Steigende Inzidenz und fehlende Tests: Widerstand gegen Schulöffnungen wächst

Seit der Corona-Stufenplan von Bund und Ländern vor zwei Wochen die Weichen für einen exponentiellen Anstieg der Infektions- und Todeszahlen gestellt hat, entwickelt sich unter Lehrern, Schülern, Eltern und Schulpersonal eine explosive Opposition gegen das drohende Massensterben. Trotz dutzender Ausbrüche an Kitas und Grundschulen im Zusammenhang mit der Coronavirus-Mutante B117 sah der Beschluss vor, den Handel systematisch zu öffnen und Schüler der weiterführenden Schulen zurück in den Präsenzunterricht zu schicken.

Die vollständige Öffnung von Grundschulen und Kitas hat bereits dazu geführt, dass die Zahl der aktiven Erkrankungen von minderjährigen Schul- und Kindergartenkindern in der vergangenen Woche um 42 Prozent auf 3190 Fälle gestiegen ist. Seit dem 8. März mussten mindestens 16 Kinder ins Krankenhaus eingeliefert werden, die sich nachweislich in der Schule mit dem Coronavirus angesteckt hatten. Bislang wurden dem Robert-Koch-Institut (RKI) laut aktuellem Lagebericht zehn validierte Covid-19-Todesfälle „zwischen 0 und 17 Jahren“ übermittelt, davon acht Kinder mit Vorerkrankungen.

Schüler einer 5. Klasse in Frankfurt (AP Photo/Michael Probst, File)

Das Institut stellt außerdem fest, dass die Zahl der Infektionsfälle mit der Virusmutante B117 eine „sehr gleichmäßige Wachstumsrate“ aufweist und sich „etwa alle 12 Tage verdoppelt“. Der Virusstamm – der laut RKI mittlerweile drei Viertel aller Fälle ausmacht – ist nach aktuellen britischen Studien sowohl deutlich ansteckender, als auch tödlicher. Für die Zeit nach Ostermontag prognostiziert das Institut daher offiziell „Fallzahlen über dem Niveau von Weihnachten“ und nie dagewesene bundesweite Inzidenzen von 300 oder 350.

Auch Professor Christian Drosten von der Charité in Berlin sagte gestern, er rechne „kurz nach Ostern“ mit einer „drastischen“ Situation „wie um Weihnachten“, die für die weitestgehend ungeimpften Jahrgänge ab 50 Jahren besonders „brenzlig“ werden könnte. Mit einem 7-Tage-Mittelwert von über 25.000 Neuinfektionen und zeitweise über 1000 Toten am Tag hatte das Pandemiegeschehen Ende Dezember einen traurigen Höhepunkt erreicht. Bereits seit dem letzten „Coronagipfel“ ist die Inzidenz nun wieder von 64 auf 86 angestiegen.

Der Intensivmediziner und DIVI-Präsident Gernot Marx forderte im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am Dienstag einen „neuen Lockdown“ und sagte, es könne „in der zweiten Aprilhälfte“ auf den Intensivstationen bereits „genauso viele Patienten wie in der zweiten Welle“ geben: „Es gäbe dann auch viel mehr Kranke in der Altersgruppe 30 bis 60, weil die Infektionszahlen dann in dieser Altersgruppe höher sein werden, da die Älteren dann bereits geimpft sind. Aber eben auch, weil die britische Mutante vermutlich gefährlicher für Jüngere ist.“

Angesichts dieser unmissverständlichen Anzeichen einer „dritten Welle“ und der lauten Warnungen aus Medizin und Wissenschaft widersetzten sich zu Beginn der Woche zahlreiche Schulen dem Versuch der Landesregierungen, den Distanzunterricht vollständig zu kippen und kurz vor den Osterferien hunderttausende Schülerinnen und Schüler auf engstem Raum zusammenzubringen.

