Corona-Pandemie verschärft die Katastrophe im Jemen

Im kriegsgeschundenen Jemen entfaltet die Corona-Pandemie ihr wohl mörderischstes Potential. Ärzte berichten von einer Todesrate von 20 bis 30 Prozent aller Infizierten.

Der Intensivmediziner Tankred Stöbe von „Ärzte ohne Grenzen“ berichtete im Tagesspiegel über die dramatischen Auswirkungen der Pandemie. „Wie ein tödlicher Wüstensturm“ sei das Virus durch das vom Krieg heimgesuchte, bitterarme Land gefegt, berichtet er in einem Interview, das die Zeitung am 15. Oktober publizierte.

Nach Stöbes Schätzung weist der Jemen eine Sterblichkeitsrate von etwa 30 Prozent der Covid-19-Erkrankten und damit die wohl höchste Todesrate der Welt auf. Die offiziellen Zahlen seien nicht aussagekräftig, weil kaum getestet werde. „Die allermeisten Patienten sind, ohne gezählt, diagnostiziert oder behandelt zu werden, in ihren Häusern erstickt.“

Viele Jemeniten lebten in Gebieten, in denen es weit und breit keine Klinik gibt, und wenn sie eine Corona-Infektion hätten, blieben sie sich selbst überlassen. So könne sich das Virus ungebremst ausbreiten. „Es gibt kaum eine Familie, die nicht von der Pandemie betroffen ist“, berichtet Stöbe.

Die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ hat eine spezielle Covid-19-Klinik aufgebaut, deren 40 Betten sofort belegt waren. „Die Sterblichkeit war sehr hoch, weil die Patienten zu spät kamen“, so Stöbe. „Durchschnittlich betrug die Liegedauer fünf Tage – aber nicht, weil die Menschen danach genesen waren, sondern weil sie gestorben sind.“ In der Klinik herrsche ein chronischer Mangel an Personal und Material. Zudem müsse das Personal die Sauerstoffflaschen quer durch die vom Krieg heimgesuchten Wohngebiete herbeischaffen.

Zerstörtes Gebäude im Süden von Sanaa (Foto: Wikimedia, Ibrahem Qasim)

Denn die Sterbezahlen sind vor allem deshalb so hoch, weil das Land schon ohne die Pandemie Opfer einer unvorstellbaren menschlichen Katastrophe ist, die ein jahrelanger Bürgerkrieg und ein vom Imperialismus unterstützter Luftkrieg angerichtet haben.

Seit März 2015 führen die Prinzen von Saudi-Arabien einen Luftkrieg im Jemen, um die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen zu stürzen und an ihrer Stelle ihr eigenes Marionettenregime unter Führung von Abd Rabbuh Mansur Hadi wiederherzustellen. Die USA, Frankreich, Großbritannien und Deutschland unterstützen diesen mörderischen Krieg direkt und indirekt. So hat die deutsche Bundesregierung allein seit Anfang 2019 Rüstungsexporte für mehr als eine Milliarde Euro an Länder genehmigt, die am Jemen-Krieg beteiligt sind.

Als „unfassbare Tragik“ bezeichnet Tankret Stöbe das, was sich im Jemen abspielt. Nach wie vor werde geschossen und gebombt: „Zehntausende sind bereits ums Leben gekommen. Millionen wurden vertrieben.“

Würde es nach den Rechtsgrundsätzen und Kriterien der Nürnberger Prozesse gehen, dann müssten die Politiker, die für die im Jemen begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich sind, vor Gericht gestellt werden und hinter Gittern kommen. Damals haben die Urteile, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Nürnberg gesprochen wurden, die überlebenden Führer des Dritten Reichs an den Galgen oder lebenslänglich ins Gefängnis gebracht.

Ganz anders urteilen heute die Vereinten Nationen: Sie haben ausgerechnet Saudi-Arabien dazu bestimmt, im Juni 2020 die Geberkonferenz der UN für den Jemen auszurichten.

