Interview mit einem Amazon-Arbeiter: „Nur gemeinsam sind wir stark“

Die Newsletter-Redaktion der WSWS International Amazon Workers Voice interviewte vor kurzem einen Lagerarbeiter in Connecticut über die Arbeitsbedingungen in seinem Verteilzentrum und die Notwendigkeit für Arbeiter, sich in den Betrieben zu organisieren und international gemeinsam den Kampf aufzunehmen.

Wie das Interview zeigt, sind die Amazon-Belegschaften weltweit mit denselben Gefahren und Problemen konfrontiert. Im amerikanischen Baltimore haben Amazon-Arbeiter vor kurzem ein Aktionskomitee gegründet und wichtige Forderungen aufgestellt, um sich in der Pandemie besser zu schützen und sich gegen Arbeitsstress, Lohndumping und Überwachung verteidigen zu können. In New Jersey musste am 19. Dezember ein Warehouse wegen eines massenhaften Covid-19-Ausbruchs geschlossen werden.

Auch in den deutschen Verteilzentren kommt es zu großen Ausbrüchen. In Garbsen bei Hannover sind inzwischen mindestens 125 Amazon-Arbeiter erkrankt, und dennoch wird die Arbeit in dem Verteilzentrum fortgesetzt. An einem Streik, den Verdi für die vier letzten Tage vor Weihnachten ausgerufen hatte, beteiligten sich etwa tausend Arbeiter an sechs Standorten. Verdi weigert sich jedoch, den Kampf beispielsweise für die Forderung aufzunehmen, dass die von Corona betroffenen Verteilzentren sofort mit vollem Lohnausgleich geschlossen werden.

Bei dem folgenden Interview verzichten wir aus Sicherheitsgründen darauf, den Namen des Arbeiters zu nennen. Er ist der Redaktion bekannt.

In einem Amazon-Lagerhaus (Foto: Wikimedia Commons)

Kannst du dich kurz vorstellen? Wie bist du dazu gekommen, bei Amazon zu arbeiten?

Vor Amazon hatte ich etwa sechs Jahre lang ein kleines Unternehmen; ich musste es leider schließen. Danach habe ich im Einzelhandel gearbeitet, das war ein Saisonjob. Dann habe ich mich bei Amazon für das Schadensmanagement beworben, weil ich entsprechende Zeugnisse habe. Diese Stelle habe ich aber nicht bekommen.

Stattdessen schickten sie mir einen Brief, in dem stand, dass sie mich als Lagerarbeiter einstellen wollten. Also nahm ich diesen Job an. Es ist im Grunde nur ein Hilfsarbeiterjob, was besser ist als nichts, also habe ich ihn angenommen.

Du hast uns erzählt, dass du seit fast eineinhalb Jahren in diesem Lager arbeitest. Welche Erfahrungen hast du gemacht?

Ähm, sehr, sehr schlechte. Obwohl man dir sagt, es sei für alles gesorgt, kümmern sie sich um nichts. Ich arbeite in der Nachtschicht, und am Anfang, als ich auf unsrer Schicht begann, versuchte das Management, den Kollegen zu verbieten, auf die Toilette zu gehen. Eine Kollegin kam weinend zu mir und fragte: „Was sollen wir tun?“ Da ging ich zu den beiden Managerinnen und sagte ihnen, dass dies gegen das Arbeitsrecht verstößt.

Sie haben nicht reagiert, also habe ich mich in der Personalabteilung über sie beschwert. Die Personalabteilung hat sich nie wieder bei mir gemeldet. Das war im August 2019, als ich angefangen habe.

Hast du dich schon einmal bei der Arbeit verletzt?

Jeden Tag. Ich meine, man hat Nacken- und Rückenprobleme, und dann habe ich mich gerade gestern so schlimm verletzt, dass ich wegen der starken Schmerzen die Notaufnahme aufsuchen musste.

Ich ging zuerst zur AmCare [Krankenstation der Firma]. Sie sagten, sie könnten nichts für mich tun, also humpelte ich aus dem Gebäude. Ich musste drei Stunden lang in meinem Auto liegen, bis ich mein Fahrzeug soweit bewegen konnte, um in die Notaufnahme des nächsten Krankenhauses zu fahren.

Amazon wirbt damit, dass AmCare seinen Mitarbeitern eine hervorragende Gesundheitsversorgung bietet. Bekommen die Arbeiter eine angemessene medizinische Betreuung?