Die Schulleitung der Georg Christoph Lichtenberg Schule im hessischen Ober-Ramstadt wandte sich am Dienstag in einem offenen Brief an alle Eltern. Mit Blick auf die Forderung der schwarz-grünen Landesregierung, „jedes Schulkind mindestens noch ein oder zwei Tage vor den Osterferien in die Schule“ zu schicken, hieß es dort:

„Für uns ist es aber überhaupt keine Option, das Ansteckungsrisiko zu erhöhen und möglicherweise den Verlauf der Pandemie zu verschärfen… Bei uns an der GCLS bleibt bis zu den Osterferien alles wie bisher. Nicht zuletzt Sie, liebe Eltern, haben uns dazu ermutigt, diese abweichenden Schritte zu gehen.“

Sowohl Schüler als auch Eltern hätten sich mit überwältigender Mehrheit „klar und eindeutig für die Fortführung des Onlineunterrichts“ ausgesprochen, stellt der Brief unter Verweis auf entsprechende Umfragen des Schulelternbeirats fest. Lediglich in den Jahrgängen 7 und 8 werde man mit Einverständnis der Eltern einzelne Schülerinnen und Schüler in den Schulgebäuden betreuen.

In Nordrhein-Westfalen, wo die weiterführenden Schulen am Montag mit ungeimpften Lehrkräften und ohne verfügbare Massentests zum Präsenzunterricht übergehen sollten, verweigerten sich Schulen und einzelne Kommunen ebenfalls dieser Politik. Einem Bericht der Rheinischen Post zufolge hatten in Wermelskirchen und Wipperfürth mehrere Schulleitungen am Montag in Eigenregie die Entscheidung gefällt, am Distanzunterricht festzuhalten.

Die Initiative der Schulen in Hessen und NRW wurden in den sozialen Medien von Eltern und anderen Lehrern begeistert begrüßt. „Ich denke, auch Beamtinnen und Beamte dürfen nicht zum Spielball irrationaler Entscheidungen der Exekutive werden“, schreibt die Lehrerin Karin B., die selbst in NRW unterrichtet, auf Facebook. „Leben und Gesundheit gegen eine offene Gefahr zu verteidigen ist wichtiger, als einer irrationalen Politik zu folgen. Wir haben nur ein Leben, und wenn man nach der Pandemie noch mitmachen möchte, braucht man nicht nur das, sondern auch seine Gesundheit.“

Der Lehrer Sebastian S. erinnert gegenüber der World Socialist Web Site daran, dass in den Kindertagesstätten ebenfalls Ausbrüche stattfinden, die von den Behörden vertuscht werden: „Wir hatten letzte Woche eine Schließung der Kita. Eine Erzieherin war positiv. Die Kinder in der Gruppe wären ja Kontaktpersonen der Kategorie 1 gewesen, doch es gab weder eine Benachrichtigung, noch Quarantäne, noch Tests für die Kinder. Ich habe deshalb in unser Gesundheitsamt kein Vertrauen, dass die Zahlen stimmen. Wahrscheinlich sind sie noch viel höher.“ Nicht anders werde es in den Schulen aussehen, so der Lehrer.

Auch das Bergische Berufskolleg widersetzte sich der Anordnung von Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP), die in der vergangenen Woche offen verkündet hatte, „dass es in der kommenden Woche nicht zu Testungen für die Schülerinnen und Schüler kommen kann“. Schulleiter Thilo Mücher sagte mit Verweis auf steigende Zahlen und betroffene Klassen und Kollegen: „Wir bleiben dabei: Nur die Abschlussklassen können sich gruppenweise im Präsenzunterricht auf die Prüfungen vorbereiten.“ Für alle anderen gelte weiter das digitale Angebot, da man Lehrer und Schüler schützen und keine weiteren Fälle riskieren wolle.

