EU organisiert Massensterben im Mittelmeer

Mehr als hundert Flüchtlinge sind in der letzten bei Woche bei vier Schiffsunglücken im zentralen Mittelmeer ertrunken. Alleine 74 Leichen wurden am Donnerstag an den Strand von al-Khums in Libyen gespült. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) konnten bei diesem Unglück nur 47 Flüchtlinge von Fischerbooten und der Küstenwache gerettet werden.

Die Zahl der im zentralen Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge ist damit für dieses Jahr über 900 gestiegen. Insgesamt verloren 2020 mehr als 1200 Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa ihr Leben. Die Toten sind eine direkte Folge der verbrecherischen Abschottungspolitik der Europäischen Union, die Flüchtlinge an den Außengrenzen mit illegalen und kriminellen Methoden zurückweist.

Nur wenige Stunden nachdem die Leichen der 74 Flüchtlinge an der libyschen Küste entdeckt worden waren, leistete die Hilfsorganisation von „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) drei Frauen eines weiteren Schiffsunglücks nahe der libyschen Hafenstadt Sorman erste Hilfe. Die Frauen, die von Fischern aus dem Wasser gezogen wurden, hatten miterlebt, wie 20 Flüchtlinge ertranken. „Sie stehen unter Schock und sind völlig verängstigt“, meldete MSF über Twitter. „Sie mussten mit ansehen, wie geliebte Menschen in den Wellen verschwanden und vor ihren Augen starben.“

Das bislang milde Herbstwetter lässt derzeit noch Überfahrten auf der gefährlichen Mittelmeerroute zu. Allerdings sind seit dem 1. Oktober mindestens acht Flüchtlingsboote gekentert und mindestens 250 Flüchtlinge ertrunken.

Flüchtlinge im Mittelmeer (Bild: Videoauschnitt Propactiva Open Arms)

Dazu zählt auch ein Schlauchboot, das mit knapp hundert Männern, Frauen und Kindern an Bord von Sabratha in Libyen gestartet war. Der selbstgebaute Schlauch verlor schnell Luft und das Boot brach schließlich buchstäblich auseinander. Alle Insassen schwammen im offenen Meer. Den Helfern der eiligst herbeigeeilten „Open Arms“ bot sich ein dramatisches Bild von fast hundert Menschen, die verzweifelt um ihr Leben kämpften.

Die Seenotretter haben die Rettungsaktion auf Video dokumentiert, darunter die panischen Rufe einer 20-jährigen Mutter aus Guinea: „Wo ist mein Baby? Ich habe mein Baby verloren!“ Die Besatzung der „Open Arms“ findet schließlich das völlig entkräftete Baby mit dem Namen Joseph. Wegen seines ernsten Zustandes fordern die Helfer einen Rettungshubschrauber aus Lampedusa an. Als dieser eintrifft, ist Joseph bereits an einem Herzstillstand gestorben. Mit ihm haben fünf weitere Flüchtlinge dieses Unglück nicht überlebt.

„Wir haben alles getan, was wir konnten, um die Bootsinsassen zu retten“, erklärten die Helfer. „Dieser Vorfall ereignete sich nur wenige Kilometer vor der Küste eines gleichgültigen Europas. Anstatt eine gut organisierte Seenotrettung bereitzustellen, steckt Europa nur den Kopf in den Sand und tut so, als ob es den Friedhof nicht bemerken würde, zu dem das Mittelmeer geworden ist.“

Ein Sprecher der Organisation „Alarm Phone“, die ein Notfalltelefon für Flüchtlinge in Seenot betreibt, kommentierte die jüngsten Flüchtlingstragödien gegenüber dem britischen Guardian: „Dies ist ein Blutbad an den europäischen Außengrenzen. Was können wir noch sagen? Wir fordern seit Jahren einen grundlegenden Wandel, aber das Sterben geht immer weiter. Es ist verheerend.“

Kaltblütiges Kalkül

Tatsächlich hat sich die Europäische Union bewusst aus der Seenotrettung im Mittelmeer zurückgezogen. Das kaltblütige Kalkül der Entscheidungsträger in Brüssel, Berlin, Paris und Rom betrachtet den Tod von hunderten Flüchtlingen, die jedes Jahr im Mittelmeer sterben, als Abschreckung, damit andere Flüchtlinge die Überfahrt gar nicht erst wagen.

