Brexit-Krise: Britischer Premierminister torpediert Abkommen mit der EU

Am Donnerstag vergangener Woche endete eine weitere Brexit-Verhandlungsrunde zwischen Großbritannien und der Europäischen Union (EU) ergebnislos. Die konservative Tory-Regierung unter Premierminister Boris Johnson plant einen offenen Verstoß gegen das Austrittsabkommen, das vor weniger als einem Jahr geschlossen wurde.

Zuvor hatten die Tories am Mittwoch das sogenannte Binnenmarktgesetz angekündigt, das nach Angaben der Regierung „Arbeitsplätze und Handel“ in Großbritannien schützen soll, sobald das Land Ende des Jahres die EU verlässt. Das Gesetz, das dem Parlament in London diese Woche vorgelegt werden soll, „wird die britische Regierung dazu ermächtigen, Schottland, Wales und Nordirland mit neuen Befugnissen zur Nutzung von Steuergeldern auszustatten, die zuvor von der EU verwaltet wurden“.

Mit diesem Schritt torpediert die Johnson-Regierung gezielt die Verhandlungen mit der EU und verstößt gegen die Klauseln des Nordirland-Protokolls. Dieses Protokoll ist Bestandteil des Brexit-Gesetzes, das letzten Dezember nach dem Wahlsieg Johnsons verabschiedet wurde. Das Austrittsabkommen selbst war nach drei Jahren quälender Verhandlungen zustande gekommen, die zum Sturz von Johnsons Vorgängerin Theresa May geführt hatten. May wollte eine „harte“ Handelsgrenze mit Irland verhindern. Der damalige Kompromiss sah vor, dass Nordirland zu wesentlichen Teilen im Binnenmarkt der EU verbleibt und gleichzeitig Teil des britischen Zollgebiets ist. Zollkontrollen sollten auf hoher See stattfinden.

Premierminister Boris Johnson unterzeichnet am 31. Januar das Rückzugsabkommen für den Austritt Großbritanniens aus der EU. [Credit: UK Prime Minister]

Nach Johnsons neuem Gesetzentwurf können die britischen Behörden Zollkontrollen für Waren, die aus Nordirland nach Großbritannien eingeführt werden, auch völlig ausschließen. Die EU hält dem entgegen, sie müsse in diesem Fall Zollkontrollen an der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland (EU-Mitglied) einführen – was durch das Austrittsabkommen verhindert werden sollte. Außerdem macht Johnsons Gesetzentwurf der EU das Mitspracherecht bei britischen Staatshilfen mit Auswirkungen auf Nordirland streitig.

Im Gesetzentwurf wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Johnsons Vorhaben gegen das Völkerrecht verstößt. Nach seinem Wortlaut gelten die Bestimmungen „ungeachtet des Völkerrechts sowie innerstaatlicher Gesetze, mit denen sie möglicherweise unvereinbar sind oder in Widerspruch stehen“. An anderer Stelle heißt es: „Bestimmungen [des Gesetzentwurfs] sind nicht als rechtswidrig anzusehen, wenn sie geltendem internationalen oder innerstaatlichen Recht widersprechen.“

Dieser offenkundige Verstoß gegen das Brexit-Gesetz führte am Dienstag vergangener Woche zum Rücktritt von Jonathan Jones, dem Vorsitzenden der Rechtsabteilung der Regierung. Vor den Gesprächen mit der EU letzten Mittwoch antwortete der nordirische Minister Brandon Lewis, als er im Parlament zur Rechtmäßigkeit von Änderungen eines verbindlichen internationalen Vertrags befragt wurde: „Ja, bis zu einem gewissen Grad verstößt das tatsächlich gegen das Völkerrecht.“

Nachdem die EU gewarnt hatte, sie werde rechtliche Schritte gegen das Vereinigte Königreich einleiten, sollte Johnson an dem Binnenmarktgesetz festhalten, verschärften sich die Spannungen zusehends.

