Ärzte zum Assange-Urteil: „Er muss sofort freigelassen werden“

Ärzte in Großbritannien, Australien und den Vereinigten Staaten fordern die sofortige Freilassung von Julian Assange aus dem Gefängnis, nachdem das Gerichtsurteil vom 4. Januar seine Auslieferung an die USA aus gesundheitlichen Gründen blockiert hat.

Mitglieder der Gruppe Doctors for Assange betonen, dass der WikiLeaks-Gründer nicht sicher sein könne, solange die amerikanischen Spionagevorwürfe gegen ihn aufrechterhalten blieben.

Dr. Stephen Frost

Dr. Stephen Frost ist ein bekannter Spezialist für diagnostische Radiologie in Großbritannien, er hat die Doctors for Assange im November 2019 gegründet. Frost sagte, dass die Gerichtsentscheidung vom Montag die Warnungen der Gruppe über Assanges fragile Gesundheit nach einem Jahrzehnt staatlicher Verfolgung und „psychologischer Folter“ bestätigt habe.

Dr. Frost sagte der WSWS: „Das Ziel von Doctors for Assange war es, die Aufmerksamkeit der Welt auf die medizinische Vernachlässigung und die anhaltende psychologische Folter von Julian Assange zu lenken, über die der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Folter, Professor Nils Melzer, im April 2019 berichtet hatte.

Nach internationalem Recht ist Folter unter allen Umständen absolut verboten. Es gibt keine Ausnahmen. Dass sich fünf Staaten – die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Australien, Schweden und Ecuador – verschworen haben, um einen einzelnen Menschen im Zentrum Londons zu foltern, ist daher unfassbar und darf sich nie wiederholen.

Julian Assange muss dringend medizinisch untersucht und behandelt werden. Nach dem Urteil vom Montag muss er unverzüglich freigelassen werden. Es sollte nicht vergessen werden, dass der Grund, den Richterin Baraitser anführte, um die Auslieferung nicht zuzulassen – Julian Assanges schlechte mentale Gesundheit – direkt auf die oben erwähnte psychologische Folter zurückzuführen ist. Diejenigen, die für diese unentschuldbare Folter verantwortlich sind und sich daran mitschuldig gemacht haben, müssen zur Rechenschaft gezogen werden, nicht zuletzt, weil sie offensichtlich dachten, sie stünden über dem Gesetz.

Folter ist unumkehrbar und unauslöschlich. Im Fall von Julian Assange hat sie zu schwerwiegenden psychotischen Symptomen geführt, nämlich zu ‚auditiven Halluzinationen‘, die ‚herabwürdigender und verfolgungsähnlicher Natur‘ sind. Solche Halluzinationen, in Kombination mit Suizidgedanken, wären in einem US-Supermax-Gefängnis eine wirkungsvolle und unzulässige Kombination. In der Tat ist es äußerst unverantwortlich, ihn mit solch schwerwiegenden, unbehandelten Symptomen ihn im Belmarsh-Gefängnis weiter leiden zu lassen.“

Dr. Sue Wareham

Dr. Sue Wareham, eine pensionierte Allgemeinmedizinerin aus Australien, die sich gegen Militarismus und Krieg einsetzt, sagte, das Urteil sei „sehr erfreulich“. Sie erklärte: „Es war die richtige Entscheidung, Assange wegen des Suizidrisikos nicht auszuliefern, aber es ist entsetzlich, dass sich seine psychische Gesundheit erst bis zu diesem Punkt verschlechtern musste. Damit muss man sich konfrontieren. Er muss angemessen medizinisch versorgt werden, was bis heute nicht geschehen ist.

Das Urteil ist gut, aber es gibt wichtige Aspekte, die zu beachten sind. Die amerikanischen Anklagen müssen komplett fallen gelassen werden, weil sie ein Angriff auf seine Rechte und auf unser Recht auf Information, besonders in Kriegszeiten, sind. Es ist sehr beunruhigend, dass die Richterin in Großbritannien im Grunde genommen akzeptiert hat, was die USA bezüglich der Notwendigkeit, Assange für seine Veröffentlichungstätigkeit zu verfolgen, gesagt haben. Das ist ein Angriff auf die Pressefreiheit, da führt kein Weg dran vorbei.

