43 Flüchtlinge ertrinken vor Libyen – Opfer der EU-Flüchtlingspolitik

Am 19. Januar ertranken mindestens 43 Flüchtlinge bei der Überfahrt Richtung Europa im Mittelmeer vor der libyschen Küste. Nur zehn Menschen konnten gerettet werden. Sie wurden von der libyschen Küstenwache zurück nach Libyen gebracht. Das von der Europäischen Union zu verantwortende Massensterben im Mittelmeer geht damit auch in diesem Jahr weiter.

Das mit mehr als 50 Flüchtlingen besetzte Schlauchboot kenterte wenige Stunden nach der Abfahrt am frühen Morgen von der Hafenstadt Zawiyah westlich von Tripolis, als im hohen Seegang der Motor ausfiel. Die Überlebenden, die aus der Elfenbeinküste, Nigeria, Ghana und Gambia stammen, gaben an, dass alle Menschen an Bord des gekenterten Bootes aus Westafrika gewesen seien.

Seenotrettung durch SOS Méditerranée

Dieses sinnlose Sterben von Menschen, die vor Bürgerkrieg, Armut und Elend fliehen, haben in erster Linie die Regierungen in Berlin, Rom, Paris, Wien und Den Haag zu verantworten. In enger Komplizenschaft mit der Europäischen Kommission in Brüssel haben sie den Flüchtlingen alle legalen Wege nach Europa versperrt.

Als die Flüchtlinge dann gezwungenermaßen auf winzige und kaum seetaugliche Schlauchboote auswichen, sorgten die europäischen Regierungen mit krimineller Energie dafür, dass fast sämtliche Seenotrettungsmaßnahmen im zentralen Mittelmeer eingestellt werden mussten. An ihren Händen klebt im wahrsten Sinne des Wortes das Blut von mehr als zwanzigtausend Menschen, die in den letzten acht Jahren während der Flucht ertrunken sind.

Welche Tragödien sich auf dem Mittelmeer abspielen, macht der Fall des aus Guinea stammenden Souleymane deutlich. Souleymane wurde im vergangenen März von der Nachrichtenwebsite Infomigrants interviewt, als er noch in Libyen lebte und auf eine Chance wartete, nach Europa zu gelangen. Nun ist er bei dem Schiffsunglück vom letzten Dienstag ertrunken. Souleymane ist nur 18 Jahre alt geworden.

Sein Freund Moussa, der zu den Überlebenden des Unglücks zählt, berichtete Infomigrants, dass die See wenige Stunden nach der Abfahrt immer unruhiger geworden sei. Das Boot sei gekentert und Souleymane, der nicht schwimmen konnte, ins Wasser gefallen. Moussa konnte ihn noch einmal packen und zurück zum Boot ziehen. Souleymane trieb noch im Wasser und hielt sich nur außen am Boot fest, als eine zweite Welle das Schlauchboot erfasste.

„Ich bin kaputt. Ich kann mich nicht länger festhalten“, waren die letzten Worte, die Souleymane sprach, bevor sein Körper endgültig ins Meer glitt. „Er ist nicht wieder aufgetaucht,“ flüsterte Sylla, der ebenfalls aus Guinea geflohen ist und in Libyen lebt.

Im März berichtete Souleymane Infomigrants von seinen Leiden in Libyen, wo er bereits 2018 angekommen war. Zweimal wurde er von der Polizei inhaftiert, nachdem sein Boot von der libyschen Küstenwache aufgebracht worden war.

Diese sogenannte libysche Küstenwache ist von der Europäischen Union finanziert, ausgerüstet und ausgebildet worden. Sie besteht aber wesentlich aus den sich im Land bekriegenden Milizen, die die Flüchtlinge misshandeln und nicht selten als Sklaven verkaufen.

Souleymane wurde in die Internierungslager in Tajourah und Zouara gebracht und gefoltert, so wie alle anderen Flüchtlinge dort. Er wurde auch von Leuten misshandelt und mit Messern schwer verletzt, die ihn unter dem Vorwand, dass sie Arbeit für ihn hätten, mitgenommen hatten.

Im letzten Sommer starb seine Mutter in Guinea, aber Souleymane konnte nicht einmal zu ihrer Beerdigung gehen, da er in Libyen festhing. Am Dienstag stieg er dann zum vierten und letzten Mal in ein winziges Schlauchboot, in der Hoffnung, endlich nach Europa zu gelangen, um dort zu arbeiten und ein neues Leben anzufangen. Er starb bei dem ersten schweren Schiffsunglück im zentralen Mittelmeer in diesem Jahr.