Auch in zwei anschließenden Gesprächsrunden konnte keine Einigung erzielt werden. Der britische Staatsminister und eingefleischte Brexit-Befürworter Michael Gove führte ein Notfallgespräch mit dem EU-Kommissar Maroš Šefčovič, während sich David Frost, der britische Chefunterhändler für den Brexit, mit seinem EU-Pendant Michel Barnier traf.

Gove erklärte, Šefčovič habe „das Vereinigte Königreich dazu aufgefordert, das Binnenmarktgesetz zurückzuziehen. Ich habe erklärt (…), dass wir das nicht tun können und auch nicht tun würden, und betonte stattdessen, wie wichtig es ist, über den Gemeinsamen Ausschuss eine Einigung zu erzielen.“

Die EU erwartet von Großbritannien, dass das Gesetz innerhalb von drei Wochen zurückgezogen wird. In einer Erklärung der Europäischen Kommission heißt es: „Ein Verstoß gegen die Bestimmungen des Austrittsabkommens wäre ein Verstoß gegen das Völkerrecht, es untergräbt das Vertrauen und gefährdet zukünftige Verhandlungen über die Beziehung zwischen der EU und Großbritannien.“

Johnsons Tory-Regierung behauptet hingegen, das Binnenmarktgesetz sei erforderlich, um das Karfreitagsabkommen von 1998 zu schützen, das die seit den 1960er Jahren von Gewalt geprägte Phase des Nordirlandkonflikts beendete. Doch die EU akzeptiert das Argument nicht, das Gesetz würde dem Schutz des Abkommens dienen. „Vielmehr sind wir der Ansicht, dass das Gegenteil der Fall wäre“, heißt es in der Erklärung der EU-Kommission.

Šefčovič zufolge habe die EU-Kommission „die britische Regierung daran erinnert, dass das Austrittsabkommen bestimmte rechtliche Mechanismen und Rechtsmittel beinhaltet, um Vertragsverletzungen entgegenzuwirken – und die Europäische Union wird nicht davor zurückschrecken, diese anzuwenden.“

Die Gespräche zu Handelsfragen endeten laut den Brexit-Unterhändlern Frost und Barnier ohne nennenswerte Fortschritte. Die sieben bereits vorangegangenen Verhandlungen waren ebenfalls ergebnislos geblieben.

Gegner des Brexits üben zunehmend Druck aus, ein finales Abkommen vorzulegen. Selbst einige Tories, die den Austritt Großbritanniens aus der EU befürworten, warnen, Johnsons Politik sei ein Spiel mit dem Feuer.

Drei ehemalige Premierminister – Sir John Major und Theresa May von den Konservativen sowie Labour-Mitglied Gordon Brown – warnten, Großbritannien könnte in zukünftigen Verhandlungen einen schweren Stand haben und dafür geächtet werden, internationale Abkommen zu brechen. Brown erklärte am Freitag, mit dem Bruch des Abkommens würde sich Großbritannien „selbst großen Schaden zufügen“ und in einen „jahrelang andauernden Kampf mit Europa“ stürzen.

In einem Artikel mit dem Titel „Die Rechtsstaatlichkeit Großbritanniens steht auf dem Spiel“ schrieb die Financial Times am Mittwoch vergangener Woche, dass „Mitglieder der Konservativen Partei, die Bedenken hinsichtlich des Abkommens geäußert haben, sich möglicherweise auf die Seite der Opposition [im Parlament] schlagen müssen, damit die entscheidenden Passagen des Binnenmarktgesetzes gestrichen werden.“

Solche Aussagen, die den Eindruck erwecken, Großbritannien habe sich bisher an das Völkerrecht gehalten, ignorieren die schmutzige Bilanz des britischen Imperialismus, einschließlich der völkerrechtswidrigen Invasionen Afghanistans und des Iraks. Gleichzeitig zeugen sie von der enormen Besorgnis der herrschenden Klasse über die zunehmenden Spannungen, die durch den Brexit weiter verschärft werden und die Position Großbritanniens in der Welt gefährden.