Null, keinerlei Versorgung! Ich meine, es ist sehr traurig, weil man [zu AmCare] reingeht und es zunächst so aussieht, als würden sie einen wirklich helfen (...) Ich hatte Freunde, deren Handgelenke dick geschwollen waren, und denen wurde gesagt: „OK, hier hast du etwas Eis. Du musst zurück an die Arbeit, du kannst jetzt nicht nach Hause gehen." Es gab überhaupt keine Fürsorge, NULL Fürsorge.

Das war auch meine Erfahrung mit AmCare, als ich dort war. Das habe ich an dem Tag erlebt, als ich mich verletzt hatte. Ich sagte: „Ich brauche Hilfe. Sie müssen mir helfen“, und sie sagten: „Wir können nichts für Sie tun.“

Wie überwacht das Management die Arbeiter bei der Arbeit?

Man kriegt diese Dienstplakette und sie nennen es Arbeitskontrolle. Ich sag‘s zwar ungern, aber ich nenne das Sklaventreiberei, weil sie jeden im Auge haben. Sie wollen es wissen, wenn du auf die Toilette gehst, und sagen dir, dass du dies oder jenes nicht tun darfst. Es ist eine sehr, sehr schlimme Situation. Es ist der schlimmste Ort, an dem ich je gearbeitet habe.

Ich habe meinem Arzt gesagt, dass ich mich suizidgefährdet fühle, weil ich dort nicht mehr arbeiten will. Er gab mir neue Medikamente und riet mir, auszusteigen. Ich sagte, ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so mies gefühlt. Bisher habe ich immer versucht, zu helfen und mit allen gut auszukommen.

Wie hat sich Covid-19 auf die Situation ausgewirkt?

Die Arbeitsbedingungen sind sehr, sehr schlecht. Es wird ständig Druck ausgeübt, damit man an seine Grenzen und darüber hinausgeht. Der neue Manager hat mich zu sich zitiert und mich gefragt: „Was war da los mit Ihnen?“ Ich sagte ihm, dass ich nicht wüsste, worauf er hinauswolle, und er sagte: „Normalerweise machen Sie über 100 Prozent, aber kürzlich haben Sie nur 86 Prozent Leistung erbracht.“ Ich ging nach Hause und versuchte, der Sache auf den Grund zu gehen, und es stellte sich heraus, dass in an dem Tag, auf den er anspielte, in Wirklichkeit Urlaub hatte. Das heißt, an diesem Tag war ich nicht einmal im Betrieb!

Man versucht, ständig Druck auf uns auszuüben, damit das Unternehmen Milliarden und Abermilliarden Dollar scheffelt. So ist jetzt die Welt, in der wir leben. Ein Freund von mir arbeitet in South Windsor, und der Vater dieses Freundes ist [auf der Arbeit] tot umgefallen: Er hatte einen Herzinfarkt und ist genau dort, bei Amazon in South Windsor, gestorben!

Was tut das Management, um die Arbeiter vor Covid-19 zu schützen?

Die Räumlichkeiten... das ist alles völlig überfüllt. Es gibt keine soziale Distanzierung. Zu mir kamen Arbeiter, die mir erzählten, dass der und jener Arbeitskollege Covid habe, und der Manager hatte drei Tage lang nichts gesagt. Das Virus ist da drin. Ich weiß, dass es da ist. Das Management verrät uns nicht, wer positiv getestet ist. Sie sagen dir nicht, wie viele Leute das Virus haben, denn sonst wären sie ja gezwungen, die Anlage zu schließen.

Ich sage zu allen, sie sollen eine Maske tragen, und dass es das Beste ist, was wir jetzt tun können. Aber das Management setzt so viele Leute in dem Gebäude ein, dass es sehr schwer ist, sich vor dem Virus zu schützen.

Viele Kollegen arbeiten dicht an dicht beieinander, und sie haben alle große Angst. Ich habe eine ältere Kollegin, die sagte: „Ich habe Angst, denn wir sind schon älter, und wir werden uns hier anstecken.“ Ich sage dann wohl zu ihnen, sie sollen sich keine Sorgen machen, weil ich ja immer versuche, die Leute positiv zu stimmen …

Weißt du, ob ein Kollege bei euch Covid-19 hat, oder ob er wegen einer Verletzung ausfällt?

Menschen verschwinden einfach, verstehst du? Es gibt dort so viele Leute, die hereingebracht werden und wieder gehen. Wir sind alle disponibel.

Amazon-Arbeiter, sind ja nicht nur Arbeiter. Sie haben Familie, die sie ernähren müssen, Freunde und Bekannte, um die sie sich kümmern. Sagen wir, wenn deiner Familie was passiert und du kannst ein bis zwei Wochen nicht arbeiten: Weißt du dann, ob dein Job sicher ist?