Die Rolle unserer [australischen] Regierung war sehr enttäuschend. Sie hat im Grunde genommen ihre Hände in Unschuld gewaschen, was Assange betrifft. Sie behauptet, dass sie konsularischen Beistand leiste, aber wir haben keine Beweise dafür gesehen. Weder haben sie seine Interessen wahrgenommen und auf angemessene medizinische Versorgung gepocht, noch haben sie verlangt, dass die amerikanischen Anklagen zurückgezogen werden.

Dies passt dazu, wie sich die australische Regierung insgesamt verhält. Regelmäßig versucht sie, Andersdenkende zum Schweigen zu bringen. David McBride, einer der ersten, der australische Kriegsverbrechen in Afghanistan aufdeckte, die nun Gegenstand einer offiziellen Untersuchung sind, steht selbst unter Anklage. Das ist absurd und eine Farce. Andere, darunter Bernard Collaery und der Zeuge K, werden im Geheimen unter dem Vorwurf der Verletzung der „nationalen Sicherheit“ angeklagt. Das muss einen zutiefst beunruhigen über die Richtung, in die sich die australische Gesellschaft bewegt.

Die australische Regierung hat nichts getan, um Assange zu verteidigen. Im Gegenteil, sie tut das Gleiche, was die USA in seinem Fall versuchen, nämlich diejenigen zu verfolgen, die die Wahrheit berichten. Das ist höchst beunruhigend.“

Krankenhaus-Psychologin Lissa Johnson

Dr. Lissa Johnson, eine Krankenhaus-Psychologin aus Australien, sagte: „Die Richterin in Julian Assanges Verfahren hat die richtige Entscheidung getroffen, nämlich die Auslieferung nach Abschnitt 91 des Auslieferungsgesetzes von 2003 mit der Begründung zu verweigern, dass die unmenschlichen und brutalen Bedingungen in den US-Gefängnissen sich wahrscheinlich als psychologisch tödlich für Julian Assange erweisen würden. Diese Entscheidung ist zu begrüßen und ich bin sehr erleichtert, ganz zu schweigen von der Anklage, die das Urteil gegen das US-Gefängnissystem bedeutet.

Der Rest des Urteils dient jedoch dazu, gleichzeitig jede Berichterstattung über Fragen der nationalen Sicherheit zu kriminalisieren. Das Urteil verweigert den Journalisten jede Verteidigung aufgrund des öffentlichen Interesses, stattdessen werden sie dem Vorwurf der Spionage ausgesetzt. Das Urteil gibt grünes Licht für die Auslieferung aus politischen Gründen und verbreitet zahlreiche Unwahrheiten über Julian Assanges Fall. Auch besteht eine tragische Ironie darin, dass die verheerenden Auswirkungen von 10 Jahren Verfolgung, psychologischer Folter und medizinischer Vernachlässigung das einzige ist, was Julian Assange jetzt vor der Auslieferung schützt. Alles in allem, obwohl die Auslieferung verweigert wurde, bleibt die abschreckende Wirkung auf den investigativen Journalismus und die Berichterstattung über nationale Sicherheitsfragen bestehen.

Ob die Entscheidung einer echten Sorge um Julian Assanges Wohlergehen entspringt, wird sich zeigen, wenn die Kautionsanhörung abgeschlossen ist. Angesichts der offiziellen Anerkennung seines psychologischen Zustands muss Julian Assange dringend auf Kaution freigelassen werden, solange die USA noch gegen die Entscheidung des britischen Gerichts Berufung einlegen. Alles andere wäre eine Verhöhnung des Urteils vom Montag.“

Dr. William Hogan, Direktor der Abteilung für Biomedizinische Informatik an der Universität von Florida, sprach mit der WSWS über seine erste Reaktion auf das Urteil vom 4. Januar:

„Als erstes war ich erleichtert. Ich hatte nicht erwartet, dass die Richterin die Auslieferung verweigert. Dass sie es überhaupt getan hat, ist eine positive Entwicklung. Die Begründung, mit der sie die Auslieferung ablehnte, nämlich seine psychische Gesundheit, spricht für das, wofür sich Doctors for Assange die ganze Zeit eingesetzt haben. Sie bestätigte zu einem großen Teil, worüber wir in Bezug auf seine psychische Gesundheit gesprochen haben. Allerdings lebt er immer noch unter den Bedingungen, die Nils Melzer als wesentlich ursächlich für seine psychische Folter identifiziert hat.