Seenotrettung

„Wir haben eine gewaltige Seenotrettungslücke, da fast sämtliche Rettungsschiffe von den Behörden festgesetzt worden sind oder Ermittlungsverfahren laufen und sie deswegen nicht auslaufen können“, erklärte ein Sprecher von AlarmPhone zur Lage im Mittelmeer.

Die einzige Hilfsorganisation, die derzeit mit einem Boot im Mittelmeer operieren kann, ist SOS Méditerranée. Deren Schiff Open Viking, das nach fünfeinhalb Monaten Zwangspause am 11. Januar erstmals wieder auslaufen konnte, hat innerhalb von nur 48 Stunden 374 Flüchtlinge aus dem eiskalten Wasser gefischt und vor dem Ertrinken gerettet. Bei einem weiteren Schiffsunglück kam die Open Viking jedoch zu spät und musste mit ansehen, wie die libysche Küstenwache mehr als 80 Flüchtlinge aufgriff und zurück nach Libyen brachte.

Die Internationale Organisation für Migration (IOM) mit Sitz in Genf berichtete am Freitag, dass „in diesem Jahr bereits mehr als 300 Flüchtlinge, darunter Frauen und Kinder, von der libyschen Küstenwache gewaltsam zurück nach Libyen gebracht und dort interniert worden sind“. Die IOM wiederholte ihre Forderung, „dass kein Flüchtling nach Libyen zurückgebracht werden darf“.

In einer gemeinsamen Erklärung äußern die IOM und der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) die Befürchtung, dass die Zahl der Menschen, die im Mittelmeer im vergangenen Jahr ertrunken sind, viel höher ist als angenommen, da die Seeroute offiziell kaum noch überwacht wird.

Die Europäische Union hat sich 2019 aus der Seenotrettung zurückgezogen. Im vergangenen Jahr hat sie die zivilen Seenotrettungsmissionen kriminalisiert, verfolgt und gezielt aus dem Verkehr gezogen. Die Seenotrettung bleibt so der angeblichen libyschen Küstenwache überlassen, die schmutzige Handlangerdienste bei der brutalen Flüchtlingsabwehr der EU leistet.

IOM und UNHCR erklären jedoch, dass Libyen keineswegs ein sicherer Zufluchtsort für Flüchtlinge sei, wie die europäischen Regierungen gerne behaupten. „Weiterhin werden Migranten dort willkürlich verhaftet und unter grausamsten Bedingungen interniert. Sie werden von Menschenhändlern und Schmugglern schikaniert und ausgebeutet, festgehalten, um Lösegeld zu erpressen, gefoltert und misshandelt.“

Im vergangenen Jahr sind nach Angaben des Missing Migrants Projekts offiziell 977 Flüchtlinge auf der zentralen Mittelmeerroute ums Leben gekommen, was sie zur tödlichsten Flüchtlingsroute weltweit macht.

Die Hilfsorganisation AlarmPhone schätzt, dass 2020 insgesamt 27.435 Menschen versucht haben, aus Libyen zu fliehen. 5375 Menschen haben mit 75 Booten die kleine italienische Insel Lampedusa erreicht, 2281 Menschen haben es nach Malta geschafft. 3700 Flüchtlinge wurden von zivilen Seenotrettungsschiffen von Flüchtlingshilfsorganisationen auf hoher See gerettet und nach Italien gebracht. Aber 11.891 Flüchtlinge wurden von der so genannten libyschen Küstenwache auf hoher See aufgegriffen und zurück nach Libyen in die dortigen Folterlager gebracht. Insgesamt sollen noch mindestens 200.000 Flüchtlinge unter elendesten Bedingungen in Libyen leben, ein bedeutender Teil in den zahlreichen Internierungslagern der verschiedenen Milizen.

Im April letzten Jahres nutzte die italienische Regierung mit dem damals noch amtierenden rechtsextremen Innenminister Matteo Salvini die Covid-19-Pandemie, um alle italienischen Häfen für „unsicher“ zu erklären und Flüchtlingen damit das Anlanden zu verbieten. Besatzungen der zivilen Seenotrettungsschiffe wurden kriminalisiert und wegen angeblicher Beihilfe zur illegalen Einwanderung angeklagt.

Gleichzeitig hat die EU nicht nur die libysche Küstenwache bei deren illegalen Rücktransporten von Flüchtlingen unterstützt, sondern auch selbst illegale „Pushbacks“ von Flüchtlingen auf hoher See durchgeführt, also Flüchtlinge abgedrängt, ohne ihnen die Chance zu geben, einen Asylantrag zu stellen.

