Marokko: Autoarbeiter in Kenitra widersetzen sich Polizei und beginnen spontanen Streik

Am 27. Januar legten die Arbeiter des Stellantis-Autowerks im marokkanischen Kenitra die Arbeit nieder und blockierten das Werk. Sie fordern höhere Löhne, vernünftige Hygienemaßnahmen und bessere Arbeitsbedingungen. Die Nachricht über den Streik breitete sich in den sozialen Medien schnell aus und stieß auf große Unterstützung von Arbeitern in Frankreich und weltweit. Stellantis entstand am 15. Januar durch die Fusion zwischen Fiat Chrysler und dem französischen Autobauer PSA, zu dem auch Opel gehört.

Stellantis-Werk im marokkanischen Kenitra (Quelle: marokkanisches Innenministerium)

In dem Werk sollen in diesem Jahr 200.000 Fahrzeuge gebaut werden, darunter der Peugeot 208 und der Citroën AMI. Die 2.500 Arbeiter zogen durch das Werk und versperrten die Ausgänge. Danach legten sie dem Produktionsleiter Forderungen vor, die mittlerweile in den sozialen Medien kursieren. Ihr Streik richtet sich vor allem gegen die sehr niedrigen Löhne (2600 Dirham bzw. 240 Euro pro Monat), unhygienische Verhältnisse, ausstehende Sonderzahlungen und Überstundenzuschläge – u.a. wurde ein Leistungsbonus seit sechs Monaten nicht gezahlt – und die schlechte Ausstattung der Arbeitsplätze.

Die Arbeiter fordern außerdem eine allgemeine Krankenversicherung, Entschädigung für Arbeitsunfälle, längere Pausen und eine respektvollere Behandlung durch die Manager des Werks. Sie sagen weiter, sie würden erst wieder an die Arbeit gehen, wenn ihre Forderungen erfüllt seien.

Die marokkanische Ausgabe der Zeitung L’Opinion, die mit Streikenden in Kenitra sprach, schreibt: „Die Mehrheit der Arbeiter sind über kurzfristige 12-monatige Verträge beschäftigt, die keine medizinische Versorgung oder Schutz im Fall von ernsthaften Unfällen vorsehen; ihre Monatslöhne liegen unter 2.400 Dirham. Sie bestätigten außerdem, dass viele Beschäftigte nach Schichtende unbezahlt eine Stunde länger arbeiten müssen.“

Am ersten Abend des Streiks umstellten mehrere Polizeieinheiten das Werk, um die Streikenden vor dem nächsten Treffen mit dem Management am 29. Januar einzuschüchtern. Am 28. Januar organisierten die Arbeiter jedoch eine Sitzblockade vor dem Werk. Da die Geschäftsführung am 29.1. eine Einigung ablehnte, geht der Streik laut aktuellen Berichten weiter.

Das Werk in Kenitra ist für Stellantis von strategischer Bedeutung, da Marokko Südafrika als führenden Autobauer in Afrika abgelöst hat. Während der Vorläufer PSA im Jahr 2020 einen Rückgang der Absätze in Europa verzeichnete, stieg der Marktanteil im Nahen Osten um 46 Prozent, teilweise durch deutliche Zuwächse bei den Verkaufszahlen in der Türkei und Ägypten. Ein beträchtlicher Teil der Produktion in Kenitra ist für die Märkte im Nahen Osten bestimmt.

Die Bewegung in Kenitra ist Ausdruck einer wachsenden Wut der internationalen Arbeiterklasse über die Auswirkungen der Pandemie und die Arbeitsbedingungen, die durch die Fusion von PSA und Fiat Chrysler entstanden sind.

Da die Absatzzahlen von PSA um 27,8 Prozent und die von Fiat Chrysler um 17 Prozent gesunken sind, versucht das neue Unternehmen durch die Beschäftigung einer extrem ausgebeuteten Belegschaft in Marokko, Frankreich und international mitten in der Pandemie seine Profite zu maximieren. In Marokko haben sich laut offiziellen Angaben 475.589 Menschen mit Covid-19 angesteckt, 8.408 sind gestorben; am Montag wurden 234 Neuinfektionen bestätigt. In Europa gibt es nunmehr 31,4 Millionen Infektionen und 750.000 Tote.

