Brexit-Deal ebnet den Weg für neue Konflikte

Großbritannien und die Europäische Union müssen ihr Handelsabkommen vom 24. Dezember noch ratifizieren. Der Deal zwischen dem Inselreich und der EU betrifft ein Handelsvolumen im Gesamtwert von jährlich 730 Milliarden Euro, zudem bleibt der Handel zwischen ihnen weiterhin frei von Zöllen und Quoten.

Die Zustimmung zum „Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Großbritannien ab dem 1. Januar 2021“ bedeutet den offiziellen Abschluss des Brexit-Prozesses, der im Juni 2016 begann, als im britischen Referendum eine knappe Mehrheit für den Austritt aus der EU gestimmt hatte.

Bereits am heutigen Mittwoch soll das Parlament über den Deal abstimmen, obwohl es nur einen Tag Zeit hatte, über den 1.246 Seiten starken Vertrag zu debattieren. Der konservative Premierminister Boris Johnson verfügt über eine Mehrheit von 80 Sitzen und die Unterstützung der Labour Party, der wichtigsten Oppositionspartei, für den Deal. Nur die Scottish National Party mit 47 Abgeordneten und die Liberaldemokraten mit elf Abgeordneten haben angekündigt, sie würden dagegen stimmen.

Premierminister Boris Johnson unterzeichnet das Austrittsabkommen, nach dem Großbritannien am 31. Januar die EU verlässt (Quelle: britischer Premierminister)

Am Montag trafen sich die EU-Botschafter in Brüssel, um den Deal abzusegnen und den Prozess seiner Annahme einzuleiten. Die EU kann ihn, mit der Zustimmung der EU-Staaten, ab dem 1. Januar provisorisch in Kraft setzen, allerdings noch ohne Zustimmung des Europaparlaments. Dieses wird den Deal vermutlich im Februar ratifizieren.

Das Abkommen wurde nur wenige Tage vor Ablauf der letzten Frist am 31. Dezember ausgehandelt. Im Januar 2020 war Großbritannien gemäß dem Austrittsabkommen mit Brüssel aus der EU aus- und in eine einjährige Übergangsphase eingetreten. Ohne diesen Deal in letzter Stunde hätte Großbritannien ein „harter Brexit“ gedroht, d.h. es hätte nur nach den Bedingungen der Welthandelsorganisation und mit einem komplexen Zollsystem Handel mit der EU treiben können.

Bei den hitzigen Verhandlungen setzten beide Seiten bis zur letzten Minute auf Effekthascherei und Drohungen. Dabei war klar, dass beide Seiten Zugeständnisse machen mussten, was im Fall Großbritanniens vor allem die Fischereirechte betrifft.

Zum Ende der Verhandlungen war Johnson durch die Wahlniederlage von US-Präsident Donald Trump im November stark geschwächt. Der Sieg des Demokraten Joe Biden, dessen Ablehnung des Brexits allgemein bekannt ist, war ein Glücksfall für die EU, denn die Brexit-Strategie der Tory-Regierung beruhte zu einem Großteil auf einem sklavischen Festhalten an Donald Trumps „America First“-Kurs und seiner Feindschaft gegenüber der EU.

Da beide Seiten einen Deal wollten, war ein Abkommen mit vielen ungeklärten Fragen die einzig mögliche Lösung in einer Situation, in der weltweit die Handelskonflikte zwischen imperialistischen Großmächten eskalieren.

Letztendlich wird der Deal nur die vorläufigen Rahmenbedingungen des fortdauernden Konflikts zwischen Großbritannien und der EU festlegen. Es ist der bislang offenste Ausdruck der scharfen Spannungen, die die EU zerreißen. Gleichzeitig verschärft er die globalen Spannungen zwischen den USA und Europa, bei denen Großbritannien die wichtigste Verwerfungslinie ist. So werden die Fragen, die in den Verhandlungen nicht gelöst wurden, unweigerlich zu neuen geopolitischen Konflikten führen.

In dem Dokument wird nichts über Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik erwähnt. In vielen dieser Fragen liegt Großbritannien auf der Linie der USA. Es wird auch weiterhin gegen die EU ausgespielt werden, da Biden nach Verbündeten in Europa suchen wird. Im Vorfeld des Abkommens war Großbritannien bereits aus einer Reihe von Sicherheits- und Verteidigungsvereinbarungen mit der EU ausgetreten, u.a. aus dem globalen Satelliten-Navigationssystem Galileo.

Ebenfalls unerwähnt bleibt im Dokument der Bereich Finanzdienstleistungen. In diesem Bereich gehört Großbritannien mit einer 132 Milliarden Pfund schweren Industrie, die fast sieben Prozent des BIP ausmacht, zur Weltspitze. Im Jahr 2018 beschäftigte die Finanzdienstleistungs-Branche mehr als eine Million Menschen, und London trug 49 Prozent der Leistungen bei.