Ich weiß es nicht. Hier gibt es keine Sicherheit. Es ist beängstigend. Was ist, wenn sie unsern Betrieb für sechs Wochen stilllegen, wie Gouverneur Lemont (Connecticut) vorschlägt? Werden wir für die freie Zeit bezahlt?

Wir sind alle überarbeitet und erschöpft. Wir haben nur eine winzige Pause. Ich sehe Leute in der Pause auf den Tischen schlafen. Von einem Kollegen habe ich wirklich gedacht, er sei tot. Ich bin zu ihm rübergegangen und habe ihn geschüttelt und gefragt, ob es ihm gut gehe, aber er ist nicht aufgewacht. Ein anderer Freund versuchte dann, ihn zu wecken, und schließlich wachte er auf. Es war, als würde er aus einem riesigen Albtraum auftauchen.

Sprechen die Arbeiter über solche Fragen oder darüber, dass Bezos so viel an ihrem Elend verdient?

Ich würde sagen, dass die Leute jede Sekunde, jeden Tag das Gefühl haben, dass dies der schlimmste Job ist, den sie je hatten. Manchmal haben mich Kollegen gefragt: „Was sollen wir tun?“ Ich denke, die Antwort ist einfach: Unser Motto muss sein: „United we stand, divided we fall [„Nur gemeinsam sind wir stark“]!

Kann man gefeuert werden, wenn man in dem Verteilzentrum über Organisierung spricht?

Ja. Man wird sofort gefeuert. Und wenn du entlassen wirst, lassen sie es niemanden wissen. Wenn sie vermuten, dass du mit jemandem über solche Themen sprichst, dann versetzen sie dich in eine andere Abteilung, und sie versetzen dich immer wieder, damit du in keinem Bereich länger bist und mit Kollegen reden kannst.

Wir sagen, dass die Arbeiter die Kontrolle über den Profit, den sie produzieren, übernehmen müssen. Denn dann könnten die unzähligen Dollars, die die Milliardäre scheffeln, für die Finanzierung der Gesundheitsvorsorge und der Sozialleistungen für Amazon-Arbeiter genutzt werden. Wenn die Wirtschaft wegen der Pandemie heruntergefahren werden muss, dann sind wir in der Lage, jedem Arbeiter einen existenzsichernden Lohn zu geben, bis die Dinge wieder normal laufen. Dies nur ein paar Beispiele.

In Frankreich hat man das versucht. Sie haben versucht, alles zu schließen, aber Amazon ging vor Gericht gegen sie. Ich stimme mit allem, was ihr sagt, vollkommen überein. Das ist ein ganz neuer Gedanke, der die Welt voranbringt. Nur gemeinsam sind wir stark. Man muss sich um die Menschen kümmern. Wir werden unterdrückt und ausgequetscht, und ich sehe überall so viele Menschen, die voller Hass und deprimiert sind, nicht nur in Amerika, sondern auf der ganzen Welt. Ich bin vollkommen einverstanden mit dem, was ihr sagt, und ich glaube, dass das eine sehr gute Sache sein wird. Man muss das Richtige tun und sich um die Menschen kümmern.

Wie du schon sagst: "Nur gemeinsam sind wir stark.“Und wer muss sich zusammenschließen? Die Arbeiterklasse! Das ist unsere Perspektive, die Arbeiterklasse im globalen Maßstab zu vereinen. Wir haben weltweit schon Komitees von Lehrern und Schülern, Busfahrern, Autoarbeitern und anderen Arbeitergruppen gegründet. Sie stellen ihre eigenen Forderungen auf und beginnen, sich mit anderen Arbeitern auf der ganzen Welt zusammenzuschließen, um die Gesellschaft vollständig umzudrehen.

Das [die globale Einheit der Arbeiterklasse] ist eigentlich ein wunderschönes Weltbild. Daran habe ich bisher noch kaum gedacht, was ihr da sagt. Aber was ihr sagt, ist völlig richtig. Die Leute brauchen ihr eigenes Komitee, und wir müssen zusammenkommen und unsere eigenen Entscheidungen treffen.

Wenn es etwas gibt, das du den Arbeitern, die diesen Artikel lesen, sagen möchtest, was wäre das?

Wenn ihr nicht zusammenhaltet, werdet ihr nicht in der Lage sein, euer Leben zu verändern. Ihr werdet nicht in der Lage sein, ein Ziel für die Zukunft zu haben: Ihr werdet nichts haben.

“United we stand, divided we fall,das erinnert an die Worte von Karl Marx: Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!

Arbeiter aller Länder, vereinigt euch. Dem stimme ich voll zu.

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