Trotz steigender Infektionszahlen: Regierung plant Ende des Lockdowns

Bund und Länder haben in den vergangenen Wochen und Monaten zugelassen, dass sich neben dem SARS-CoV-2-Wildtyp auch dessen mutierte Stämme im gesamten Bundesgebiet ungezügelt ausgebreitet haben. Mit ihrer Politik der geöffneten Betriebe, Schulen und Kitas und der geplanten Beendigung der bestehenden Lockdown-Maßnahmen schaffen sie systematisch die Bedingungen für eine katastrophale weitere Ausbreitung der Pandemie, die weitere zehntausende Menschenleben bedroht.

Vor dem heutigen Corona-Gipfel veröffentlichte die Bild-Zeitung am Dienstag einen durchgestochenen Beschlussentwurf der „Arbeitsgruppe“ aus Landesregierung und Bundeskanzleramt, der auch vom Bundesfinanzministerium mitverfasst worden sein soll. Das Papier sieht bis Ostern eine systematische Öffnung der verbleibenden Wirtschaftssektoren vor, beginnend mit Buchhandlungen, Blumengeschäften, Gartenmärkten und „körpernahen Dienstleistungsbetrieben“. Der nächste Schritt umfasse bereits den allgemeinen Einzelhandel, gefolgt von Sporteinrichtungen. Derzeit geltende Kontaktbeschränkungen könnten bereits ab nächsten Montag aufgeweicht werden.

Anders als noch vor zwei Wochen sollen diese systematischen Öffnungen zu einem überwiegenden Teil unabhängig vom Infektionsgeschehen vorgenommen werden. Wörtlich heißt es in dem Entwurf: „Bund und Länder wollen nun erproben, wie durch die deutliche Ausweitung von Tests und ein Testprogramm in Verbindung mit einer besseren Nachvollziehbarkeit der Kontakte im Falle einer Infektion Öffnungsschritte auch bei höheren 7-Tage-Inzidenzen mit über 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner möglich werden.“

Mit anderen Worten: Auch wenn die Gesundheitsämter schon nicht mehr in der Lage sind, die Infektionsketten nachzuvollziehen, soll rigoros geöffnet werden.

Ernsthafte Wissenschaftler sind sich angesichts des Anstiegs der Mutanten einig, dass Deutschland – ebenso wie seine europäischen Nachbarn – auf eine „dritte Welle“ zusteuert. So erklärte Charité-Virologe Christian Drosten im Podcast der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, das Land stehe „am Anfang einer neuen Verbreitungswelle“. Bei der derzeitigen Geschwindigkeit, fügte er hinzu, werde die Impfung der Bevölkerung bis Mai noch keine deutliche Wirkung zeigen.

Pharmazie-Professor Thorsten Lehr aus Saarbrücken erklärte mit Blick auf die nächsten Wochen, er „gehe davon aus, dass wir wieder so Zustände wie vor Weihnachten bekommen werden“. Professor Viola Priesemann sagte gestern gegenüber dem ZDF: „Die nächste Welle trifft vermehrt die Jüngeren, die noch nicht geimpft sind und die Intensivstationen werden dann leider auch mit ihnen gefüllt werden.“

Die deutschen Intensivmediziner drängen deshalb vehement auf eine Verlängerung der bestehenden Maßnahmen bis mindestens zum 1. April.

Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), warnte letzte Woche, dass „die dritte Welle“ andernfalls „nur schwer oder überhaupt nicht beherrschbar sein“ werde. Die Zahl der Coronakranken auf Intensivstation würde von derzeit 2900 bis Mai auf 25.000 hochschnellen, wenn ab Sonntag weitgehende Lockerungen gelten würden.

Dann wäre der R-Wert des ursprünglichen Virus bei 1,2 und derjenige von B.1.1.7 entsprechend bei 1,55 – einen derart hohen R-Wert hat es seit der katastrophalen Pandemieentwicklung im letzten März nicht mehr gegeben. Er würde alles in den Schatten stellen, was seitdem stattgefunden hat, inklusive des Massensterbens vom Dezember.

Die Entwicklung würde zudem auf einem viel höheren Niveau stattfinden. Die Fachleute gehen dabei von einem Worst-Case-Szenario von 230.000 Impfungen pro Tag aus, allerdings liegen die Impfzahlen derzeit bei nur 150.000 pro Tag. Die Mediziner verwiesen darauf, dass das Personal in den Krankenhäusern bereits jetzt die Belastungsgrenze erreicht oder sogar überschritten hat. Eine weitere derart hohe Belegung sei nicht zu verantworten.