Dieses Argument ist ebenso falsch wie menschenverachtend. Der Rückzug der staatlich organisierten europäischen Seenotrettung hat nicht zu einem Rückgang der Überfahrten geführt. Die Zahl der Flüchtlinge, die in diesem Jahr in Italien angelandet sind, hat sich auf bislang 31.000 verdreifacht. 2019 waren es „nur“ rund 11.000 gewesen.

Die Zunahme der Fluchtversuche hängt in erster Linie mit den grauenvollen Bedingungen im Bürgerkriegsland Libyen zusammen, in dem von Europa finanzierte Milizen seit Jahren einen blutigen Krieg um die Ausbeutung der wertvollen Öl- und Gasressourcen führen. In Libyen gestrandete Flüchtlinge, die oftmals aus den Bürgerkriegsländern Syrien, Irak, Afghanistan, Eritrea und Sudan stammen, sind dort zwischen die Fronten geraten und werden unter unmenschlichen Bedingungen interniert und als Sklaven gehalten. Diese verzweifelten Menschen klammern sich an jeden Strohhalm, um die libysche Hölle zu verlassen.

Um ihre Flucht nach Europa um jeden Preis zu verhindern, hat die Europäische Union nicht nur die Seenotrettung eingestellt, sondern hindert auch private Seenotrettungsorganisationen daran, in Not geratenen Menschen zu helfen.

Vier Schiffe werden aktuell mit fadenscheinigen Begründungen am Auslaufen gehindert. Einmal werden zusätzliche Papiere angefordert, das andere Mal weitere technische Eignungstests verlangt. So sitzt die „Louise Michel“ des britischen Streetartkünstlers Banksy in einem spanischen Hafen fest, die „SeaWatch 4“ im sizilianischen Palermo, die „Alan Kurdi“ der Organisation „Sea Eye“ im sardischen Olbia und die „Ocean Viking“ von „SOS Méditerranée“ im sizilianischen Porto Empedocle.

Einzig die spanische „Open Arms“ konnte noch auf Rettungsmission gehen, wartet nun aber mit fast 260 Flüchtlingen an Bord auf die Erlaubnis, einen europäischen Hafen anzulaufen. Dies hat sich in den letzten Monaten als wochenlanges Tauziehen erwiesen, da Italien und auch Malta die Covid-19-Pandemie genutzt haben, um ihre Häfen als unsicher zu deklarieren. Die „Open Arms“ wird deshalb erst in einen Hafen einlaufen dürfen, wenn sich andere EU-Mitgliedsstaaten zur Übernahme der an Bord befindlichen Flüchtlinge bereit erklären. Hinter diesem jämmerlichen Trauerspiel steht die kühle Berechnung, die privaten Seenotretter zu entnerven und zum Aufgeben zu zwingen.

Der Rückzug der europäischen Union aus der Seenotrettung im zentralen Mittelmeer ist ein Skandal und ein eklatanter Bruch des Völkerrechts, mit fatalen Folgen für die betroffenen Flüchtlinge. Die EU hat die Seenotrettung der libyschen „Küstenwache“ überantwortet, die von ihr ausgebildet und ausgerüstet worden ist. Dabei handelt es sich oftmals um dieselben Milizen, die den Bürgerkrieg führen und die Flüchtlinge als Ware behandeln.

