Corona-Pandemie: Dramatische Situation an Kliniken

Die massiv steigenden Covid-19-Infektionen bringen die Kliniken in ganz Europa an ihre Grenzen. In Deutschland wächst die Anzahl der Intensivpatienten täglich. Immer mehr Ärztevertreter und andere Experten warnen vor den Folgen eines Mangels an Pflegepersonal und Intensivbetten.

Das Robert Koch-Institut meldete am Freitagmorgen 1700 Corona-Patienten auf den Intensivstationen. Am Samstag waren es bereits 1830 und am Montag 2243. Die Zahl der intensivmedizinisch behandelten Fälle hat sich in den vergangenen zwei Wochen fast verdreifacht.

Intensivbett (Foto: Calleamanecer / Wikimedia)

Trotz dieser Zahlen haben Bund und Länder keinen notwendigen Lockdown, sondern nur höchst inkonsequente Kontaktbeschränkungen verhängt. Schulen und Kitas bleiben offen, damit die Produktion in den Betrieben weiterlaufen kann.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft erwartet, dass die Zahl der Intensivpatienten in Kürze einen neuen Höchststand erreicht. Der Chef der Organisation, Gerald Gaß, geht davon aus, dass der bisherige Höchststand vom April in zwei bis drei Wochen übertroffen wird. Verhindern lässt sich das nicht mehr. „Wer bei uns in drei Wochen ins Krankenhaus eingeliefert wird, ist heute schon infiziert“, sagte Gaß der Bild-Zeitung.

Aufgrund des extremen Mangels an Intensivfachkräften kündigte Gaß an, Pflegepersonal aus nicht-intensivmedizinischen Bereichen auf den Intensivstationen einzusetzen, was „nicht optimal“ sei. Tatsächlich ist ein solcher Einsatz für die Patienten höchst gefährlich. Dass er trotzdem erwogen wird, zeigt, wie verzweifelt die Lage ist. Aufgrund der hochkomplexen Geräte und Abläufe in der Intensivpflege birgt der Einsatz von nicht geschultem Personal erhebliche Gefahren. Gleichzeitig können Schulungen und Einweisungen aufgrund der angespannten Situation in den Kliniken kaum adäquat erfolgen.

„Es ist in einigen Bundesländern nicht mehr viel Spielraum. Berlin hat nur noch 14 Prozent freie Intensivbetten, Bremen 17 Prozent“, warnte Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Dies liege auch daran, dass die meisten Kliniken immer noch das „Routineprogramm“ durchführten. Für zahlreiche Kliniken bedeutet die eigentlich dringend notwendige Umstellung der Klinikkapazitäten auf Coronafälle den Ruin. Während es im Frühjahr für Kliniken eine sogenannte Freihaltepauschale für Coronafälle gab, existiert diese nun nicht mehr.

Gleichzeitig ist auch die Versorgung anderweitig akut erkrankter Patienten gefährdet. Im Uniklinikum Essen musste laut einem Bericht der NDR mittlerweile eine zweite Intensivstation eröffnet werden. 90 Patienten mit Covid-19 sind hier untergebracht, 27 davon werden intensivmedizinisch betreut.

Der Direktor der Augenklinik, Nikolaos Bechrakis berichtet, dass er und sein Team jedes Jahr 400 Menschen operieren, viele mit schweren Tumorerkrankungen, bei denen jeder Tag zähle, um eine drohende Erblindung zu verhindern. „Bei der ersten Welle mussten wir schon 25 bis 30 Prozent unserer Kapazitäten einbüßen. Ich habe die Befürchtung, wenn die zweite Welle kommt, dass es heftiger wird“, sagte Bechrakis.

Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) räumte ein, wie dramatisch die Lage sei. „Die Situation ist erschreckend und alarmierend: Schon bald kann es zu einem Kollaps in vielen der 1900 Krankenhäuser in Deutschland kommen“, sagte er. Stationen und Notaufnahmen hätten aufgrund von fehlendem oder erkranktem Personal geschlossen werden müssen. „Es drohen eine Triage und italienische Verhältnisse, wenn wir nicht jetzt auch hier gegensteuern.“

Es wird immer offensichtlicher, dass die Beteuerungen, man habe aus der Situation im Frühjahr gelernt und die Versorgung in deutschen Kliniken sei stabil, die Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gebetsmühlenartig wiederholt, nichts weiter sind als gezielte Falschinformationen, die die Bevölkerung in falscher Sicherheit wiegen sollen.

Tatsächlich haben die Regierungen in Bund und Ländern nichts unternommen, um den drohenden Kollaps zu verhindern. Obwohl von Experten seit Langem gefordert, gibt es nicht einmal ein Verzeichnis, wie viel Pflegepersonal mit intensivpflegerischer Ausbildung in Deutschland vorhanden ist. Hinzu kommt, dass mit steigenden Infektionszahlen immer mehr Ärzte und Pflegekräfte erkranken. Es gibt keine einheitliche Teststrategie, um die Beschäftigten in Kliniken, Pflegeheimen und ähnlichen Einrichtungen effektiv zu schützen.

Stattdessen geht die prekäre Situation zu Lasten von Ärzten und Pflegekräften, die ohnehin schon teilweise am Rand der Belastbarkeit arbeiten. Niedersachsen hat nun erneut die Höchstarbeitszeit für Beschäftigte in Kliniken und Pflegeheimen auf bis zu 60 Stunden pro Woche und bis zu zwölf Stunden täglich erhöht. Es gilt als sicher, das andere Bundesländer nachziehen werden. Schon zu Beginn der Pandemie war die Maßnahme beschlossen worden. Nun gilt sie bis Mai nächsten Jahres.

