Russland: Politische Krise verschärft sich, weitere Demonstrationen für Nawalny

Am Sonntag nahmen in Russland in mindestens 80 Städten mehrere zehntausend Menschen an erneuten Protesten zur Unterstützung des inhaftierten Oppositionsführers Alexei Nawalny teil. Mehr als 4.000 Menschen wurden verhaftet, und in Moskau wurden für die Dauer der Proteste mehrere U-Bahnstationen gesperrt. Dieses gewaltsame Vorgehen verdeutlicht, dass der Kreml wegen der Proteste äußerst nervös und besorgt ist.

Nawalny soll am heutigen Dienstag vor Gericht erscheinen. Ihm wird vorgeworfen, gegen die Bewährungsauflagen nach einer Anklage wegen Betrugs im Jahr 2014 verstoßen zu haben. Ihm drohen bis zu dreieinhalb Jahre Haft.

Berichten zufolge waren die Teilnehmerzahlen am Sonntag niedriger als bei den Protesten in der vorigen Woche. Genau wie zuvor beschränkten sich die Forderungen der Demonstranten auf die Freilassung Nawalnys und die Absetzung Putins. Verschiedene politische Kräfte wie monarchistische Tendenzen, rechtsextreme nationalistische Gruppierungen und pseudolinke Tendenzen wie die pablistische Russische Sozialistische Bewegung nahmen an den Protesten teil.

Alexei Nawalny [Wikimedia Commons]

Die stalinistische Kommunistische Partei Russlands (KPRF), die lange Zeit eine wichtige Stütze des Putin-Regimes war, steht Berichten zufolge wegen der Haltung zu Nawalny am Rande einer Spaltung. Laut ihrer Onlinezeitung Gaseta.ru herrscht in der Partei „Chaos“. Der offizielle Parteichef Gennadi Sjuganow steht weiterhin hinter Putin und verurteilt Nawalny als „ausländischen Agenten“, während ein wachsender Flügel um Waleri Raschin sich offen hinter Nawalny stellt. Die stalinistische Vereinigte Kommunistische Partei Russlands (OKP) von Daria Mitina, die die World Socialist Web Site vor mehreren Jahren als Agentin des Kremls entlarvt hat, unterstützte die Proteste ebenfalls.

Das russische Außenministerium veröffentlichte eine Erklärung auf Facebook, in der es den USA vorwarf, sie würden diese Proteste im Rahmen einer Strategie schüren, welche die Denkfabrik RAND Corporation im Jahr 2019 in einem Bericht veröffentlicht hatte. Die Denkfabrik, die in der Vergangenheit einen beträchtlichen Einfluss auf die Außenpolitik Washingtons ausgeübt hat, hatte eine Reihe von außenpolitischen, militärischen, wirtschaftlichen und innenpolitischen Provokationen vorgeschlagen, um „den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen, Russland zum Wettbewerb in Bereichen zu zwingen, in denen die USA einen Wettbewerbsvorteil haben, und dazu zu bringen, sich militärisch oder wirtschaftlich zu überstrapazieren oder dem Regime innenpolitische und/oder internationale Prestige- und Einflussverluste zu bescheren“.

Es steht außer Frage, dass der US-amerikanische und der deutsche Imperialismus diese Proteste und besonders Nawalny unterstützt haben, um das Putin-Regime zu destabilisieren. Nawalny ist eine rechtsextreme Gestalt, dessen Beziehungen zu Washington und der extremen Rechten in Russland allgemein bekannt sind. Er selbst hat sich weder von diesen Beziehungen distanziert, noch versucht, sie zu verbergen. Die ganze Geschichte über den „Giftanschlag“ des Kremls auf Nawalny, die in der westlichen bürgerlichen Presse breitgetreten wurde, steckt voller offenkundiger Widersprüche.

Das Video, das angeblich einen Palast Putins am Schwarzen Meer zeigt, wurde während Nawalnys Aufenthalt in Deutschland gedreht und mittlerweile von mehr als 100 Millionen Menschen angesehen. Mit dem Video versuchen Nawalny und seine imperialistischen Hintermänner zweifellos, an die enorme Wut über die gewaltige soziale Ungleichheit zu appellieren. Der Kreml hat versucht, die negativen Auswirkungen des Videos aufzufangen, indem er erklärte, der Palast gehöre dem allgemein verhassten Oligarchen und Judo-Partner Putins, Arkadi Rotenberg.

Die politische Krise in Russland und die zunehmenden Spaltungen innerhalb der Oligarchie und dem Staat können nur in ihrem breiteren historischen und internationalen Rahmen verstanden werden. Genau wie im Rest der Welt hat die Corona-Pandemie auch in Russland die Gesellschaft zutiefst destabilisiert. Das Putin-Regime hat, genau wie seine Äquivalente im Rest der Welt, eine Politik der „Herdenimmunität“ betrieben und trägt damit die volle Verantwortung für Zehntausende Tote und die soziale Verelendung von Dutzenden Millionen Menschen. Insgesamt sind letztes Jahr in Russland mehr als eine halbe Million Menschen gestorben – der bedeutendste Bevölkerungsverlust seit 15 Jahren.

