gezeigt. Auch keiner seiner Angestellten wies Symptome auf – nicht einmal diejenigen, die eine Flasche aus seinem Hotel sichergestellt hatten, in dem sich laut Bundeswehrlabor angeblich das Nowitschok befand.

Leonid Rink, einer der Entwickler des Kampfstoffs Nowitschok, erklärte in der russischen Presse, die von der OPCW gefundenen Substanzen seien nicht giftig und als Gift unwirksam.

In einem bizarren zweistündigen Interview mit dem russischen YouTube-Blogger Juri Dud' verglich der mittlerweile vollständig genesene Nawalny die Vergiftungserscheinungen und das Gefühl zu sterben mit den Auswirkungen der „Dementoren“ in den Harry-Potter-Romanen. Er und seine Frau konnten keine Details seiner angeblichen Vergiftung beschreiben, ohne ständig Romane und Filme als Vergleich zu benutzen.

Als Dud' ihn fragte, warum er glaube, Putin habe persönlich seine Vergiftung angeordnet, betonte Nawalny, dass der Einsatz von Nowitschok Putins direkte Beteiligung beweise. In Wirklichkeit gibt es noch viele andere Regierungen und Geheimdienste, die Nowitschok produzieren und einsetzen können – wenn es überhaupt angewandt wurde. Bisher wurden keine Beweise für eine russische Beteiligung vorgelegt, geschweige denn für Putins persönliche Verantwortung.

Nawalnys Frau Julia Nawalnaya erklärte im gleichen Interview, sie wisse nahezu nichts über die Beteiligung der deutschen und der französischen Regierung an Nawalnys Verlegung in die Berline Charité. Sie erklärte, die von ihr geschaffene Publicity sei der entscheidende Grund gewesen, warum die Verlegung möglich wurde. Tatsächlich wurde seither bekannt, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits früh persönlich eingegriffen und sich für Nawalnys Verlegung nach Deutschland stark gemacht hatte. Berichten zufolge hat sie ihn später auch im Krankenhaus besucht und täglich Berichte über seinen Zustand erhalten.

Kein anderes Land hat den angeblichen Giftanschlag auf Nawalny so aggressiv ausgenutzt wie Deutschland. Ein Großteil des politischen Establishments hat den Vorfall benutzt, um auf eine aggressivere Haltung Berlins und der ganzen EU gegenüber Russland zu drängen. In einem Interview mit der Bild-Zeitung bezeichnete Nawalny den ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, der enge Beziehungen zu dem staatlichen russischen Erdgaskonzern Gasprom unterhält, als „Putins Laufburschen“. Ferner forderte er einen Baustopp der fast fertiggestellten Pipeline NordStream2, über die russisches Gas direkt nach Deutschland geleitet werden soll, und Sanktionen gegen Angehörige der herrschenden Elite Russlands.

Nawalnys Fall muss im Kontext des Kriegskurses der imperialistischen Mächte angesichts der tiefen Krise des Kapitalismus betrachtet werden, die von der Pandemie, der wachsenden sozialen Ungleichheit und den erbitterten geostrategischen Spannungen verschärft wird. Die aggressive Haltung der EU gegenüber Russland wird nicht zuletzt von wachsenden Klassengegensätzen in Europa und der eskalierenden Pandemie angetrieben. Zudem haben sich in den letzten Jahren Spannungen zwischen den USA und der EU aufgebaut.

Vor diesem Hintergrund versuchen die europäischen imperialistischen Mächte, die zunehmende wirtschaftliche und politische Schwäche der postsowjetischen kapitalistischen Oligarchie in Russland auszunutzen. In den letzten Monaten kam es zu Massenprotesten und Streiks gegen das Regime von Alexander Lukaschenko in Belarus, der einzigen Regierung an der russischen Westgrenze, die noch nicht direkt auf der Seite der Nato steht. Die EU, allen voran Deutschland und Frankreich, hat versucht, die Nato-nahe Opposition in Minsk zu stärken, um die Streiks abzulenken sowie zu unterdrücken und Russlands geopolitische Stellung weiter zu schwächen.

Im Kaukasus tobt ein von religiösen und ethnischen Spaltungen aufgeladener Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan, der auf den russischen Nordkaukasus übergreifen könnte. In der ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepublik Kirgisistan wurde die Regierung von Sooronbai Dscheenbekow von Oppositionsparteien gestürzt, die die bisherige enge Kooperation der Vorgängerregierung mit Russland als Verstoß gegen die nationale Souveränität verurteilten.

Gleichzeitig wurde das Putin-Regime auch durch die Corona-Pandemie weiter geschwächt, auf die die russische Oligarchie – genau wie die herrschenden Klassen im Rest der Welt – faktisch mit einer Politik der „Herdenimmunität“ reagieren. Während Russland ein Wiederaufleben der Pandemie droht, bereitet Moskau weitere Kürzungen im Gesundheitswesen und bei den Sozialausgaben vor und hat erklärt, es werde keine Lockdowns verhängen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen.

Angesichts dieser zunehmenden Instabilität versuchen die imperialistischen Mächte, Alexei Nawalnys rechte Opposition zu stärken. Nawalny ist berüchtigt für seine Beziehungen zu rechtsextremen und regionalistischen Kräften in Russland. Die imperialistischen Mächte wollen damit ihre geopolitischen Interessen in der ehemaligen Sowjetunion vorantreiben und zuverlässige rechte Verbündete aufbauen, die zuverlässige Partner bei der Unterdrückung des Widerstands der Arbeiterklasse gegen das Putin-Regime, aber auch gegen das kapitalistische System an sich sind.

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