Polnisches Gericht verurteilt führende Holocaust-Historiker

Am Dienstag erklärte ein polnisches Gericht die Professoren Barbara Engelking und Jan Grabowski der Verleumdung und der Verbreitung „unzutreffender Informationen“ für schuldig. Die zwei gehören zu den renommiertesten Holocaust-Historikern Polens.

Die beiden wurden wegen einer Passage in ihrem Buch „Danach kommt nur noch die Nacht“ verklagt, das von der Ermordung der Juden im deutsch besetzten Polen handelt. Die Nichte Edward Malinowskis, des Bürgermeisters einer polnischen Stadt zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, hatte Klage erhoben. In der Ausgabe von 2018 werden Zeugenaussagen zitiert, die darauf hindeuten, dass Malinowski an dem örtlichen Massaker an Juden durch deutsche Soldaten beteiligt war. Engelking und Grabowski wurden verurteilt, sich bei der Nichte Malinowskis schriftlich dafür zu entschuldigen, ihren Onkel angeblich diffamiert und „ungenaue Informationen“ über ihn veröffentlicht zu haben.

Die Holocaust-Historiker Professor Barbara Engelking und Professor Jan Grabowski (Quelle: Wikipedia, Facebook)

Der Prozess stellt einen neuen Meilenstein in den Angriffen des polnischen Staates und der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) auf die historische Wahrheit und auf demokratische Rechte dar. Unabhängig von dem Prozess gegen Engelking und Grabowski droht der Journalistin Katarzyna Markusz eine dreijährige Haftstrafe wegen „Diffamierung der polnischen Nation“ wegen einer Passage aus einem ihrer Artikel über die polnische Beihilfe zum Holocaust.

Diese Prozesse sind Teil einer staatlich gesteuerten Kampagne mit dem Ziel, Antisemitismus und rechtsextreme Kräfte zu fördern Im Jahr 2018 verabschiedete die polnische Regierung ein Gesetz, das jede Erwähnung der polnischen Unterstützung für den Holocaust unter Strafe stellt. Seither stehen Historiker unter wachsendem Druck, u.a. durch Drohungen mit Klagen, Hasspostings und Morddrohungen von rechtsextremen Kräften, die sich so sicher fühlen, dass sie oft sogar ihre Klarnamen benutzen. Der Prozess gegen Engelking und Grabowski wurde zwar von Filomena Leszczyńska eingereicht, aber in beträchtlichem Ausmaß von der rechtsextremen Polnischen Liga gegen Diffamierung unterstützt, die direkt vom Staat finanziert wird. Die Liga überzieht seit Jahren Holocaust-Historiker mit Klagen.

Engelking und Grabowski haben den Prozess zu Recht als Angriff auf historische Forschung und freie Meinungsäußerung bezeichnet und werden Berufung gegen das Urteil einlegen. Der Schuldspruch soll nicht nur ihre historische Arbeit diskreditieren. Durch die juristische Anweisung, sich bei Malinowskis Nichte zu entschuldigen, versucht das Gericht auch, diese Historiker zu zwingen, die Kampagne zu legitimieren, mit der der polnische Staat polnische Antisemiten von ihrer Beteiligung am Holocaust reinwaschen will.

Engelking und Grabowski haben einige der wichtigsten Studien der letzten Jahrzehnte zur Holocaustforschung geschrieben. Engelking ist eine der weltweit renommiertesten Expertinnen für die Geschichte des Warschauer Ghettos und Vorsitzende des Internationalen Auschwitz-Rates.

Das zweibändige Werk „Danach kommt nur noch die Nacht“ von 2018, das Engelking und Grabowwski zusammen bearbeitet haben, bildet die Grundlage des Prozesses. Es liefert außerdem eine umfassende Analyse des Lebens und Schicksals von 140.000 Angehörigen der jüdischen Landbevölkerung im deutsch besetzten Generalgouvernement Polen. Das Werk hebt besonders die Rolle der polnischen Polizei („Blaue Polizei“) hervor, deren Geschichte die polnische Rechte seit langem reinwaschen will.

Professor Dariusz Stola, der von seinem Posten als Direktor des POLIN-Museums für die Geschichte der polnischen Juden zum Rücktritt gezwungen wurde, verurteilte den Prozess: „Es gibt keine fehlerfreien Bücher, aber damit muss man sich nicht vor Gericht auseinandersetzen, sondern in einer akademischen Diskussion. Dieses Buch ist ein Ergebnis solider, sorgfältiger Recherche. Wenn man seine Autoren verklagen kann, dann kann man auch die Hälfte aller Historiker verklagen, die sich mit dem zwanzigsten Jahrhundert befassen.“

Eva Schlotheuber, eine Vertreterin des deutschen Historikerverbandes, warnte: „Es hat enormes Einschüchterungspotenzial“, vor allem für jüngere Historiker, wenn „wissenschaftlich fundierte Forschungsergebnisse nicht im wissenschaftlichen oder öffentlichen Diskurs debattiert werden, sondern vor Gericht.“

