Ministerpräsidentenkonferenz verweigert notwendigen Lockdown

Die Beschlüsse des jüngsten Gipfels der Regierungschefs von Bund und Ländern machen ein weiteres Mal deutlich, dass die herrschende Klasse willens ist, hunderttausende Menschenleben zu opfern, um die Profite der Banken und Konzerne zu sichern.

Obwohl die Fallzahlen – ausgelöst durch die Öffnungsbeschlüsse der letzten Bund-Länder-Konferenzen – exponentiell ansteigen und die Pandemie in Deutschland nach wie vor täglich hunderte Menschenleben kostet, sieht die Beschlusslage keinerlei Büro- oder Fabrikschließungen vor. Auch ein Passus über Schulschließungen „ab einer Inzidenz von 200“, der in einem gestern bekannt gewordenen Entwurf noch enthalten war, wurde ersatzlos gestrichen. Hinsichtlich Testungen und Hygiene enthält der Beschluss ebenfalls keinerlei verbindliche Vorgaben.

Angesichts der explosiven Opposition in der Bevölkerung waren die „Verhandlungen“ von einer erheblichen Nervosität geprägt. Mit den Worten, „so können wir in der Öffentlichkeit nicht bestehen“, soll Bundeskanzlerin Angela Merkel die Verhandlungen zwischenzeitlich für Einzelunterredungen unterbrochen haben, die fünf Stunden dauerten. Das Ergebnis des insgesamt zwölfstündigen Geschachers hinter verschlossenen Türen wurde von den Medien einhellig als „schärfster Lockdown seit Beginn der Pandemie“ bezeichnet.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zusammen mit dem bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) und dem Berliner Oberbürgermeister Michael Müller (SPD) auf der Pressekonferenz nach dem Corona-Gipfel am 22. März (Michael Kappeler/Pool Photo via AP)

In Wirklichkeit soll die bestehende Betriebsruhe über die Osterzeit lediglich um einen Tag, den Gründonnerstag, verlängert und mit Online-Gottesdiensten und privaten Kontaktbeschränkungen verbunden werden. Zugleich dürfen selbst einige der am schwersten betroffenen Regionen im Rahmen von „zeitlich befristeten Modellprojekten“ wieder für den Handel geöffnet werden.

Begründet wird diese mörderische Politik insbesondere mit der „steigenden Verfügbarkeit von Schnell- und Selbsttests“, deren Einsatz jedoch dem Gutdünken der Ländesbehörden und Unternehmen überlassen wird. „Anfang April sollen die Wirtschaftsverbände Bericht erstatten, wie viele Unternehmen sich beteiligen“, berichtete t-online am Morgen.

Die verfügbaren Daten lassen unterdessen keinen Zweifel daran, dass in Deutschland und Europa in den nächsten Wochen zehn- und hunderttausende Menschenleben auf dem Spiel stehen. Allein in den letzten zehn Tagen stieg die bundesweite Wocheninzidenz von 72 auf 107 – mehr als doppelt so viel wie in den zwanzig Tagen zuvor. Im von der Linkspartei geführten Thüringen ist der Inzidenzwert mit 210 nach wie vor doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Dem Robert-Koch-Institut (RKI) zufolge verdoppeln sich die Fallzahlen des Corona-Stamms B117 alle zwölf Tage. Das Institut prognostiziert für den Beginn der übernächsten Woche bundesweite Inzidenzen von 300, sowie 350 nach Ostern.

Bei einer Fallsterblichkeit von 3 Prozent – wie sie von Worldometers für die vergangenen zwei Monate angegeben wird – würden diese Infektionen zu bundesweit 7500 bis 8700 wöchentlichen Covid-Toten führen.

Diese grauenhafte Todesziffer könnte sich mit der Überlastung der Intensivstationen jedoch noch vervielfachen. Bereits heute sind in vielen Stadt- und Landkreisen keine Intensivpflegebetten mehr frei. In mehr als 90 Stadt- bzw. Landkreisen sind weniger als 10 Prozent der Betten unbelegt, besonders in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Thüringen.