Diese soziale und menschliche Zerstörung kommt zusätzlich zu den Folgen des jahrzehntelangen Sparkurses, der Zerstörung des Gesundheitssystems und anderer Sozialleistungen sowie der allgemeinen Verelendung der Bevölkerung nach der Auflösung der Sowjetunion durch die Stalinisten im Jahr 1991. In Russland sind weitaus mehr Beschäftigte des Gesundheitswesens gestorben als in vielen anderen Ländern, weil sie nicht über ausreichende Schutzausrüstung verfügen und ihre Arbeitsbedingungen allgemein schlecht sind.

Laut offiziellen Angaben ist die Zahl der Arbeitslosen letztes Jahr auf 4,4 Millionen gestiegen, fast 25 Prozent (oder eine Million) mehr als im Vorjahr. Mehr als die Hälfte davon erhalten keinerlei Arbeitslosenhilfe, sodass sie und ihre Familien ihrem Schicksal überlassen bleiben. Das Arbeitsministerium hat vor Kurzem ein erbärmliches Programm angekündigt, das die erneute Anstellung von nur 400.000 Arbeitslosen in irgendeiner Art von Beschäftigung vorsieht. Mindestens 19,6 Millionen Menschen gelten als arm, bei einer Bevölkerung von 140 Millionen Menschen.

Diese Zahl unterschätzt das Ausmaß der sozialen Verzweiflung in der überwältigenden Mehrheit der Arbeiterklasse zweifellos deutlich. Mehr als ein Drittel der Arbeiter hat Einkommensverluste verzeichnet, und fünfzehn Prozent hatten Einkommensverluste von mindestens einem Fünftel. Angesichts der Armutslöhne, die die meisten Arbeiter bereits vor der Pandemie verdient haben, haben solche Einkommensverluste für Millionen Menschen verheerende Folgen. Eine beträchtliche Anzahl von Rentnern und Arbeitern können sich keine Lebensmittel in Läden mehr leisten und müssen stattdessen in den Wäldern Pilze sammeln und selbst Gemüse anbauen.

Gleichzeitig konnte das reichste Prozent der russischen Bevölkerung während der Pandemie das in seinen Händen konzentrierte Vermögen auf 50 Prozent erhöhen, d.h. deutlich mehr als der internationale Durchschnitt von 44 Prozent. Schon vor der Pandemie war Russland weltweit diejenige große Volkswirtschaft mit der schärfsten sozialen Ungleichheit: im Jahr 2017, dem 100. Jubiläum der Oktoberrevolution, besaßen die reichsten zehn Prozent der russischen Bevölkerung 89 Prozent des Vermögens im Land. Die zehn reichsten Oligarchen besaßen im Jahr 2020 zusammen 151,6 Milliarden Dollar. In breiten Teilen der arbeitenden Bevölkerung herrscht enorme soziale und politische Wut, nicht nur auf das Putin-Regime, sondern auf das ganze bestehende Gesellschaftssystem.

Unter diesen Bedingungen ist es kein Zufall, dass der Begriff „Kapitalismus“ in keinem Artikel und keiner Erklärung zu den Nawalny-Protesten erwähnt wird. Putins persönlicher Reichtum wird von den bürgerlichen Medien und Nawalnys politischen Unterstützern als Fehlverhalten eines Individuums und als Ergebnis seiner „Korruption“ dargestellt, nicht aber als Resultat der Wiedereinführung des Kapitalismus. Gleichzeitig wird nie erwähnt, dass letzten März mit der Rettung der Großkonzerne eine der größten Plünderungsaktionen der Geschichte stattgefunden hat, für die die Arbeiter in der „Back-to-Work“-Kampagne mit ihrem Leben bezahlt haben, während Personen wie Elon Musk ein Vermögen von mehr als 185 Milliarden Dollar anhäufen konnten. Die gleiche objektive Dynamik – die Notwendigkeit, Mehrwert aus der Arbeiterklasse zu extrahieren, um die Profite der herrschenden Klasse zu sichern – bildet auch die Grundlage der Back-to-Work-Kampagne in Russland und der verfrühten Öffnung der Fabriken.

Die politischen Kräfte, die Russland dominieren, haben eines gemeinsam, egal ob sie sich hinter Putin oder hinter Nawalny stellen: ihre unerschütterliche Unterstützung für den Kapitalismus und extremen Nationalismus. Was sie am meisten fürchten, ist eine Intervention der Arbeiterklasse in das soziale und politische Leben auf einer unabhängigen und internationalistischen Grundlage. Eine solche Intervention steht jedoch auf der Tagesordnung und hat in den USA und im Rest der Welt bereits begonnen. Die wichtigste Aufgabe ist es jetzt, sie politisch durch die Aneignung der Geschichte der trotzkistischen Bewegung, die den stalinistischen Verrat an der Oktoberrevolution von 1917 bekämpft hat, und den Kampf für eine Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in Russland vorzubereiten.

Weitere Informationen über die trotzkistische Einschätzung des Stalinismus und die Auflösung der Sowjetunion auf der WSWS-Themenseite über die Auflösung der Sowjetunion.

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