Grabowski, ein erklärter Bewunderer des sozialistischen Zionisten Emanuel Ringelblum, erklärte 2020 in einem Interview mit Krytyka Polityczna: „Das Ziel unserer Gegner ist, dass wir keine Bücher mehr veröffentlichen. Ich würde gerne erleben, dass vor diesen Hintergrund eine Art gesellschaftliche Solidarität entsteht. ... Ein Angriff auf die Geschichte ist ein Angriff auf uns alle.“

Er wies auch darauf hin, dass die faktische Komplizenschaft der Bürgerplattform (PO), der liberalen Oppositionspartei, es der Rechten ermöglicht hat, das Feld der Geschichte zu dominieren. „Es schmerzt mich, dass die Geschichte in Polen größtenteils von der Rechten und der extremen Rechten vereinnahmt wurde. ... Ich habe große Vorbehalte gegenüber den so genannten demokratischen und liberalen Eliten, die – wie sich gezeigt hat – durch ihre Vernachlässigung der Geschichte dieses sehr wichtige Gebiet in die Hände der Mythomanen und Mythenmacher gelegt haben. Diese Missachtung der Geschichte als wichtiges Schlachtfeld zeigte sich zu Beginn des Jahrhunderts, als die Linke an der Macht war. Während der Herrschaft der Zentristen der PO hat sich daran nichts geändert.“

Der politische Prozess gegen zwei der weltweit renommiertesten Holocaust-Historiker hat gewaltige Auswirkungen und muss von allen politisch bewussten Arbeitern, Intellektuellen und Jugendlichen zurückgewiesen werden. Die PiS-Regierung steht an der Spitze des Angriffs auf historische Wahrheit und demokratische Rechte und der staatlichen Aufrüstung der extremen Rechten, die weltweit stattfinden. Im benachbarten Deutschland hat die herrschende Klasse neonazistische Terrornetzwerke und die neofaschistische AfD gefördert, die Regierung unterstützt Figuren wie Professor Jörg Baberowski von der Humboldt-Universität, der erklärt hat, Hitler sei „nicht grausam“ gewesen. In den USA hat der ehemalige Präsident Donald Trump mit Unterstützung eines Großteils der Republikanischen Partei am 6. Januar einen faschistischen Putsch inszeniert, dessen wichtigste Aspekte jetzt von den Demokraten vertuscht werden.

Im Kampf zur Verteidigung der historischen Wahrheit geht es um die politische Bewaffnung der Arbeiterklasse für den Kampf gegen den heutigen Faschismus und seine Ursache, den Kapitalismus.

Während des Zweiten Weltkriegs war Polen der Hauptschauplatz des nationalsozialistischen Völkermordes an den europäischen Juden. Die größten Vernichtungslager (Auschwitz, Treblinka, Belzec und Sobibor) befanden sich allesamt im besetzten Polen. 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung Vorkriegspolens von 3 bis 3,5 Millionen wurden ermordet, d.h. fast die Hälfte der sechs Millionen ermordeten Juden. Unter den Opfern befanden sich viele bekannte sozialistische Intellektuelle und Arbeiterführer, darunter Abraham Leon, eine führende Persönlichkeit der belgischen trotzkistischen Bewegung; der Leiter der polnischen Linken Opposition Solomon Ehrlich; sowie die sozialistischen Zionisten Emanuel Ringelblum und Abraham Lewin.

Die Erforschung des Holocausts in Polen ist eng mit der Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung verbunden. Beispielsweise erschien im Jahr 2018 ein wichtiger Satz von Dokumenten der polnischen trotzkistischen Bewegung als Teil der Veröffentlichung der vollständigen Archive, die Emanuel Ringelblum im Warschauer Ghetto zusammengestellt hatte.

Der Völkermord wurde zwar von den Nazis organisiert und ausgeführt, allerdings konnten sie sich dabei auf die Zusammenarbeit lokaler nationalistischer und antisemitischer Kräfte in ganz Osteuropa verlassen, vor allem in Polen, der Ukraine und den baltischen Staaten. Historisch betrachtet entstand der moderne Antisemitismus als zentrale ideologische Waffe der Bourgeoisie gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung. In Polen, das vor dem Krieg ein Vielvölkerstaat war, basierte die hochgradig kämpferische Arbeiterbewegung größtenteils auf der polnischen und jüdischen Arbeiterklasse.

Anfang und Mitte der 1930er Jahre hatte die polnische Regierung weitreichende antisemitische Maßnahmen nach dem Vorbild der Gesetze in Nazi-Deutschland umgesetzt. Faschistische Banden konnten Juden auf den Straßen und in den Universitäten terrorisieren. Die polnische PiS-Regierung stellt sich politisch in die Tradition dieser Kräfte, fördert sie und kollaboriert systematisch mit deren heutigen Nachfolgern. Um jede ernsthafte historische Forschung der Geschichte des polnischen Antisemitismus und des Holocausts zu verhindern, versucht der polnische Staat, die historischen Verbrechen der extremen Rechten reinzuwaschen und die lange überfällige Abrechnung mit der mächtigen, aber tragischen Geschichte der Arbeiterbewegung in Polen zu verhindern.

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