Doch trotz des drohenden Massensterbens werden in den Ländern und Kommunen oft keinerlei Konsequenzen aus dem exponentiellen Wachstum der Fallzahlen gezogen. Die vom letzten Gipfel eingerichtete Option der „Notbremse“ – bestehend aus unwirksamen Maßnahmen – wird vielerorts nicht einmal gezogen, obwohl die Inzidenz in fast jedem zweiten Kreis den Wert von 100 überschreitet. Noch zu Beginn des Jahres galt der Wert 35 als Grenze, jenseits derer die Nachverfolgung der B117-Infektionen unmöglich wird.

Die Frage, ob angesichts der Pandemieentwicklung eine erneute Schließung des Einzelhandels in Betracht gezogen werden muss, wurde von Bundesratspräsident Reiner Haseloff (CDU) bereits am Donnerstag in einer Pressekonferenz verneint: „Die Zahlenveränderungen, die wir haben, sind zuordenbar.“ Sie seien nicht auf geöffnete Geschäfte zurückzuführen, erklärte er, sondern auf „Kitas und Schulen“. Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt widersprach damit der unablässig propagierten Lüge der Kultusminister, wonach Kinder in den Schulen vor Corona „sicher“ seien.

Anschließend stellte Haseloff klar, dass Bund und Länder die gegenwärtig stattfindende Durchseuchung der Kinder bewusst in Kauf genommen haben: „Wir haben klar gesagt, dass wir dann ein – bei uns 250.000 Personen umfassendes – Kontakterhöhungspotential erschließen.“ Dies sei „bundesweit allen bewusst gewesen, auch der Kanzlerin“. Zur Begründung erklärte Haseloff, man habe „Kitas und Schulen reinnehmen müssen“, andernfalls hätte man „das Schuljahr komplett abschreiben können“.

Die Folge dieser Politik ist, dass sich die Sieben-Tage-Inzidenzen unter Kindern zwischen 0 und 14 Jahren laut RKI-Bericht zuletzt innerhalb von vier Wochen verdoppelt haben. Die Zahl der aktiven Erkrankungen von minderjährigen Schul- und Kindergartenkindern ist innerhalb einer Woche um 42 Prozent auf 3190 Fälle gestiegen.

Verheerendster Ausdruck dieser Entwicklung ist derzeit der Fall des baden-württembergischen Ortes Schrozberg, in dem die Inzidenz in der vergangenen Woche nach einem Massenausbruch in einem Kindergarten auf über 1200 stieg. Zu den rund 70 Fällen zählten auch alle acht Erzieherinnen und Erzieher der Einrichtung.

Im benachbarten Belgien sind 50 Prozent aller hospitalisierten Covid-Patienten unter 48 Jahre alt. Belgiens Bildungsminister berichtete am Samstag vor dem Hintergrund ebenfalls steigender Fallzahlen von den Ergebnissen einer Nachverfolgungsstudie, die „Schule und Arbeitsplatz“ als hauptsächliche Quelle von Infektionen ausmacht.

Zur gleichen Zeit warnen auch in Deutschland Intensivmediziner vor der zunehmenden Bedrohung durch ein Kawasaki-ähnliches Syndrom, das coronainfizierte Kinder und Jugendliche befällt und lebensgefährlich sein kann. Das sogenannte Paediatric Inflammatory Multisystem Syndrome (PIMS) zeitigt ein „eigenes Krankheitsbild“ und wurde in Deutschland und Österreich laut Business Insider bereits bei 238 Kindern diagnostiziert.

Ausgelöst durch eine fehlgeleitete Immunreaktion kommt es dabei zu Entzündungsprozessen in verschiedenen Organen oder den Blutgefäßen. Das geht mit hohem Fieber und einem instabilen Kreislauf einher. Laut dem Dresdner PIMS-Register der DGPI tritt das Syndrom derzeit bei jedem tausendsten infizierten Kind auf. Besonders gefährdet sind demnach Kinder zwischen sieben und zehn Jahren. In 59 Prozent der dokumentierten Fälle musste das Kind auf eine Intensivstation eingeliefert werden, und nahezu jeder zehnte Patient trägt Folgeschäden davon.

Der Intensivmediziner Christian Dohna-Schwake erwartet im Gespräch mit dem Spiegel mit Blick auf die „anschwellende dritte Welle“ mit Sorge „schon bald“ mehr PIMS-Patienten. Die USA verzeichnen bereits 33 Todesfälle – in Deutschland haben bisher 15 Kinder dauerhafte Herzschäden von der Erkrankung davongetragen.

