EU-Gipfel in der Sackgasse: Johnson sagt Brexit-Verhandlungen ab

Nach den Gesprächen auf dem EU-Gipfel vom Donnerstag wiederholte der britische Premierminister Boris Johnson mit einem Schwall militanter Rhetorik seine Drohung, die Verhandlungen über den Brexit zu beenden.

In einer am Freitag im Fernsehen übertragenen Erklärung warf Johnson der EU vor, sich ernsthaften Verhandlungen zu verweigern. Er sagte, Großbritannien müsse sich auf ein „Abkommen nach australischer Art“ vorbereiten: einen harten Brexit mit Handelsbeziehungen zu den Bedingungen der Welthandelsorganisation.

Über Brüssel erklärte Johson: „[Die EU] möchte weiterhin in der Lage sein, unsere gesetzgeberische Freiheit und unsere Fischerei in einer Weise zu kontrollieren, die für ein unabhängiges Land völlig inakzeptabel ist.“ Das Vereinigte Königreich werde sich „für die Alternative entscheiden“ und „als unabhängige Freihandelsnation, die ihre eigenen Grenzen sowie ihren Fischereisektor kontrolliert und ihre eigenen Gesetze macht, prächtig gedeihen“.

Premierminister Boris Johnson unterzeichnet das Austrittsabkommen, mit dem Großbritannien am 31. Januar die EU verlassen hat. [Quelle: britischer Premierminister]

Kurz darauf erklärte der Sprecher des Premierministers: „Die Handelsgespräche sind zu Ende. Die EU hat sie praktisch beendet, indem sie erklärte, sie wolle ihre Verhandlungsposition nicht ändern.“ Dies bezog sich auf das Kommuniqué des Brexit-Gipfeltreffens, in dem es lediglich hieß, Großbritannien müsse „die notwendigen Schritte unternehmen, um eine Einigung zu ermöglichen“. Außerdem ließ die EU die zuvor geplante Forderung nach einer „Intensivierung“ der Gespräche fallen. Später am Abend sagte der britische Brexit-Verhandlungsführer David Frost seinem EU-Kollegen Michel Barnier, er solle nicht wie geplant am Montag nach London kommen, fügte aber hinzu, er werde stattdessen irgendwann Anfang nächster Woche Gesprächen zustimmen.

Johnson verfolgt eine zynische und waghalsige Politik. Quellen innerhalb der EU teilten dem Guardian mit, dass Downing Street den Neuentwurf gesehen habe, bevor er veröffentlicht wurde, und machten ihre Überzeugung deutlich, dass der Premierminister politisches Theater spiele. Die Financial Times berichtet: „Tory-Abgeordnete vermuten seit Langem, dass der Premierminister eine Art politische ,Krise‘ organisieren wird, bevor er Zugeständnisse macht, um eine Einigung zu erzielen.“

Johnsons Streitlust steht in umgekehrtem Verhältnis zur Schwäche seiner Position – und sowohl er als auch die EU-Spitzenpolitiker sind sich dessen bewusst. Am Dienstag spottete Barnier über Johnsons Bemühungen, dem bevorstehenden Gipfel eine „dritte einseitige Frist“ für ein Brexit-Abkommen vorzuschreiben. Johnsons gestrige Erklärung enthielt das Angebot, „mit unseren Freunden die praktischen Einzelheiten zu besprechen, wo bereits viele Fortschritte erzielt wurden...“ und wo die Gespräche zwischen beiden Seiten nicht bereits eingestellt wurden. Mehrere Zeitungen beriefen sich auf Quellen aus dem Vereinigten Königreich und der EU, die andeuten, eine Einigung sei in Sicht.

Hier kommen vielfältige politische Kalkulationen zusammen. Der Brexit ist ein Knotenpunkt der eng miteinander verbundenen innenpolitischen Krisen Großbritanniens, der EU-Staaten und der USA sowie der zunehmenden geopolitischen Spannungen zwischen ihnen.