Mehr als 11.000 Flüchtlinge, die auf dem Weg nach Europa waren, sind in diesem Jahr von der „Küstenwache“ aufgebracht und zurück nach Libyen gebracht worden. Sie hatten sich nach Europa aufgemacht, um dort Schutz vor Krieg, Verfolgung und den libyschen Schergen zu finden, die sie unter den Augen der EU beraubt, erpresst und misshandelt hatten. Nun werden sie erneut interniert und versklavt.

Kanarische Inseln

Die Abschottung der Europäischen Union gegen Flüchtlinge beginnt dabei bereits Tausende Kilometer vor den Küsten des Mittelmeers. Weil die EU massiven Druck auf nordafrikanische Staaten wie Mali, Niger und Algerien ausübt, gegen Flüchtlinge und Arbeitsmigranten vorzugehen, verschieben sich die Fluchtrouten auf immer gefährlichere Wege.

Einer dieser Wege führt nun über die westafrikanische Küste in Richtung Kanarische Inseln, die zum spanischen Staat gehören. Am 23. Oktober brach auf dieser Route ein Boot nach der Explosion des Motors auseinander. 140 Flüchtlinge ertranken. Allein am vergangenen Wochenende landeten auf den kanarischen Inseln innerhalb von drei Tagen mehr als 2.200 Flüchtlinge, die in kleinen Fischerholzbooten die mehr als tausend Kilometer lange Überfahrt gewagt hatten. Seit Jahresbeginn waren es mehr als 14.500.

Die meisten werden von der spanischen Küstenwache entdeckt und in den Hafen von Arguineguin auf Gran Canaria gebracht. Das dortige Lager, in dem die Flüchtlinge zunächst tagelang ausharren müssen, ist völlig überfüllt und wird als „Lager der Schande“ bezeichnet.

Es „ist vollkommen inakzeptabel, menschenunwürdig und gefährdet sogar die Gesundheit der Migranten“, sagte Mustafa Galah Leman von der katholischen Caritas auf Gran Canaria der Deutschen Welle. „Wir fordern die Regierung und alle Verantwortlichen auf, mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen und eine humanitäre Aufnahme der Flüchtlinge zu gewährleisten, wie sie eines EU-Landes würdig ist.“

EU-Innenkommissarin Ylva Johannson äußerte sich zwar besorgt über den Anstieg der Flüchtlingszahlen auf dieser tödlichen Fluchtroute, betonte aber, es komme jetzt darauf an, „dass jene, die kein Recht auf internationalen Schutz haben, effektiv zurückgeführt werden“.

Dabei ist die Fluchtroute zu den Kanarischen Inseln die weltweit tödlichste. Nach Schätzungen der IOM überlebt einer von 16 Flüchtlingen die Überfahrt nicht. Die Dunkelziffer ist dabei extrem hoch, da Boote immer wieder die Inseln verfehlen und auf den Atlantik hinaustreiben.

Frontex

Trotzdem haben sich die EU-Innenminister vergangene Woche als Reaktion auf die terroristischen Anschläge in Frankreich und Österreich darauf verständigt, die Abschottung der Außengrenzen weiter zu verstärken. „Wir müssen wissen, wer einreist und wer ausreist“, erklärte der deutsche Innenminister Horst Seehofer nach der Videokonferenz der europäischen Innenminister.

Die EU-Innenminister stärkten dabei auch der europäischen Grenzschutzagentur Frontex den Rücken, die in den letzten Wochen verstärkt unter Beschuss geraten ist, weil sie die illegale Zurückweisung von Flüchtlingen an den Grenzen, so genannte Pushbacks, geduldet hat und teilweise sogar direkt daran beteiligt war.

Nach der Europäischen Menschenrechtscharta und der Genfer Flüchtlingskonvention muss jedes Asylgesuch eines Flüchtlings individuell gehört und geprüft werden. Die brutale Zurückdrängung von Menschen an den EU-Außengrenzen, ohne deren Fluchtgründe geprüft oder auch nur angehört zu haben, ist ein klarer Verstoß gegen elementare, international gültige Rechtsnormen.

