Parlamentswahl in den Niederlanden: Ministerpräsident Mark Rutte ist Favorit mangels Alternative

Am Mittwoch endet in den Niederlanden die Parlamentswahl, die insgesamt über einen Zeitraum von drei Tagen stattfindet, um zwischenmenschliche Kontakte zu reduzieren. Am Montag und Dienstag durften bereits diejenigen ihre Stimmen abgeben, die als besonders gefährdet durch Covid-19 gelten. Über-70-jährige wurden angehalten, per Briefwahl abzustimmen.

Wahlzettel für die niederländische Parlamentswahl im Jahr 2017 (Sebastiaan ter Burg/Creative Commons)

Innenministerin Kajsa Ollongren von der liberalen Partei D66 erklärte vor der Presse, sollte die Ausgangssperre verlängert werden, würde sie an den Wahltagen nicht gelten. Die Wahllokale sind bis 21 Uhr geöffnet.

Die Wahl ist geprägt von einem zentralen Widerspruch. Einerseits findet sie statt, während die Corona-Pandemie außer Kontrolle gerät und die größte soziale und wirtschaftliche Krise auslöst, die die Niederlande und ganz Europa seit Jahrzehnten erlebt haben. Die Regierung von Ministerpräsident Mark Rutte ist energisch dabei, die begrenzten Lockdownmaßnahmen aufzuheben, während sich gleichzeitig in hohem Tempo neue, noch ansteckendere Varianten des Virus ausbreiten.

Die Superreichen haben in gigantischem Ausmaß vom Massensterben profitiert, das Rutte durch die Umsetzung der rücksichtslosen „Herdenimmunitäts“-Politik der Europäischen Union verursacht hat. Obwohl in den Niederlanden mehr als 1,1 Millionen Menschen erkrankt und insgesamt 16.087 gestorben sind, wurden am 8. Februar die Grundschulen und nun auch die Mittelschulen für einen Tag pro Woche geöffnet. Rutte erklärte: „Wir sollten bereit sein, etwas mehr Risiken einzugehen.“ Deshalb sind die Profite der Unternehmen weiter geflossen. Laut dem Wirtschaftsmagazin Quote ist das Nettovermögen der 500 reichsten Niederländer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um sechs Milliarden Euro auf 186 Milliarden Euro gestiegen.

Andererseits liegt Ruttes rechte Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) dennoch weit in Führung und geht wahrscheinlich gestärkt aus der Wahl hervor.

Laut den Umfrageinstituten I&O Research und Ipsos-EenVandaag könnte die VVD ihre Fraktion um fünf auf 38 Sitze erhöhen, und die Zweitplatzierte, die rechtsextreme Partij voor de Vrijheid (PVV) von Geert Wilders, könnte von 20 auf 19 Sitze schrumpfen. Ruttes Koalitionspartnern werden Verluste prognostiziert. Dem Christen-Democratisch Appèl werden 17 Sitze (zwei weniger als bei der letzten Wahl) prognostiziert, der D66 15 Sitze (vier weniger), der ChristenUnie sechs Sitze (einer mehr). Die Stimmverluste der rechtsextremen PVV würden mehr als ausgeglichen durch den Zuwachs des rechtsextremen Forum voor Democratie (FvD) von zwei auf vier Sitze.

Da Rutte eine Koalition mit Wilders' PVV ausgeschlossen hat, wird er vermutlich eine Koalition mit mehreren Parteien bilden müssen, um wie bisher eine Parlamentsmehrheit zu erhalten und die Regierung stellen zu können.

Der britische Guardian schreibt in einem Artikel über die Wahl in den Niederlanden, die Corona-Pandemie habe „der niederländischen Politik den Wind aus den Segeln genommen“ und fragte bewundernd über Rutte: „Was ist sein Geheimnis?“

Ruttes „Geheimnis“, wenn man es denn so nennen kann, ist, dass die von der herrschenden Elite fälschlich als „Linke“ bezeichneten politischen Kräfte diskreditiert und völlig verkommen sind. Die wachsende soziale Wut in den Niederlanden, die sich in den letzten Jahren in Massenstreiks im Gesundheits- und Bildungswesen äußerte, hat sich nicht in wachsender Unterstützung für die Partij van de Arbeid (PvdA) oder die kleinbürgerliche ex-maoistischen Socialistische Partij (SP) ausgedrückt. Die SP wird voraussichtlich vier Sitze verlieren und auf zehn Sitze schrumpfen. Die PvdA, früher eine wichtige Partei der niederländischen Bourgeoisie, wird ihren Anteil vermutlich nur um drei auf 12 Sitze steigern können. Der Anteil der GroenLinks wird vermutlich um zwei auf 12 Sitze sinken.