Vor dem Hintergrund dieser eindeutigen Faktenlage und der allgemeinen Pandemieentwicklung kann der aktuelle Beschluss der letzten Kultusministerkonferenz (KMK) vom Donnerstag nur als politisches Verbrechen bezeichnet werden. Das von den Repräsentanten der Länder verfasste Papier ignoriert die mehreren hundert Cluster-Infektionen an Kitas und Schulen, die in den letzten Wochen von Eltern und Lehrern unabhängig registriert wurden, sowie sämtliche Empfehlungen führender Mediziner und Wissenschaftler.

Während die Kultusminister die Auswirkungen von Schulschließungen auf die Kinder und Jugendlichen „mit großer Sorge“ betrachten, werden die Gefahren einer Infektion und Erkrankung inklusive der Folgeschäden und einer potentiellen Ansteckung der Familienmitglieder in dem Papier mit keinem Wort erwähnt.

Begründet liegt dies in den Profitinteressen der herrschenden Klasse. So erklärte KMK-Präsidentin Britta Ernst (SPD) am Donnerstag gegenüber der Presse, der Präsenzunterricht sei für die „weitere Bildungsbiographie“ und die „Schullaufbahn“ der Kinder – also ihre reibungslose Überführung an den Arbeitsmarkt – „von entscheidender Bedeutung“. Dies gelte „ganz besonders für die Kleinen“.

Anstatt die für sichere Bildung benötigten Milliarden bereitzustellen, sollen Kinder und Jugendliche zunehmend unabhängig von der Inzidenz zusammengebracht werden. „Bei Entscheidungen über den Schulbetrieb“ sei dazu „perspektivisch zu prüfen, das Kriterium der Inzidenz um weitere Kriterien zu ergänzen“. Ganz allgemein sollen Kitas und Schulen „im Vergleich zu allen anderen Lebensbereichen am längsten geöffnet bleiben“.

Um dies zu gewährleisten, setzen die Regierungen wie schon seit Beginn der Pandemie auf Vertuschung, längst widerlegte Lügen und eine konzertierte Desinformationskampagne. So verlangt der Beschluss etwa explizit, angesichts der zunehmenden Massenausbrüche „Kinder und Jugendliche“ nicht als „Gefahr“ zu „stigmatisieren“ – also die zentrale Rolle von Schulen und Kitas im allgemeinen Infektionsgeschehen zu leugnen. Schulen, so das Papier, „arbeiten unter einem sehr hohen Maß an Infektionsschutz“ – eine Lüge, die den regierungseigenen Statistiken und erst recht sämtlichen Erfahrungsberichten von Lehrern und Eltern ins Gesicht schlägt.

Im Duktus rechtsextremer Corona-Leugner und der AfD behaupten die Kultusminister schließlich, „die ausgeweitete Testung von Kindern und Jugendlichen“ könne „eine höhere Zahl von festgestellten Infektionen“ herbeiführen und die „Inzidenz in den Ländern“ nach oben treiben. In Wirklichkeit kann an den allermeisten Schulen in Deutschland von systematisch erfassten Massentestungen keine Rede sein.

Der Widerstand gegen diese Politik, der sich in der vergangenen Woche bereits in Nordrhein-Westfalen zeigte, wächst insbesondere in den sozialen Medien stark an. „Leute, Eltern – bitte lasst eure Kinder ab Montag zuhause“, schreibt etwa die Kinderkrankenpflegerin Brigitte W. in einem viralen Beitrag auf Twitter. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Lehrer euch an das Ministerium melden. Auch Lehrer haben einen gesunden Menschenverstand. Meldet die Kinder krank, bezieht Stellung und werdet aktiv. Es geht um die Gesundheit eurer Familien!“

Sandro, ein junger Vater aus Nordrhein-Westfalen, bringt die Politik von Bund und Ländern in einem anklagenden Video auf Youtube auf den Punkt: „Seit einem Jahr wird die seriöse Wissenschaft weitgehend ignoriert.“ Während die Pandemie sich wie von der Wissenschaft vorhergesagt entwickle, werde vonseiten der Regierung „weiter verharmlost, ignoriert und desinformiert“. Die Bevölkerung werde „demoralisiert und gespalten“, „Kinder und Familien unkalkulierbaren Risiken ausgesetzt“. „Vernünftige Eltern“ würden von den Behörden „entmündigt, kriminalisiert und terrorisiert“ – ihre Gefährdung werde „bewusst in Kauf genommen“.

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