Die Charité im Kalten Krieg – dritte Staffel der ARD-Serie

Nach fast zwei Jahren Pause hat die ARD im Januar die dritte Staffel der Serie „Charité“ gesendet. Sie behandelt die Geschichte des berühmten Berliner Krankenhauses in der Periode des Kalten Kriegs und zur Zeit des Mauerbaus Anfang der sechziger Jahre.

Der Sendetermin der neuen Folge, die unter Regie des MDR produziert wurde, war bereits für das vergangene Jahr vorgesehen, in dem das 30-jährige Jubiläum der Wiedervereinigung begangen wurde. Aufgrund der Corona-Krise verzögerten sich jedoch die Dreharbeiten.

Die beiden vorherigen Staffeln der Serie behandeln die Zeit am Ende des 19. Jahrhunderts und die medizinischen Fortschritte unter Rudolph Virchow, Emil Behring, Paul Ehrlich und vor allem dem Virologen Robert Koch (Staffel 1), sowie die Periode des Nationalsozialismus, besonders der letzten Kriegsjahre, in der die Arbeit des Chirurgen Ferdinand Sauerbruch im Zentrum steht (Staffel 2). Sie zogen viele Millionen Zuschauer an.

Auch die dritte Staffel besticht durch spannende Filmhandlung, gut recherchiertes historisches Material und ein weitgehend überzeugendes Schauspielerteam, das historisch reale mit fiktiven Figuren kombiniert.

Real sind die deutsch-jüdische Kinderärztin Ingeborg Rapoport (Nina Kunzendorf) und ihr russisch-jüdischer Ehemann, der namhafte Biochemiker Samuel Mitja Rapoport (Anatole Taubman), der ab 1952 das biochemische Institut der Charité aufbaute. Sie wurden als Juden von den Nazis vertrieben und im amerikanischen Exil in der McCarthy-Ära als Kommunisten verfolgt. Anfang der fünfziger Jahre entschieden sie sich für die Übersiedlung in die DDR, wo sie herausragende medizinwissenschaftliche Arbeit an der Charité leisteten.

Nina Kunzendorf als Kinderärztin Ingeborg Rapoport (Bild: ARD/Stanislav Honzik)

Real ist auch der Leiter der Frauenklinik, Prof. Dr. Helmut Kraatz (Uwe Ochsenknecht), der bereits in der NS-Zeit Arzt der Charité war und wegen seiner international anerkannten Qualifikation als Gynäkologe seinen Posten in der DDR behalten hat. Ebenso der österreichische Gerichtsmediziner Prof. Dr. Otto Prokop (Philipp Hochmair), der 1956 von der Bonner Universität an die Charité wechselte und die Leitung der Gerichtsmedizin übernahm. Seine forensischen und serologischen Arbeiten, die in über tausend Publikationen eingegangen sind, machten ihn weltweit berühmt. Seine Obduktionsergebnisse spielten nach der Wiedervereinigung auch eine Rolle in den Prozessen zu den Mauertoten.

Im Zentrum der Staffel steht als fiktive Figur die junge Ärztin Dr. Ella Wendt (Nina Gummich), die aus dem brandenburgischen Senftenberg zur Berliner Charité versetzt wird. Sie ist überglücklich und stolz darauf, an der Seite von Gerichtsmediziner Prokop ihre Forschungen zur Krebsfrüherkennung voranzubringen. Man erfährt, dass ihre Mutter früh an Krebs gestorben ist.

Anhand dieser Figur wird die dramatische Veränderung verdeutlicht, die der Mauerbau im August 1961 für die Berliner Bevölkerung und das Charité-Personal bedeutete. Das Krankenhaus wurde zuvor von Ost- und Westberlinern gleichermaßen genutzt und für die hervorragende medizinische Behandlung geschätzt. Die Klinikgebäude in der Mitte Berlins lagen direkt an der Zonengrenze, und der Mauerbau fand vor der Haustür statt. Alle Fenster der Kliniken in Richtung Westen wurden zugemauert. Die zahlreichen Ärzte und Schwestern der Charité, die in Westberlin wohnten, mussten entweder in die DDR umziehen oder kündigen. Viele verließen ihren Arbeitsplatz.