„Monatelang hat das Land verschlafen, die medizinischen Einrichtungen auf die zweite Welle der Corona-Pandemie vorzubereiten“, kommentierte Pflegekammerpräsidentin Nadya Klarmann. „Jetzt sollen wieder die Beschäftigten in den systemrelevanten Berufen unter Einsatz ihrer eigenen Gesundheit die Situation retten.“

Die Situation ist überall in Europa alarmierend. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat vor einer Überlastung des Gesundheitswesens gewarnt. „Viele Länder auf der Nordhalbkugel sehen derzeit einen besorgniserregenden Anstieg von Fällen und Einweisungen ins Krankenhaus“, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus kürzlich in Genf.

In Österreich spitzt sich die Lage Tag für Tag zu. Die Regierung hat erklärt, dass bei 6000 Neuinfektionen pro Tag eine Überlastung der Intensivbetten in den Krankenhäusern drohe. Ärzte müssten dann im Extremfall auch darüber entscheiden, wer behandelt wird und wer nicht, bemerkte Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP).

Am 30. Oktober wurden 5627 Neuinfektionen gemeldet. Auch die seit Dienstag geltenden verschärften Maßnahmen, wie eine Ausgangssperre von 22 bis 6 Uhr, verhindern den Anstieg vermutlich nicht. Trotz dem Ernst der Lage bleiben Betriebe, Kitas und der Großteil der Schulen – die als Treiber der Pandemie gelten – geöffnet.

In Belgien bricht das Gesundheitssystem bereits zusammen. Immer mehr Kliniken haben keine Kapazitäten mehr für Intensivmedizin. Nach Gewerkschaftsangaben sind Dutzende Ärzte und Pflegekräften trotz nachgewiesener Corona-Infektion im Dienst. Sie erhalten keinerlei Schutz oder Unterstützung von Regierung und Gewerkschaften.

„Wir müssen wählen zwischen einer schlechten und einer sehr schlechten Lösung“, sagte Philippe Devos vom Verband der medizinischen Gewerkschaften. Die sehr schlechte Lösung sei, Patienten gar nicht zu behandeln, zitiert die Deutsche Welle den Gewerkschafter.

Belgien ist, gemessen an der Bevölkerungszahl, das europäische Land mit den meisten Neuinfektionen. Bis zum 2. November hatten sich hier innerhalb von sieben Tagen 1074 von 100.000 Einwohnern mit dem Virus angesteckt.

Auch die Schweiz weist mit 588 Infektionen pro 100.000 Einwohnern eine extrem hohe Sieben-Tage-Inzidenz auf. Allein am Montag wurden in dem Land mit knapp 9 Millionen Einwohnern fast 22.000 Neuinfektionen registriert. Medienberichten zufolge schätzt die Regierung in Bern, dass Mitte des Monats alle Intensivplätze belegt sein werden. In einigen Kantonen, wie Genf und Wallis, ist die Kapazitätsgrenze bereits jetzt erreicht. Im Wallis haben sich in den letzten 14 Tagen 2530, in Genf 2373 von 100.000 Einwohnern infiziert.

Die Regierung des reichsten europäischen Landes, dessen Pharmaindustrie jährlich 80 Milliarden Euro umsetzt, hat die anfänglichen Schutzmaßnahmen im Frühjahr schnell wieder aufgehoben, kaum Vorsorgemaßnahmen getroffen und opfert nun das Leben unzähliger Menschen. Über 2400 sind mittlerweile an Covid-19 gestorben, allein am letzten Freitag und Montag waren es jeweils 80.

In Osteuropa ist die Lage bereits seit Wochen extrem angespannt. Covid-Patienten aus Tschechien mussten bereits nach Deutschland zur Behandlung gebracht werden. Das Gesundheitsministerium in Prag hat angeordnet, alle planbaren Operationen zu verschieben.

In Tschechien kamen in den letzten sieben Tagen 782 Infektionen auf 100.000 Einwohner. Über 13.000 Beschäftigte im Gesundheitswesen haben sich nach Angaben der Ärztekammer mit Corona infiziert. Würden sie nicht weiterarbeiten, wenn sie keine Symptome zeigen, wäre eine Versorgung nicht mehr möglich. Inzwischen hat die Regierung eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Das wird aber kaum ausreichen, um den völligen Kollaps der Kliniken abzuwenden.

In Polen sind die Kliniken mit der rasant steigenden Zahl von Covid-Patienten restlos überfordert. Das für Corona-Patienten umgestaltete Krankenhaus im Grenzort Slubice meldete zuletzt vier Corona-Tote innerhalb von 24 Stunden, wie der rbb berichtet. Im Lokalfernsehen HTS sprach Geschäftsführer Lukasz Kaczmarek über die katastrophale Lage: „Es fehlen Reinigungsmittel, Körperpflegeprodukte wie Creme und Duschgel. Das ist schlecht. Außerdem hat unser Krankenhaus eine Infrastruktur aus den 60er-Jahren. Damit müssen wir in dieser Situation klarkommen.“ Weiter mangle es an Desinfektionsmitteln, Essen und Mülltüten.

Ähnlich ist die Situation in Frankreich und Großbritannien.

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