Juristisch ist er immer noch nicht völlig außer Gefahr, weil die USA gegen diese Entscheidung Berufung einlegen. Unsere Position ist also: Solange er im Gefängnis ist, solange die USA ihn noch rechtlich verfolgen, bestehen die Bedingungen seiner psychologischen Folter weiter. Wir fordern, dass alle juristischen Verfahren eingestellt werden und er aus dem Gefängnis entlassen wird, und erst dann wird seine psychologische Folter endlich ein Ende haben.“

Dr. William Hogan

WSWS: „Könnten Sie auf die Befürchtungen für Assanges Gesundheit eingehen?“

WH: „Wir waren besorgt über seine psychische Gesundheit und sein Suizidrisiko. Das wurde durch die Expertenaussagen bestätigt. Der Zeuge der Verteidigung [Dr. Michael] Kopelman konnte sogar die Bezirksrichterin überzeugen. Assange ist ernsthaft suizidgefährdet. Darüber hinaus ist er wegen Covid stark gefährdet. Wir bestehen darauf und fordern erneut, dass er auf Kaution freigelassen wird, und zwar aus genau den beiden Hauptgründen, aus denen wir bereits im März eine Kaution für Assange gefordert und die Ablehnung der Kaution durch die Richterin damals kritisiert hatten: wegen psychologischer Folter und anhaltender Schäden an seiner psychischen Gesundheit und Lebensgefahr, sowohl durch psychische Probleme und Folter als auch durch Covid.“

WSWS: „Sie waren der Hauptautor eines Briefes an Lancet im Juni 2020, unter dem Titel ‚Die anhaltende Folter und medizinische Vernachlässigung von Julian Assange‘. Warum haben Sie und andere Mediziner diesen Schritt unternommen?“

WH: „Wir waren alarmiert über die Art und Weise, wie Assange in der ersten Phase seines Auslieferungsverfahrens behandelt wurde. Das bezieht sich auf alles, von seiner Behandlung im Gefängnis, über die Auslieferungsanhörung – die Glaskasten-Episode, wobei der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sagt, dass solche Glaskästen [wie derjenige, in dem Assange während der Anhörung am Woolwich Crown Court sitzen musste] eine eindeutige Verletzung der Menschenrechte darstellten – bis hin zu den Berichten, dass er Leibesvisitationen unterzogen und mit Handschellen gefesselt durch das Belmarsh-Gefängnis geführt worden ist... Wenn man mit Leuten aus totalitären Ländern spricht, sind das klassische Foltermethoden.

Wir waren entsetzt über seine Behandlung, und dann kam auch noch die Pandemie dazu. Wir hatten große Angst um sein Leben, und wir mussten etwas tun. Wir schrieben den zweiten Brief. [Ein früherer Brief von Doctors for Assange war schon im Februar 2020 im Lancet veröffentlicht worden.] Und glücklicherweise hatte der Herausgeber des Lancet, Richard Horton, Verständnis für unseren zweiten Appell. Wir hatten nicht geplant, dass er ausgerechnet am Vorabend des Internationalen Tags der Folteropfer veröffentlicht würde. Das war ein glücklicher Zufall.“

WSWS: „Wie war die Reaktion der medizinischen Fachleute auf die von Doctors for Assange aufgegriffenen Themen?“

WH: „Die World Psychiatric Association gab am Montag einen Tweet heraus, der Assange unterstützt. Wir haben unsere Mitgliedschaft seit dem ersten Lancet Brief im Februar letzten Jahres wahrscheinlich verdoppelt oder sogar verdreifacht. Aber die großen medizinischen Verbände haben beunruhigender Weise alle geschwiegen: die American Medical Association, die British Medical Association, und auch die World Medical Association. Sie sind stolz auf ihr Engagement gegen Folter im Zweiten Weltkrieg und in den 1960er Jahren, aber zu Assange haben sie kein Wort gesagt und sind völlig verstummt. Offenbar hatten sie Angst, sich zu äußern.