In den sozialen Netzwerken reagieren Arbeiter auf den Streik in Kenitra mit großem Zuspruch. Ein Arbeiter des Transportausrüstungs-Herstellers Alstom in Frankreich kommentiert auf Facebook über den Unterschied zwischen dem Streik in Kenitra und den üblichen korrupten Deals zwischen Gewerkschaften und Management: „Sie haben recht, und es ist selten, dass jemand Peugeot Forderungen vorlegt. Forderungen vorzulegen ist nämlich offensiv, nicht so defensiv wie das Verhandeln über Vorschläge von Bossen und Management.“

Ein weiterer schreibt an die Adresse der Arbeiter in Kenitra: „Ihr seid in einer starken Position, Genossen! Macht weiter, sie haben Probleme die neuen Bestellungen für Autos zu erfüllen.“

Die Bedingungen für einen mächtigen internationalen Streik gegen Stellantis und eine breite Mobilisierung der Arbeiterklasse sind reif. Dies könnte nicht nur zur Verbesserung der Löhne und Arbeitsbedingungen bei Stellantis führen, sondern auch die Grundlage für einen Kampf gegen die Corona-Pandemie und die Kriege des französischen Imperialismus in Mali und ganz Westafrika schaffen. Die besten Verbündeten der Arbeiter in Kenitra sind in diesem Kampf die internationalen Stellantis-Arbeiter und ihre Klassenbrüder und -schwestern im Rest der Welt.

Doch für einen solchen Kampf müssen sich die Arbeiter in Aktionskomitees organisieren, unabhängig von den Gewerkschaftsbürokratien, und sich auf einen politischen Kampf vorbereiten. In den USA haben Stellantis-Arbeiter bereits in mehreren Werken solche Komitees gegründet.

Dass bereits am Abend des ersten Streiktags in Kenitra die Bereitschaftspolizei eingesetzt wurde, muss als Warnung verstanden werden: Die korrupte marokkanische Monarchie, deren enge Beziehungen zu Washington und Paris allgemein bekannt sind, betrachtet einen Streik bei Stellantis als eine unzumutbare Bedrohung ihrer Interessen und ihrer Beziehungen zum internationalen Finanzkapital.

Auch der Applaus der französischen Gewerkschaftsbürokratie für den Streik in Kenitra ist reine Heuchelei. Die französischen Gewerkschaften haben nicht nur die Kriege des französischen Imperialismus in Syrien, Libyen, Mali und dem Mittelmeerraum unterstützt, sondern werden auch von Bürokraten geführt, die auf Kosten der Autoarbeiter eng mit dem Stellantis-Management zusammenarbeiten.

Das gilt besonders für Jean-Marc Mercier, den wichtigsten Delegierten der stalinistisch geprägten Gewerkschaft Confédération générale du travail (CGT) bei Stellantis in Frankreich. Dieser hat ein Video veröffentlicht, in dem er den Streik bei Kenitra heuchlerisch lobt.

Als führendes Mitglied der kleinbürgerlichen Partei Lutte Ouvrière (LO) hat Mercier in der Europawahl 2019 gemeinsam mit Präsidentschaftskandidatin Nathalie Arthaud die Liste der LO angeführt. Mercier hat langjährige Erfahrungen bei Stellantis, u.a. hat er im Jahr 2013 die Schließung des Werks in Aulnay im Norden von Paris koordiniert. Heute ist er Delegierter des Stellantis-Werks in Poissy.

In seinem Video erklärt er, in Marokko seien die Löhne genauso „blockiert wie in Frankreich, England, Deutschland und Algerien“. Er betont dann den Unterschied zwischen den Bedingungen der Autoarbeiter und der finanziellen Lage des Unternehmens. Laut Mercier hat Stellantis im letzten Jahr „2,5 Milliarden Euro“ Profit gemacht. „Allerdings arbeiten wir jeden Tag die Woche, samstags, nachts (...) Unsere Löhne, eure Löhne müssen steigen.“ Er verspricht: „Wir werden über euren Streik in den Stellantis-Fabriken in Frankreich und ganz Europa berichten.“

Tatsächlich ist sich Mercier der gefährlichen sozialen Wut in Europa über die kriminelle offizielle Reaktion auf die Pandemie und den starken Anstieg der sozialen Ungleichheit bewusst. Deshalb will er verzweifelt verhindern, dass die Gewerkschaften von den Arbeitern überrannt werden. Die alibihaften Solidaritätsaktionen, die Mercier vielleicht organisiert, werden den Arbeitern in Kenitra so wenig helfen wie sie denen in Aulnay geholfen haben.

Der Ausweg führt über den Aufbau eines internationalen Netzwerks von Aktionskomitees, die unabhängig von den Gewerkschaftsbürokratien Streiks koordinieren und die Gesundheit und Sicherheit gewährleisten. Dies ermöglicht einen Kampf für die deutliche Verbesserung des Lebensstandards und zudem für eine wissenschaftlich koordinierte Politik zur Eindämmung des Virus sowie die kurzfristige Einstellung der nicht lebensnotwendigen Produktion zur Beendigung der Pandemie. Notwendig hierfür ist vor allem eine sozialistische Perspektive zur Vereinigung der Arbeiter in Afrika, Europa und Amerika gegen Imperialismus, Sparpolitik und Krieg.

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