Historische Hintergründe

Die historischen Hintergründe des Mauerbaus, der sich in diesem Jahr zum 60. Mal jährt, werden in der Staffel allerdings im Dunkeln gelassen. Schon die Tatsache, dass die Geschichte der Charité in der DDR auf die Zeit des Mauerbaus reduziert wird, ist problematisch. Aspekte, die von Antikommunisten bis heute ausgeschlachtet werden – Mauer, Stasi und Mangelwirtschaft –, treten dadurch in den Vordergrund und erhalten ein unverhältnismäßiges Gewicht. Die DDR lässt sich aber nicht darauf reduzieren.

Man kann den Charakter der DDR und den Mauerbau nicht verstehen, ohne sich über den unversöhnlichen Gegensatz zwischen Stalinismus und Sozialismus bewusst zu werden. Die DDR war genauso wenig Sozialismus, wie die Adenauer-BRD, in der sich Alt- und Neonazis tummelten, das Reich von Freiheit und Demokratie war.

Stalins Diktatur in der Sowjetunion verkörperte die Herrschaft einer abgehobenen Bürokratie, die das verstaatlichte Eigentum für ihre eigenen Privilegien nutzte und in unversöhnlichem Gegensatz zur sowjetischen und internationalen Arbeiterklasse stand. Im Großen Terror der Jahre 1937/38 ermordete sie eine ganze Generation marxistischer Revolutionäre. 1943 löste Stalin die Kommunistische Internationale auf.

Die DDR und die anderen stalinistischen Regime Osteuropas waren ein Ergebnis der Nachkriegsvereinbarungen von Jalta und Potsdam, in denen sich Stalin verpflichtete, die sozialistischen Bestrebungen der internationalen Arbeiterklasse mithilfe der Kommunistischen Parteien zu unterdrücken. Als Gegenleistung bekam er die Kontrolle über eine Reihe von Pufferstaaten, die die Sowjetunion vor der imperialistischen Umzingelung schützen sollten. Erst als sich die bürgerlichen Elemente in diesen Ländern mit der Verschärfung des Kalten Kriegs auf den Westen orientierten, wurde auch hier das kapitalistische Eigentum beseitigt. Die DDR wurde viereinhalb Jahre nach Kriegsende gegründet.

Die Verstaatlichungen und die Einführung der Planwirtschaft bildeten die Grundlage für vielfältige soziale, kulturelle und wissenschaftliche Fortschritte, deren Bedeutung viele erst verstanden, als sie nach der Wiedervereinigung brutal zerschlagen wurden. Aber anders als in der Sowjetunion waren sie nicht das Ergebnis einer proletarischen Revolution. Als das DDR-Regime versuchte, die durch die wirtschaftliche Isolation entstandenen Probleme mit Normenerhöhungen zu Lasten der Arbeiterklasse zu lösen, führte dies zum offenen Konflikt. Anders als in der westlichen Legendenbildung dargestellt, war der Aufstand vom 17. Juni 1953 keine prokapitalistische Revolte, sondern ein Arbeiteraufstand gegen das stalinistische Regime.

Vor der Charité wird die Mauer errichtet (Bild: ARD/Stanislav Honzik)

Acht Jahre danach war der Mauerbau Ausdruck der tiefen Krise der stalinistischen Bürokratie. Mit der reaktionären Grenzschließung versuchte das Ulbricht-Regime, die wachsende Fluchtbewegung von Fachpersonal in den Westen zu stoppen und seinen Machtbereich zu stabilisieren.

Gleichzeitig diente die Mauer dazu, die Arbeiterklasse zu spalten. Denn anders als in der Serie dargestellt, bestand der Westen keineswegs nur aus Konsumtempeln und blühender Wirtschaft. Bereits Ende der 1950er Jahren war es im Ruhrgebiet zu Massenprotesten der Bergarbeiter gekommen, die über Jahre anhielten und 1966 zum Fall der Erhard-Regierung führten. Sieben Jahre nach dem Mauerbau kam es in Frankreich zum größten Generalstreik der Nachkriegszeit, der internationale Klassenkämpfe bis weit nach Osteuropa hinein nach sich zog.

Die DDR-Bürokratie fürchtete solche Kämpfe ebenso wie die Bourgeoisie im Westen. Die Mauer genoss insgeheim die Billigung der Alliierten und von Bonner Regierungskreisen, die ebenfalls an einer stabilen DDR interessiert waren. Bei einem Treffen von Kreml-Chef Chruschtschow und US-Präsident Kennedy im Juni 1961 hatte letzterer seine Zustimmung zu „Maßnahmen“ der DDR gegen die Fluchtbewegung gegeben. Das hinderte sie jedoch nicht daran, den Mauerbau für antikommunistische Propaganda auszuschlachten.