Außerdem glaube ich, dass die Verleumdungstaktiken funktioniert haben. Nils Melzer beschreibt, dass er, als er von Dr. Sondra Crosby kontaktiert wurde, voll und ganz damit rechnete, jede Vorstellung, Assange werde gefoltert, zerstreuen zu können. Und dass er schockiert war, als er das Gegenteil herausfand. Und als er anschließend den Fall untersuchte, stellte er fest, dass er selbst von den Verleumdungen getäuscht worden war. Ich denke also, dass ein großer Teil der medizinischen Gemeinschaft sich der Fakten einfach nicht bewusst ist.

Auf dem Spiel stehen die kostbarsten Prinzipien der Ärzteschaft. Wir sind gegen Folter. Was im Zweiten Weltkrieg in Nazi-Deutschland geschah, schockierte die Welt – besonders weil die Ärzteschaft an den Schrecken dieses Regimes beteiligt war. Was nun hier geschieht, verstößt gegen die ärztliche Ethik. Wir sollten nur Dinge tun, die zum Guten gereichen und dem Wohl unserer Patienten dienen, und wenn wir Ungerechtigkeiten und Folter wie diese sehen, dann müssen wir unsere Stimme erheben. Dagegen müssen wir uns geschlossen und mit lauter Stimme wehren.“

WSWS: „Assanges Auslieferungsanhörungen fielen mit einer Pandemie zusammen, die mehr als 1,7 Millionen Menschen getötet hat. Das zeigt nicht nur, wie wichtig die Ärzte sind, sondern auch, dass die allgemeine Öffentlichkeit keinen Zugang zu genauen Informationen hat. Haben Sie dazu irgendwelche Beobachtungen gemacht, auch im Zusammenhang mit dem Angriff auf WikiLeaks?“

WH: „Das Wichtigste, was wir brauchen, sind vertrauenswürdige Informationen: medizinische Informationen, aber auch Informationen darüber, was unsere Regierungen als Reaktion darauf tun. Sogar die Logistik, wie viele Impfstoffe wohin gehen und wann, und was die Verzögerungen sind. Die Mainstream-Medien sind nicht vertrauenswürdig, also gibt es eine Menge Unsicherheit und Misstrauen gegenüber offiziellen Informationsquellen. Und dann gibt es da WikiLeaks, das eine perfekte Erfolgsbilanz hat, ohne dass es je etwas hätte zurücknehmen müssen. Wir brauchen diese Stimme von WikiLeaks, um die Betrüger und die Vertuschungen der Regierung aufzudecken. Es ist eine Tragödie, dass wir das bei dieser Pandemie vermissen.“

WSWS: „Was denken Sie über die Rolle der WSWS bei der Verteidigung von Assange und die Rolle, die sie in der Pandemie spielt?“

WH: „Sie ist eine wichtige Stimme, die zunächst einmal für das Leben eintritt. Sie setzt sich dafür ein, dass Menschen wichtiger sind als Profite. Es mag sich etwas überstrapaziert anhören, aber Junge! sie bringt es stark heraus, wenn Paketzusteller, Busfahrer, Zugbegleiter, Fleischpacker – wenn die Arbeiterklasse gezwungen ist, ihr Leben zu riskieren, um die Profite der Konzerne zu sichern. Wenn sie während einer Pandemie arbeiten müssen.

Die WSWS spielt eine entscheidende Rolle, sie ist für Leben vor Profit eine starke Stimme. Sie ist auch eine unermüdliche Verfechterin der Menschenrechte und der Wahrheit im Fall Julian Assange und hat seine Verfolgung und Folter systematisch angeprangert.“

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