Die Medienorganisationen Der Spiegel, Bellingcat, ARD, Lighthouse Reports und tv asahi haben Material zusammengetragen, das die Beteiligung von Frontex-Beamten an diesen Pushbacks eindeutig nachweist.

In einem dokumentierten Fall geht es um ein Boot, das kurz vor der griechischen Insel Lesbos von Grenzschützern aufgebracht wird. Sie zerstören den Motor und zwingen die Flüchtlinge mit vorgehaltener Waffe, ihr Schiff an ein Schnellboot der griechischen Küstenwache zu binden. Ein rumänisches Frontex-Boot beobachtete dieses illegale Vorgehen ohne einzugreifen. Ein deutsches Frontex-Boot dokumentiert den Zwischenfall, ohne dass daraus Konsequenzen erfolgen.

„Diese Pushbacks verstoßen gegen das Verbot der kollektiven Zurückweisung und gegen Seerecht“, sagt Dana Schmalz, Völkerrechtlerin am Max-Planck-Institut in Heidelberg. Die EU-Grenzschutzagentur bestreitet bislang jedoch jede Beteiligung an Pushbacks. Offenbar werden behördenintern Akten so frisiert, dass keine Menschenrechtsverletzungen darin auftauchen. So wurden aus beobachteten Pushbacks in den Berichten legale „Returns“ (Rückführungen).

Innerhalb weniger Jahre hat sich Frontex zu einer mächtigen EU-Behörde aufgeschwungen, die keiner öffentlichen Kontrolle unterliegt. Die EU-Grenzschutzagentur kann mit ihrem Milliardenbudget auf eigene Schiffe und Fahrzeuge zurückgreifen, Rüstungsaufträge erteilen und an den Grenzen rücksichtslos gegen Flüchtlinge vorgehen. Die Öffentlichkeit hat gegenüber Frontex nur eingeschränkte Auskunftsrechte, betroffene Flüchtlinge können sich rechtlich nicht gegen Frontex wehren und weder das EU-Parlament noch die EU-Kommission können und wollen dieses bürokratische Monster vollständig kontrollieren.

Die Entrechtung der Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen hat seit der Gründung von Frontex ein erschütterndes Ausmaß angenommen. In Kroatien sind inzwischen Beweise für mehr als 800 Fälle von illegalen Pushbacks gesammelt worden, die das brutale Vorgehen der europäischen Grenzbeamten dokumentieren.

Im Oktober 2020 dokumentierte die Hilfsorganisation Danish Refugee Council die Aussagen einer Gruppe von 23 Flüchtenden und Migranten, Uniformierte mit Sturmhauben hätten sie gezwungen, sich nackt auszuziehen und sie anschließend einen nach dem anderen brutal geschlagen – mit Stöcken, Peitschen und Tritten.

Auch in Kroatien haben Frontex-Beamte massive Menschenrechtsverletzungen an der Grenze zu Bosnien-Herzegowina beobachtet, aber ebenso geschwiegen wie in Griechenland. Auf Regierungsebene hält es kein EU-Mitgliedsland für erforderlich, sich über Gewalt gegen Flüchtlinge an den Außengrenzen zu beschweren. Dem Internetportal Euractiv teilten Brüsseler Diplomaten die offizielle Haltung mit: „Diese Leute versuchen illegal durch Wälder die Grenze zu überschreiten. Und da gibt es eben manchmal Gewalt, wenn die Polizei versucht, diejenigen zu fangen, die wegrennen.“

Frontex-Direktor Fabrice Leggieri muss der EU-Kommission zwar bis Ende November zu den Vorwürfen der Beteiligung von Frontex an den Pushbacks Rede und Antwort stehen. Viel zu befürchten hat die Grenzschutzagentur dabei aber nicht, da das brutale Vorgehen gegen Flüchtlinge und deren Entrechtung unter den europäischen Regierungen Konsens ist.

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