Johnson verfügt über eine Parlamentsmehrheit von 80 Abgeordneten und weiß eine treue Pro-Brexit-Anhängerschaft hinter sich. Wenn es diese Woche zur Abstimmung über die Gesetzesvorlage kommt, droht ihm keinerlei Rebellion im britischen Parlament. Maximal 30 Abgeordnete dürften bereit sein, gegen das Vorhaben der Regierung zu stimmen. Ein ehemaliger Minister der Tories, Sir Bob Neill, hat einen Änderungsantrag eingebracht, der von Theresa Mays ehemaligem stellvertretenden Premierminister Damian Green unterstützt wird. Demnach sollen diejenigen Regelungen des Binnenmarktgesetzes, die Teile des Austrittsabkommens untergraben, zunächst ausgesetzt werden. Über das Datum ihres Inkrafttretens soll im Unterhaus separat abgestimmt werden.

Am Freitagabend rief Johnson die Abgeordneten der Konservativen Partei dazu auf, die Gesetzesvorlage zu unterstützen. Zur Zuspitzung dieser innenpolitischen Krise haben nicht nur die Brexit-Verhandlungen beigetragen, sondern auch die hohe Zahl der vermeidbaren Todesfälle durch die Coronavirus-Pandemie.

Sollte es zu einem „No Deal Brexit“ kommen, also einem Austritt Großbritanniens aus der EU ohne rechtliche Grundlage, wird das die sozialen und politischen Spannungen im Land weiter anheizen. Es droht eine Nahrungsmittel- und Medikamentenknappheit droht, und auch die Industrie würde Schaden nehmen.

Würde die Regierung unter Johnson allerdings ein vertragliches Flickwerk in Form eines Kompromisses mit der EU aushandeln, wäre das nicht gleichbedeutend mit dem Ende der Krise, der sich die britische und die europäische Bourgeoisie gegenübersehen.

Die Arbeiterklasse muss verstehen, dass im Brexit die zunehmenden Gegensätze zwischen den Imperialisten zum Ausdruck kommen. Sie drohen die Welt in einen rücksichtslosen Handelskrieg zu stürzen und verschärfen die Gefahr militärischer Konflikte.

Die verschiedenen Fraktionen der britischen herrschenden Elite sind tief gespalten über die Frage, welche Stellung Großbritanniens in diesem globalen Konflikt einnehmen soll: Kann sich das Land als Zentrum für Finanzspekulationen, das zudem für seinen deregulierten Arbeitsmarkt bekannt ist, in einem diplomatischen und militärischen Bündnis mit den USA besser positionieren als innerhalb der Handelsregularien der EU? Immerhin entfallen rund 40 Prozent des britischen Außenhandels auf die Europäische Union

Die Spaltung der herrschenden Klasse Großbritanniens wird weitergehen. Doch unabhängig davon, ob ein Handelsabkommen mit der EU geschlossen wird oder ob es auf einen „No Deal Brexit“ hinausläuft – die Arbeiterklasse wird mit einem heftigen Angriff auf Arbeitsplätze, Löhne und Sozialleistungen konfrontiert sein. Wie die Socialist Equality Party (UK) erklärt hat, bestehen sowohl die Brexit-Befürworter als auch die Brexit-Gegner in den Reihen der Tories darauf, dass die „Thatcher-Revolution“ vollendet werden muss. Das bedeutet eine Fortsetzung des Klassenkriegs von oben, und das unter den Bedingungen der sozialen und wirtschaftlichen Krise, die durch die Coronavirus-Pandemie geschaffen wurde.

Für die Arbeiter ist es unerheblich, welche der sich bekriegenden Fraktionen der herrschenden Klasse – die britische Regierungselite oder die kapitalistischen EU-Politiker – die Auseinandersetzung um das Binnenmarktgesetz gewinnen wird. Gleichzeitig wird deutlich, dass es für die Arbeiterklasse unerlässlich ist, auf Basis eines unabhängigen Programms in diesen Kampf einzugreifen. Ihre Perspektive sind Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa.

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