Johnsons nationalistische Beteuerungen repräsentieren die bevorzugte Politik seiner Partei und mehrerer wichtiger Brexit-Unterstützer unter den Konservativen – doch seine Weigerung, die Gespräche abzubrechen, wurde von der City of London und der Mehrheit der britischen Wirtschaft befohlen. Hunderte Milliarden Pfund stehen bei einem „No-Deal“ oder einem harten Brexit auf dem Spiel, weil dann die Einführung von Zöllen und Zollkontrollen sowie die Verlagerung von Lieferketten die britische Wirtschaft ins Wanken bringen würde. Die regierungseigenen Zahlen deuten im Falle eines No-Deals auf einen Rückgang des BIP um 7,6 Prozent über 15 Jahre hin und einen Rückgang um 4,9 Prozent bei einem harten Brexit mit Freihandelsabkommen.

Der Brexit-Beauftragte der EU-Kommission, Michel Barnier (rechts), mit dem Europa-Berater des britischen Premierministers, David Frost, während ihrer Gespräche in Brüssel. (Olivier Hoslet. Pool-Foto über AP, Datei)

Unter diesen Bedingungen ist das Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs selbst eine ernstzunehmende Möglichkeit. Schottland hat sich entschieden gegen den Brexit ausgesprochen, und diese Unzufriedenheit beutet die Scottish National Party (SNP) für ihre Kampagne für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum aus. Die SNP-Vorsitzende Nicola Sturgeon erwiderte auf Johnsons Erklärung: „Ich fühle mich angesichts der Aussicht, dass kein Abkommen zustande kommt, zutiefst frustriert und deprimiert.“

Die Diskussionen über die Zollgrenzen drohen auch auf beiden Seiten der irischen Grenze eine Krise zu entfachen, und sie könnten die Aufkündigung des Karfreitagsabkommens riskieren.

Johnson plante, diese Verluste durch ein engeres Bündnis mit dem US-Imperialismus auszugleichen – wirtschaftlich durch ein präferenzielles Freihandelsabkommen und militärisch durch eine verstärkte Beteiligung an den Kriegsvorbereitungen gegen den Iran, China und Russland. Im Rahmen eines Amerikas unter der Führung von Präsident Donald Trump (der sich im Zusammenhang mit seinem Programm „America First“ auch schon als „Mr. Brexit“ bezeichnet hat) wird von Großbritannien erwartet, dass es einen harten Bruch mit der EU vollzieht und ihr einen politischen und wirtschaftlichen Schlag versetzt.

Die US-Präsidentschaftswahlen drohen jedoch, diese Strategie zunichte zu machen. Die US-Demokraten haben die britische Regierung darauf hingewiesen, dass eine Biden-Regierung einen solchen Bruch missbilligen würde, so dass das Vereinigte Königreich im Regen stehen könnte. Die von der Demokratischen Partei vertretenen Teile der amerikanischen herrschenden Klasse halten an der traditionellen Position des US-Imperialismus fest, dass Großbritannien als pro-amerikanisches Gegengewicht zu Deutschland und Frankreich in der EU oder zumindest so nah wie möglich an der EU bleiben sollte.

Sie sind auch besorgt, dass ein Scheitern des Nordirland-Abkommens die beträchtliche irisch-amerikanische Lobby verärgern und die lukrative Beziehung zwischen großen US-Unternehmen und der Republik Irland, die als Investitionsplattform für den europäischen Markt genutzt wird, gefährden würde.

Während eines Besuchs in den USA im September dieses Jahres wurde der britische Außenminister Dominic Raab von führenden Funktionären der Demokraten strengstens gemaßregelt. Die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, sagte nach einem Treffen mit Raab: „Wenn Großbritannien gegen seine internationalen Vereinbarungen verstößt, und der Brexit das Karfreitagsabkommen untergräbt, gibt es keinerlei Aussicht darauf, dass das Freihandelsabkommen zwischen Großbritannien und den USA den Kongress passiert.“ Diese Überzeugung wurde vom Präsidentschaftskandidaten der Demokraten, Joe Biden, wiederholt.