Die Regierung Maltas hat für eine solche Pushback-Aktion sogar einen zivilen Fischkutter genutzt. Am Ende starben elf Flüchtlinge. Ähnliche illegale Pushbacks werden immer öfter auch in der Ägäis von der griechischen Küstenwache durchgeführt und vor allem auch an der Grenze zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina.

Kroatien, Bosnien und Griechenland

Insbesondere die kroatischen Grenzsoldaten gehen mit äußerster Brutalität gegen die Flüchtlinge vor. Das Borderviolence Monitoring Network hat alleine hier Pushbacks von rund 12.000 Betroffenen erfasst. Die Flüchtlinge werden oftmals mit Schlagstöcken und Peitschen von den kroatischen Grenzschützern gejagt und geschlagen. Sie werden ausgeraubt und misshandelt.

Finanziert wird das gewalttätige Grenzregime des EU-Mitgliedsstaates Kroatien nicht unwesentlich von der Europäischen Union. 6,8 Millionen Euro hat die EU im letzten Jahr dafür zur Verfügung gestellt.

„Wir stehen Kroatien als Partner zur Seite,“ bekräftigte der deutsche Innenminister Horst Seehofer, als im Januar 2020 Wärmebildkameras übergeben wurden. Im Dezember folgte die Übergabe von 20 Fahrzeugen, die die deutsche Bundesregierung Kroatiens Grenzsoldaten zur Verfügung stellte. Der kroatische Innenminister Davor Bozinovic bedankte sich nicht nur artig für die millionenschwere Unterstützung, sondern versprach auch, dass die Deutschen umfassend über die Arbeit der kroatischen Grenzschützer informiert werden. Die Bundesregierung ist nicht nur bestens über die schweren Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen der EU informiert, sondern unterstützt diese auch massiv.

Die verbrecherische Haltung der EU bei der Flüchtlingsabwehr wird insbesondere in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln und in Bosnien offenbar. Auf der Insel Lesbos versinken die Zelte der mehr als 7000 dort untergebrachten Flüchtlinge im Lager Kara Tepe im Schlamm. Es gibt weder ausreichend Essen noch Strom, fließend warmes Wasser oder eine angemessene Gesundheitsversorgung. Dennoch weigert sich die griechische Regierung, die Flüchtlinge auf das Festland zu bringen.

Die deutsche Bundesregierung hatte vollmundig angekündigt, nach dem Brand des Lagers Moria im September 2020 mindestens 1500 Flüchtlinge aufzunehmen. Tatsächlich sind bislang nur 291 Flüchtlinge nach Deutschland geflogen worden, während tausende Menschen, darunter zahlreiche Kleinkinder, unter völlig menschenunwürdigen Bedingungen weiter im Lager verweilen müssen.

Ähnlich zugespitzt ist die Situation in der kroatisch-bosnischen Grenzregion, insbesondere seit dem Brand im Lager Lipa am 23. Dezember. Mehr als 9000 Flüchtlinge sind der bitteren Kälte des bosnischen Winters nahezu schutzlos ausgeliefert. Notdürftige Lager gibt es nur für rund 5600 Flüchtlinge. D.h. mehr als 3000 Flüchtlinge schlafen in Ruinen, behelfsmäßigen Zelten oder unter freiem Himmel.

Die humanitäre Katastrophe, die sich in Bosnien und im Mittelmeer abspielt, ist die Folge der kriminellen und zynischen Politik der EU. „Es muss wiederholt werden, dass die EU-Politik konsistent und kohärent war, und die EU alle finanziellen Mittel bereitgestellt hat, die nötig waren“, zitierte die Tageszeitung Die Welt vergangene Woche aus einem vertraulichen Papier der EU-Kommission über die Notlage der Flüchtlinge in Bosnien.

Das Vorgehen in Libyen und Bosnien-Herzegowina ist stets dasselbe: Die EU zahlt kriminellen Banden und korrupten Eliten Hunderte Millionen Euro, damit diese die Drecksarbeit machen und der EU die Flüchtlinge vom Hals halten. Mit dem insbesondere vom deutschen Innenminister Horst Seehofer wiederholten Mantra, „die Hilfe muss vor Ort erfolgen“, wäscht sich die EU dann die Hände in Unschuld und behauptet, nicht für die katastrophale Situation der Flüchtlinge vor Ort verantwortlich zu sein.

Wie die Flüchtlingshilfsorganisation ProAsyl dagegen erklärt, gibt es in diesen Ländern weder ein funktionierendes Asyl- noch ein Aufnahmesystem für Flüchtlinge. Stattdessen werden die Flüchtlinge im besten Fall sich selbst überlassen, im schlimmsten Fall interniert und grausam misshandelt.

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