In den letzten Jahrzehnten sind sie so weit nach rechts gerückt, dass die Arbeiterklasse ihre Politik kaum noch von derjenigen der VVD oder sogar von Wilders' PVV unterscheiden kann. Das ganze politische Establishment hat der Öffentlichkeit weisgemacht, Einwanderer und Kriegsflüchtlinge seien an allen sozialen Problemen schuld.

Die SP fordert in ihrem Wahlprogramm einen Zuwanderungsstopp, einen Ausbau der Polizeikräfte und vertritt insgesamt einen völlig nationalistischen Kurs. Wilders, der seine Absichten offener verkündet, ruft fanatisch zur Ausweisung von Muslimen und zum Einsatz des Militärs gegen soziale Unruhen auf.

Die Reaktion der SP entspricht der reaktionären Reaktion des ganzen kleinbürgerlich-pseudolinken Milieus in den Niederlanden auf die Corona-Pandemie. Keine Gewerkschaft hat die Schließung von nicht-systemrelevanten Unternehmen und Schulen gefordert, genauso wenig haben die Gewerkschaften einen einzigen Streik gegen die mörderische „Herdenimmunitäts“-Politik der Rutte-Regierung organisiert.

Stattdessen haben sie den rechtsextremen Parteien den politischen Widerstand gegen Rutte überlassen. Diese haben Krawalle für ein Ende der Lockdownmaßnahmen organisiert. Unter diesen Bedingungen konnte sich Rutte trotz der entschiedenen Ablehnung seiner reaktionären Politik durch die Arbeiterklasse an der Macht halten.

In den letzten zehn Jahren hat Rutte drei Koalitionsregierungen angeführt, die der Arbeiterklasse drakonische Sparmaßnahmen aufgezwungen haben. Die Immobilienpreise und Steuern für Nahrungsmittel und Medizin sind in die Höhe geschossen, während das Bildungs- und Gesundheitswesen, die öffentlichen Verkehrsmittel und andere Sozialleistungen finanziell ausgeblutet wurden.

Sozialleistungen und Arbeitslosengeld wurden gekürzt, die Renten nicht an die Inflation angepasst, obwohl das Rentenalter auf 67 Jahre erhöht wurde. Die Unternehmenssteuern wurden gesenkt, während die Arbeitsplätze durch die Verbreitung „flexibler“ Jobs über Zeitarbeitsfirmen wie Randstad oder Adecco immer unsicherer wurden.

Gleichzeitig hat die Rutte-Regierung die Niederlande in einen Überwachungsstaat verwandelt. Amnesty International veröffentlichte letztes Jahr einen Bericht, in dem es die staatlichen Projekte zur „vorbeugenden Überwachung“ auf der Grundlage von Überwachungskameras und ethnischen Profilen beschrieb. Im Jahr 2017 wurden die Gesetze aktualisiert, die die Tätigkeiten der Geheimdienste AIVD und MIVD regulieren. Der AIVD kann jetzt im großen Stil – auch von Unschuldigen – Telekommunikations- und Internetdaten sammeln, um „Terroristen“ ausfindig zu machen.

Das Gesetz wurde gegen den breiten Widerstand der Bevölkerung durchgesetzt. Eine Onlinepetition, in der ein Referendum über das Gesetz gefordert wurde, erhielt mehr als 300.000 Unterschriften. Beim Referendum stimmte eine große Mehrheit gegen das Gesetz, dennoch wurde es verabschiedet. Kurze Zeit später wurde die gesetzliche Möglichkeit zum Referendum abgeschafft.