Auf internationalen Druck hin hatte Saudi-Arabien im Frühjahr 2020 zwar angekündigt, vorübergehend weitere Luftangriffe auf den Jemen „aus humanitären Gründen“ zu unterlassen. Tatsächlich aber wurde weitergebombt. Zwischen März und Juli hat das Yemen Data Project 1078 Luftangriffe verzeichnet, mindestens 142 davon auf zivile Ziele wie Wohngebiete, Schulen und Krankenhäuser.

Der Krieg, den Saudi-Arabien mit westlicher Unterstützung gegen die jemenitische Bevölkerung führt, wütet vor allem unter der Zivilbevölkerung. Durch ihre Blockade von Lebensmitteln und Medikamenten schürt die Monarchie in Riad bewusst Elend und Massensterben. Rund 20 Millionen Jemeniten sind auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Zehn Millionen Menschen sind vom Hungertod bedroht, wie die Tagesschau Mitte dieses Jahres berichtet hat. Schon vor zwei Jahren berichtete die Hilfsorganisation Save the Children, dass im Jemen nachweislich 85.000 Kinder verhungert sind.

Krankheiten wie Cholera, Malaria und Dengue-Fieber kommen hinzu. Allein dieses Jahr sind über 110.000 Menschen an Cholera erkrankt. Eine Cholera-Klinik, die die „Ärzte ohne Grenzen“ unter großen persönlichen Opfern aufgebaut haben, wurde im Rahmen des Kampfs um die Hafenstadt Hodeidah von saudischen Kampfflugzeugen bombardiert.

Die Angaben der „Ärzte ohne Grenzen“ werden von dem Essener Kardiologen Marwan Al-Ghafory bestätigt, auch er eine wichtige Informationsquelle über Corona im Jemen. Auch Al-Ghafory setzt sich für die Bevölkerung des Landes ein. Über die kostenlose App „Tabiby“ (mein Arzt) erreicht er im Jemen zehntausende Menschen.

Auch der Kardiologe aus dem Ruhrgebiet schätzt die Lage bei weitem schlimmer ein als offiziell gemeldet. Laut John Hopkins University soll es im Jemen derzeit rund 2000 bekannte Corona-Infektionsfälle und etwa 600 Todesfälle geben. „Aber die Infos, die unser Team herausfand, die Statistiken, die wir selber gesammelt und analysiert haben, sagen uns etwas anderes“, sagte der Arzt in einem Interview. „Wir liegen bei mehr als 100.000 Fällen, mit einer Sterberate von über 20 Prozent.“

Wichtig ist Marwan al-Ghafory in erster Linie, vor der zweiten, noch heftigeren Corona-Welle zu warnen. Die Menschen im Jemen hätten kaum Zugang zu verlässlichen Informationen. Er sagte: „Ich schreibe jeden Tag Artikel und übersetze fachmedizinische Studien. Mein Team und ich posten täglich zwischen sieben und zehn Artikel. Wir nahmen uns der Aufgabe an, unser vergessenes Volk über Covid-19 aufzuklären.“

Die Corona-Pandemie ist auch im Jemen nur der Brandbeschleuniger einer gewaltigen Katastrophe, die der Imperialismus von langer Hand angerichtet hat. In dem Land fehlt es infolge des Kriegs nicht nur an der nötigen Gesundheitsversorgung, sondern auch an sauberem Wasser zum Trinken und zum Waschen, an sanitären Anlagen, an ausreichender Ernährung, an einem Dach über dem Kopf und jeglicher sicheren Zukunftsperspektive – kurz an allem, was für ein gesundes Leben elementar notwendig wäre.

Die imperialistischen Mächte, allen voran die USA, aber auch Deutschland, unterstützen das kriegführende Saudi-Arabien, weil sie in ihm einen wichtigen Verbündeten in ihren Konflikten mit dem Iran, mit Russland und China sehen. Vor allem betrachten sie die reaktionäre saudische Monarchie als Bastion gegen einen drohenden Aufstand der Arbeiterklasse im gesamten Nahen Osten.

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