Während die wissenschaftliche und medizinische Faktenlage keinen Zweifel daran lässt, dass sofort umfassende europaweite Lockdown-Maßnahmen notwendig sind, um Hunderttausende Menschenleben zu retten, sind die Regierungen in Bund und Ländern entschlossen, ihre mörderische Durchseuchungspolitik weiter voranzutreiben.

So erklärte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am Freitag auf einer Pressekonferenz angesichts des erneuten Anstiegs der Fallzahlen, die Bevölkerung müsse „lernen, mit dem Virus zu leben“ – das heißt an dem Virus zu erkranken und gegebenenfalls zu sterben.

Die in den letzten beiden Wochen ergriffenen Lockerungsmaßnahmen – insbesondere die umfassende Öffnung der Grundschulen in zehn Bundesländern – zeigen im gesamten Bundesgebiet bereits ihre katastrophalen Folgen.

So wurde im baden-württembergischen Achberg gestern jeder zehnte Einwohner aufgrund eines potentiellen Kontakts in Quarantäne verwiesen, nachdem bei einem Grundschulkind die besonders ansteckende Coronavirus-Variante B1.351 (Südafrika) festgestellt wurde. Die Variante wurde im Landkreis Ravensburg erstmals am 18. Februar registriert und hat ihre Zahl in den letzten elf Tagen verfünffacht.

In Sachsen-Anhalt sind die Schulen – mit Unterstützung der Gewerkschaft GEW – für alle Jahrgänge flächendeckend wieder im Präsenzunterricht geöffnet. Schnelltests und Schutzmasken gibt es nur für Lehrer und Erzieher, nicht für die Kinder. Die GEW veröffentlichte auf ihrer Website einen „Stufenplan“, der erst ab einer Inzidenz von 100 vorsieht, wieder zum „Notbetrieb“ mit Distanzunterricht überzugehen.

Auch in Niedersachsen drängt die Landespolitik auf umfassende Öffnungen. So forderte die Oberbürgermeisterkonferenz des Niedersächsischen Städtetages letzte Woche in einem gemeinsamen Papier explizit ein „Leben mit Corona“. Während die „Einschränkungen im persönlichen und privaten Umfeld zugunsten einer Öffnung des öffentlichen Lebens“ beibehalten werden sollen, fordern die 17 Oberbürgermeister des Landes eine „frühzeitige“ und „vollständige“ Öffnung der Schulen.

Eine „inzidenzbasierte Öffnung“ – d.h. eine Orientierung an den Infektionszahlen – halten die Unterzeichner des Papiers explizit für „falsch“. Der entscheidende „Maßstab“ müsse stattdessen „die Auslastung der Intensivkapazitäten“ sein. Eine solche Durchseuchungsstrategie hatte zuletzt auch ein rechter Professorenzirkel um den Bonner Virologen Hendrik Streeck gefordert.

Worauf die Entwicklung zusteuert, zeigt sich derzeit in Tschechien. Bereits im Februar 2021 meldete kein Land weltweit mehr Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner im Zeitraum von 14 Tagen. Derzeit verzeichnet das kleine Land Sieben-Tage-Inzidenzen von durchschnittlich 759 bis maximal 1802 im Landkreis Tachov und steuert auf täglich 20.000 Neuinfektionen zu.

Vor wenigen Tagen sah sich die Regierung zwar gezwungen, die Schulen zu schließen und auch private Kontakte weitgehend zu verbieten. Dies werde jedoch nicht helfen, wenn nicht auch die Fabriken schließen, warnte der Direktor des Czech Centre for Modeling Biological and Societal Processes (BISOP) René Levínský im tschechischen Radio. Obwohl rund 37 Prozent der tschechischen Arbeitnehmer in der Industrie und Fertigung arbeiten und bekannt ist, dass sich die meisten Menschen bei der Arbeit infizieren, weigert sich die Regierung von Andrej Babiš, der selbst ein milliardenschwerer Unternehmer ist, die nicht lebensnotwendige Produktion zu schließen.

Die mörderische Pandemiepolitik der Regierungen in Deutschland, Europa und weltweit im Interesse der Banken und Konzerne unterstreicht zwei Dinge. Zum einen müssen Arbeiter und Jugendliche selbst aktiv werden, um Leben zu retten und das Massensterben zu beenden. Zum anderen ist der Kampf gegen die Pandemie vor allem auch ein politischer Kampf gegen das kapitalistische System und seine Verteidiger. Auf der Grundlage eines Netzwerks unabhängiger Aktionskomitees muss ein europaweiter Schul- und Generalstreik organisiert werden, der darum kämpft, die Vermögen der Pandemie-Profiteure zu enteignen und die Coronavirus-Pandemie zu besiegen.

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