Ruttes Koalitionsregierung war im Januar offiziell zurückgetreten, nachdem herausgekommen war, dass der Staat mit einer Verleumdungskampagne gegen Kindergeldempfänger vorgegangen ist. Anhörungen im Parlament hatten einen rücksichtslosen, rachsüchtigen Staatsapparat enthüllt, der seine Operationen geheim hält und so wenig Informationen wie möglich weitergibt, was als „Rutte-Doktrin“ bekannt wurde.

Auch die sozialdemokratische PvdA wurde durch den Kindergeldskandal diskreditiert, in die der ehemalige Parteichef Lodewijk Asscher tief verstrickt war: Er war zwischen 2012 und 2017 Sozialminister und stellvertretender Ministerpräsident. In dieser Zeit wurden für etwa 20.000 Eltern rechtswidrig die Kindergeldzahlungen eingestellt oder sie wurden wegen fingierten Betrugsermittlungen zur Rückzahlung der Zuwendungen gezwungen.

Dieser „symbolische“ Rücktritt hat die Rutte-Regierung jedoch in der Praxis nicht daran gehindert, weiter ihre rechte Politik durchzusetzen. Er führt jetzt eine Übergangsregierung, bis eine neue Regierungskoalition gebildet ist. Das Parlament hat ihr Grünes Licht für die Organisation und Umsetzung von neuen Maßnahmen zur „Bekämpfung der Krise“ gegeben. Auch das Justizministerium hatte freie Hand, um die Höchststrafe für Totschlag von 15 auf 25 Jahre anzuheben.

Die Corona-Pandemie entlarvt in allen Ländern den Verfall und die Verkommenheit des bürgerlichen politischen Establishments. In den USA, dem Zentrum des Weltkapitalismus, haben sich fast 30 Millionen Menschen infiziert, mehr als eine halbe Million sind gestorben. In ganz Europa haben sich mehr als 36 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert – mehr als doppelt so viel wie die Gesamtbevölkerung der Niederlande. Mehr als 850.000 Menschen – mehr als die Bevölkerung von Amsterdam - sind gestorben.

Die kaltblütige Gleichgültigkeit der herrschenden Elite gegenüber menschlichem Leiden äußert sich darin, dass sie dem Profitstreben der Konzerne höhere Priorität einräumt als der Rettung von Menschenleben sowie in ihren Angriffen auf wissenschaftliche Beweise und medizinischen Rat.

Der französische Präsident Emmanuel Macron erklärte während eines Treffens des Nationalen Sicherheitsrats: „Ich habe genug von Wissenschaftlern, die mir auf meine Fragen nach den Varianten nur ein Szenario vorschlagen: einen neuen Lockdown.“ Der deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble erklärte, das Grundgesetz „schließt nicht aus, dass wir sterben müssen“. Der britische Premierminister Boris Johnson befahl den Arbeitern „zu akzeptieren, dass es noch mehr Infektionen, Hospitalisierungen und, leider, noch mehr Tote geben wird“.

Die Medien, der Gewerkschaftsapparat und pseudolinke Gruppen wie die Socialistisch Alternatief haben die Illusionen verbreitet, die Arbeiterklasse könnte mit Hilfe dieses korrupten Establishments etwas erreichen und haben sie damit an das politische Establishment gebunden. Die Socialistisch Alternatief veröffentlichte vor Kurzem eine „Wahlempfehlung“ auf ihrer Website, auf der sie die Leser aufrief, die SP zu wählen, da „ein Teil dieser Partei noch immer an den Sozialismus glaubt und bereit ist, dafür zu kämpfen“.

Die Politik der SP angesichts der Corona-Pandemie beweist allerdings das Gegenteil.

Diese völlig künstliche Wahl, in der jeder Ausdruck des massiven sozialen Widerstands abgewürgt oder unterdrückt wird, wird nichts lösen. Der Weg vorwärts für die Arbeiterklasse führt über den Aufbau eigener unabhängiger Kampforganisationen und ihrer eigenen Partei, einer niederländischen Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, um den Widerstand gegen jede reaktionäre Regierung anzuführen, die aus dieser Wahl hervorgehen wird.

Loading