In einer Vielzahl von Kommentaren wird jetzt in den Medien diskutiert, ob ein harter Bruch mit der EU wirtschaftlicher und diplomatischer Selbstmord wäre. Der ehemalige Tory-Schatzkanzler und führende „Remain“-Vertreter der Tories, George Osborne, schrieb im Evening Standard: „Unter einem Präsidenten Biden müsste Boris Johnson vom Brexit-Clan abrücken.“ Sogar der Telegraph, der für einen Brexit eintritt,warnte: „Ein Sieg Bidens wäre für Boris katastrophal.“

Das volle Ausmaß der Krise für Downing Street wird in einem Artikel der Times mit dem Titel „Eine in Panik geratene Nummer 10 lässt Donald Trump fallen und umwirbt Joe Biden“ aufgezeigt. Darin heißt es, dass Johnsons wichtigster Berater und einer der Architekten des Brexit, Dominic Cummings, den Tory-Abgeordneten jetzt befiehlt, eine gewisse Distanz zu Trump einzunehmen und eine Charmeoffensive gegenüber Biden zu starten.

Die wirtschaftliche und politische Zerrüttung durch einen harten Brexit – zusätzlich zu den Auswirkungen der wiederauflebenden Coronavirus-Pandemie – würde die sozialen Spannungen sowohl im Vereinigten Königreich als auch in der EU um ein Vielfaches verschärfen.

Jeder Schritt in Richtung eines Abkommens zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU ist jedoch nach wie vor mit Schwierigkeiten für die beteiligten nationalen herrschenden Klassen verbunden. Je näher das Vereinigte Königreich einer Zustimmung zu den Bedingungen kommt, desto ausgeprägter werden die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Blocks über den Charakter dieser Bedingungen. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel bestand nach der Brexit-Diskussion auf dem EU-Gipfel schnell darauf, dass auch die EU Kompromisse werde machen müssen und rief Großbritannien auf, die Gespräche nicht abzubrechen. Der Französische Präsident Emmanuel Macron verfolgt eine viel härtere Linie.

Macron ist beunruhigt darüber, dass der Brexit und etwaige Zugeständnisse in Bezug darauf dem rechtsextremen Rassemblement National von Marine Le Pen zusätzlichen Auftrieb geben könnten, sodass die Partei als vermeintliche Verteidigerin der französischen Bauern und Fischer auftreten könnte. Frankreich rechnet auch damit, von einer Verlagerung des Finanzhandels von der City of London zu profitieren. Darüber hinaus würde seine Position in Bezug auf Deutschland gestärkt, sowohl hinsichtlich seines wirtschaftlichen als auch seines militärischen Gewichts in der EU. Aus den umgekehrten Gründen ist Deutschland eher bestrebt, eine möglichst enge Beziehung zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU aufrechtzuerhalten.

In welcher Form auch immer – der Austritt Großbritanniens wird das Verhältnis zwischen diesen beiden wichtigen europäischen Mächten und damit die geopolitische Landschaft der EU dramatisch verändern. Die Fähigkeit Frankreichs und Deutschlands, eine relativ stabile politische Achse für Europa zu bilden, hing weitgehend davon ab, dass beide Länder Großbritannien als einen (wenn auch unzuverlässigen) Verbündeten für die Entwicklung der Union, gegen das jeweils andere Land, zu gewinnen suchten. Das dritte Bein unter diesem diplomatischen Hocker tritt der Brexit nun weg. Ohne den dämpfenden Einfluss Großbritanniens werden Konflikte zwischen den beiden führenden Staaten der EU explosiver werden, und zwar unter Bedingungen, unter denen sich bereits Spannungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten über die Einzelheiten des Coronavirus-Rettungsplans aufbauen.

Keins der möglichen Brexit-Ergebnisse stellt eine progressive Alternative für die britische und europäische Arbeiterklasse dar. Der ganze Kuhhandel der Vertreter der herrschenden Elite gründet sich auf einen verheerenden Angriff auf den Lebensstandard der Arbeiter, um die Schulden ausgleichen zu können, die durch die massiven Rettungsaktionen für die Unternehmen während der Pandemie entstanden sind. Die Differenzen zwischen den imperialistischen Mächten drehen sich im Wesentlichen darum, wie dieser Angriff am besten geführt werden kann. Für die europäische Arbeiterklasse besteht der einzige Weg, ihre eigenen unabhängigen Interessen zu verteidigen, darin, die verschiedenen nationalistischen Programme ihrer jeweiligen herrschenden Klassen zurückzuweisen und den Kampf für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa aufzunehmen.

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