Diese Hintergründe werden in der Charité-Serie nicht einmal ansatzweise angedeutet. Die Filmemacher bemühen sich zwar um eine differenzierte Darstellung der Charaktere und ihrer Motive, doch die Dialoge bleiben – in einer hochpolitischen Zeit – auffallend unpolitisch. Der für das Verständnis der DDR so wichtigen Feststellung, dass die Unterdrückung durch das SED-Regime im Gegensatz zu sozialistischen Prinzipien stand, weichen die Filmemacher aus und passen sich damit an die gängige Propaganda an, die Stalinismus und Sozialismus gleichsetzt.

DDR-Fortschritte der Medizin

Man muss den Filmemachern allerdings zugutehalten, dass sie auch Fortschritte der DDR-Medizin nennen. Diese war von manchen internationalen technischen Entwicklungen abgeschnitten – man besaß beispielsweise nur eine vorsintflutliche Herz-Lungen-Maschine aus den 30er Jahren – und wurde durch die SED-Bürokratie gegängelt, dargestellt durch das ständige Auftauchen des Apparatschiks Lehmann in den Gängen der Klinik. Aber das Gesundheitssystem unterlag nach der Abschaffung kapitalistischen Eigentums nicht mehr dem Gewinnstreben der Pharmaindustrie wie im Westen.

So gab es in der DDR bereits früher als in der BRD eine flächendeckende und verpflichtende Polio-Impfung von Neugeborenen gegen Kinderlähmung, gestützt auf ein Medikament der Sowjetunion. Die Säuglingssterblichkeit, die in beiden Teilen Deutschlands nach dem Krieg extrem hoch war, konnte in der DDR früher als in der BRD gesenkt werden. Ärzte verschiedener medizinischer Disziplinen arbeiteten in Polikliniken eng zusammen. Schließlich gab es sogar früher als in der BRD die Möglichkeit zu Geschlechtsumwandlungen von Transsexuellen, wie der Film an einem Fall im Institut von Prof. Kraatz demonstriert.

Vor allem zeigt die Staffel in bewegender Weise das humanistische Engagement der Beschäftigten in der Charité, die trotz der politischen Widrigkeiten alles für die Versorgung und Pflege der Patienten geben. Die ruppige, aber herzensgute Oberschwester Gerda liefert dafür das beste Beispiel. Diejenigen, die nach Westberlin flüchten, darunter der fähige Chirurg Dr. Curt Bruncken, der sich mit Ella Wendt angefreundet hat, werden von vielen kritisch gesehen, als Menschen, die nur auf ihr eigenes Wohl und ihre Karriere bedacht sind.

Besonders hervorzuheben ist die Rolle der Kinderärztin Rapoport: Sie kämpft für eine ganzheitliche Behandlung von schwangeren Frauen und Neugeborenen gegen den Widerstand von Professor Kraatz. Dieser verhehlt nicht seine Missgunst gegen Rapoport, deren Dissertation 1937 von den Nazis aufgrund ihrer jüdischen Mutter nicht zugelassen worden war.

Ingeborg Rapoport macht ihm deutlich, wie notwendig eine Zusammenführung der beiden Klinikteile ist, die nach dem Mauerbau nur noch durch lange Wege miteinander verbunden sind. Eine Szene der Filmstaffel zeigt eine dramatische Rettungsaktion eines frühgeborenen Babys mit Gelbsucht. Als vor dem Gebäude Grenzsoldaten aufziehen, organisiert Dr. Rapoport einen jungen Soldaten mit der richtigen Blutgruppe, um einen Blutaustausch zu ermöglichen.

In einem interessanten Dialog mit der jungen Mutter, die danach schnellstmöglich nach Westberlin möchte, wo sich ihr Mann befindet, erklärt die Kinderärztin, warum sie aus dem amerikanischen Exil in die DDR übergesiedelt ist: „Ich wollte eigentlich nie mehr nach Deutschland zurück“. Ihr Mann habe sie überzeugt, dass die DDR ein anderer Staat sei als das Land, das sechs Millionen Juden ermordet hat. Auf den Einwurf, dieser neue Staat sei „nicht ausgereift“, sagt sie: „Das mag sein, aber ich mag den Ansatz, den Gedanken an das Miteinander, das Füreinander …“

Tatsächlich gelang Rapoport schließlich der Durchbruch und die Zusammenlegung der beiden Klinikabteilungen. 1969 erhielt sie den ersten Lehrstuhl für Neonatologie in ganz Europa. Im Jahr 2015, nach fast 80 Jahren, anerkannte die Universität Hamburg nachträglich ihre Dissertation, die die 1912 geborene Ärztin noch selbst vor drei Professoren verteidigte. Sie starb mit 104 Jahren und hielt bis ans Lebensende an sozialistischen Überzeugungen fest.