Laut der Financial Times soll die EU der britischen Regierung mitgeteilt haben, sie könne „erst nach dem 1. Januar erfahren, welche Zugangsrechte ihre Finanzdienstleistungs-Unternehmen in Zukunft zu den Märkten haben werden. Brüssel warnte, es hänge davon ab, wie weit Großbritannien von den Standards der EU abweicht.“

Zuvor hatten sich beide Seiten darauf geeinigt, dass der Zugang zu den Finanzmärkten der jeweils anderen Seite auf einer „Gleichwertigkeit“ der Regulierungssysteme beruhen werde. Brüssel will jedoch zuerst zum Zug kommen. Es ist sich bewusst, dass London versuchen wird, die EU in Bezug auf Arbeitnehmerrechte, Umweltstandards und andere Regulierungen, an die es nicht mehr gebunden ist, zu unterlaufen und sich so wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen.

Bei der Bekanntgabe des Deals machte Johnson seine Absicht deutlich, ein „Singapur an der Themse“ in direkter Konkurrenz zur EU zu errichten. Am 24. Dezember erklärte er in einer Rede, sein Ziel sei die Schaffung einer „riesigen Freihandelszone“. Großbritannien werde „entscheiden können, wie und wo wir neue Arbeitsplätze und neue Hoffnungen schaffen, mit Freihäfen und neuen grünen Industriezonen“. Es wurden bereits zehn solche Freihäfen in Großbritannien beantragt, in denen Unternehmen niedrige Steuern und billige Arbeitskräfte vorfinden werden, u.a. an der Themse in London.

Im ersten Interview nach dem Deal mit dem Sunday Telegraph erklärte Johnson, er habe seine Bereitschaft deutlich gemacht, „das Abkommen zu torpedieren, falls Brüssel ,ständig‘ versuchen sollte, Vergeltungsmaßnahmen zu ergreifen“. Unternehmenssteuern und Regulierungen sollen sorgfältig studiert werden, wobei Schatzkanzler Rishi Sunak als wichtigster Befürworter von Freihäfen „viel Energie drauf verwendet“.

Der Brexit-Deal bringt die Arbeiterklasse in Konflikt mit den rücksichtslosesten und raubgierigsten Teilen der herrschenden Elite. Diese sehen den Brexit als ihre große Chance, die „Thatcher-Revolution“ zu vollenden.

Die reaktionären Versprechungen der „Left Leave“-Kampagne von 2014, die besonders auch von der Socialist Workers Party und der Socialist Party verbreitet wurden, sind geplatzt. Für die Arbeiterklasse wird der Brexit niemals was anderes sein als ein Thatcher'scher Albtraum. Als der Deal abgeschlossen war, veröffentlichte die SWP im Socialist Worker eine Kolumne mit dem Titel „Der Brexit hätte viel mehr sein können“, in der sie schändlicher Weise behauptete: „Die Tories haben verschiedene Versionen des Brexit vorgeschlagen, die es den Bossen noch leichter machen sollen, die Menschen auszubeuten. Sie sehnen sich nach einem ,Singapur an der Themse‘, in dem die Rechte der Arbeiter geschreddert und rassistische Gesetze verschärft werden.“

Wer hätte aber auch gedacht, dass die Tories so etwas in Erwägung ziehen würden!

Der zweite große Mythos, der zerschlagen wurde, ist die Behauptung der Remain-Fraktion der herrschenden Elite und ihrer Unterstützer, die EU könne für die Arbeiterklasse jemals eine fortschrittliche Perspektive sein; die EU würde einen mäßigenden Einfluss auf die Marktwirtschafts-Apologeten der Brexit-Fraktion ausüben. Auf dem gesamten europäischen Kontinent nimmt die soziale Ungleichheit zu, und rechtsextreme Kräfte werden bewusst kultiviert, um sie als Waffe gegen die Arbeiterklasse einzusetzen. Darüber hinaus setzt die EU genauso auf Handelskriege wie Großbritannien.

Bereits das Timing des Abkommens verdeutlicht, dass alle europäischen Mächte brutal ihre Klasseninteressen verfolgen. Der Prozess fiel auf das Ende des Jahres, das den größten vermeidbaren Verlust von Menschenleben in ganz Europa seit dem Zweiten Weltkrieg verzeichnete. Die tödliche Krankheit hat auf dem Kontinent schon weit über eine halbe Million Todesopfer gefordert. Allein in Großbritannien sind offiziell 71.500 Menschen an Covid-19 gestorben, nach anderen maßgeblichen Schätzungen mindestens 80.000.

Allerdings hat zu keinem Zeitpunkt der Verhandlungen eine der beiden Seiten versucht, eine Verschiebung des Austritts Großbritanniens aus der EU auch nur anzusprechen. Dies obwohl die chaotischen Szenen im Hafen von Dover belegten, dass sogar die Verteilung von Lebensmitteln und Medikamenten wie dem Covid-19-Impfstoff akut bedroht war.

Die Socialist Equality Party (UK) und unsere Schwesterparteien im Internationalen Komitee der Vierten Internationale kämpften von Anfang an gegen alle Fraktionen der herrschenden Klasse im Brexit-Debakel. Auch heute betonen wir erneut, dass die einzige progressive Antwort auf die soziale und gesundheitliche Krise, mit der jetzt Millionen konfrontiert sind, im Internationalismus und Sozialismus besteht. Die Arbeiterklasse muss gegen die nationalistische und prokapitalistische Politik der herrschenden Klasse kämpfen und die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa errichten.

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