Dr. Ella Wendt (Nina Gummich) bei Forschungsarbeiten zur Krebsfrüherkennung im Labor (Bild: ARD/Stanislav Honzik)

Auch Dr. Wendt entscheidet sich letztlich, an der Charité zu bleiben. Auf einem Krebskongress in Westberlin vertritt sie Dr. Prokop und stellt begeistert ihre Forschungsergebnisse vor. Sofort wird sie von Westberliner Chefärzten umgarnt, die versuchen sie anzuwerben. So macht in der Pause ein Berliner Klinikchef der jungen Forscherin ein verlockendes Angebot in einer vom Pharmakonzern Bayer gesponserten Klinik, natürlich mit entsprechend höherem Gehalt als an der Charité.

Als sie fragt, ob sie dort ihre Krebsforschung fortsetzen könne, reagiert der Klinikchef ausweichend. Vielleicht später, sagt er, momentan rentiere sich dies für Bayer nicht. Der Blick der jungen Ärztin erstarrt, man spürt ihr Misstrauen.

Auch ihr Freund Curt Bruncken, der sie bei dem Kongress aufstöbert, versucht sie zum Bleiben zu überreden. Die alte Liebe erwacht wieder, die junge Frau scheint nicht abgeneigt.

Doch als Curt sie abholen will, findet er nur den roten Pullover im Hotelzimmer, den er bei seiner Flucht in der Charité hinterlassen hatte. Die nächste Szene zeigt Ella Wendt mit Koffer, wie sie den Hörsaal der Charité betritt, wo Dr. Prokop gerade einen Vortrag hält. Ihre Kollegen drehen sich voll Freude nach ihr um.

Die Tatsache, dass die dritte Staffel zeitlich mit der tödlichen Verschärfung der Corona-Krise zusammenfällt, hat einen überraschenden, vielleicht unbeabsichtigten Effekt. Wem fällt nicht die verzweifelte Situation in heutigen Krankenhäusern ein, wenn die junge Ärztin Dr. Wendt plötzlich vor einer Triage-Entscheidung steht. Ein Landwirt mit fortgeschrittenem Lungenleiden braucht Penicillin genauso wie der allseits beliebte Hausmeister Fritz, der sich ausgerechnet jetzt eine Blutvergiftung zugezogen hat. Wegen Lieferschwierigkeit ist aber nur eine Dosis vorhanden. „Sie wollen doch nicht unseren Fritz sterben lassen?“ fragt Oberschwester Gerda mit entsetztem Blick.

Damals in der DDR war Mangel der Grund für das fehlende Medikament. Heute fehlen Intensivbetten, Testkapazitäten und Impfstoff wegen einer bewussten Politik, die Profite der Banken und Konzerne über das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung zu stellen.

Als vor 30 Jahren der Mauerfall und das Ende der DDR als „Ende des Sozialismus“ und „Sieg des Kapitalismus“ gefeiert wurden, ahnte man die schrecklichen Bilder von Corona-Toten noch nicht. Das Fernsehpublikum wird sich darauf selbst einen Reim machen. Die WSWS schrieb am 3. Oktober 2020 zum Jahrestag der Wiedervereinigung: „Die Mauer stand zwischen zwei großen Lügen: Im Osten behaupteten die stalinistischen Bürokraten, sie hätten den Sozialismus aufgebaut, und im Westen behaupteten die kapitalistischen Herrscher, die in personeller Kontinuität zu den Nazis standen, sie seien freiheitlich und demokratisch.“

Eine wirklich sozialistische Gesellschaft, die eine wirtschaftliche, wissenschaftliche und medizinische Zusammenarbeit im Interesse der ganzen Menschheit ermöglicht, erfordert die internationale Zusammenarbeit der Arbeiterklasse und die weltweite Beseitigung des Profitsystems. Die Corona-Katastrophe setzt dies dringend auf die Tagesordnung.

Zur Geschichte des Stalinismus und der DDR ist folgender Essay zu empfehlen, der als Vorwort des BuchsDas Ende der DDR 1992 im Arbeiterpresse Verlag, dem Vorläufer des Mehring Verlags, erschienen ist: Die Rolle des Stalinismus in Deutschland

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