„Der Druck auf die Landesregierung wächst“, stellte Die Welt am Dienstag in einem besorgten Bericht fest. „Trotz klarer Landesvorgabe“, so das wirtschaftsnahe Blatt, „boykottieren erste Schulen offenbar die weitere Rückkehr in den Präsenzunterricht“.

Tatsächlich drohte der massive Widerstand von Lehrern, Eltern und Schulleitungen rasch außer Kontrolle zu geraten, sodass sich einige Städte und Landkreise zwischenzeitlich gezwungen sahen, die Rückkehr zum Präsenzunterricht öffentlich zu kritisieren. Mehrere Kommunen – darunter der Kreis Düren mit einem Inzidenzwert von 240 – hatten bei der Landesregierung erfolglos beantragt, die Schulen nicht weiter zu öffnen. Dürens Landrat Wolfgang Spelthahn (CDU) sagte, der Antrag habe in der Bevölkerung „große Zustimmung und eine breite Akzeptanz erfahren“ – doch die Ablehnung durch das Ministerium sei nun „zu akzeptieren“.

In Dortmund, der drittgrößten Stadt von NRW, war die Opposition unter Lehrern und Eltern angesichts der steigenden Inzidenz so groß, dass Oberbürgermeister Thomas Westphal (SPD) am Dienstag mit den Worten an die Presse trat: „Wir sind der festen Überzeugung, dass es in diesem Moment überhaupt keinen Sinn macht, die Schulen zu öffnen.“ Schul- und Kitakinder bezeichnete Westphal zugleich als „das größte Ansteckungsrisiko“ – eine Tatsache, die von sämtlichen Landesregierungen seit Beginn der Pandemie stets geleugnet worden war.

Karl-Josef Laumann (CDU), Gesundheitsminister von NRW, stellte sich am nächsten Tag allerdings hinter Kultusministerin Gebauer und erklärte auf einer Pressekonferenz in Anwesenheit von Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), Schulschließungen kämen bei einer Sieben-Tage-Inzidenz unter 100 schlicht nicht in Frage.

Die Stadt Dortmund gab daraufhin bekannt, dass künftig „auf Anordnung des Landes“ wieder Präsenzunterricht stattfinden werde. Auch weitere Kommunen von Nordrhein-Westfalen, die die Schulöffnungen kritisiert hatten – darunter Hagen, Bochum und Duisburg – akzeptierten „die Absage der Landesregierung“. In Bochum waren an 29 Schulen Infektionen nachgewiesen worden.

Die Ereignisse im bevölkerungsreichsten Bundesland Deutschlands zeigen beispielhaft, dass die Politik der massenhaften Ansteckung und Durchseuchung der Bevölkerung systematisch von oben aufgezwungen werden soll. In der Bundeshauptstadt Berlin haben Umfragen von mindestens zwei Bezirksausschüssen des pädagogischen Personals zu Beginn der Woche ergeben, dass mehr als 80 Prozent der Lehrkräfte und Erzieher den Präsenzunterricht ablehnen, solange nicht allen Beteiligten eine Impfung angeboten werden kann.

Doch gerade weil diese Politik – aller medialen Propaganda zum Trotz – unter breiten Schichten von Arbeitern auf Fassungslosigkeit und Widerstand trifft, nimmt die Reaktion der herrschenden Klasse einen zunehmend autoritären Charakter an.

Dies zeigt sich neben der atemberaubenden Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leben auch in der immensen kriminellen Energie, mit der Datengrundlagen manipuliert, Ausbrüche vertuscht und angeblich verbindliche „Grenzwerte“ willkürlich heraufgesetzt werden. So berechnete der Landkreis Calw etwa eine „bereinigte Inzidenz“, indem er „nachvollziehbare“ Corona-Ausbrüche kurzerhand von der Gesamtzahl abzog und so das Ergebnis halbierte.

Über die ohnehin verheerend hohen Inzidenzwerte 50 und 100, die im Gipfelbeschluss von Bund und Ländern festgelegt wurden, haben sich bereits mehrere Landesregierungen – darunter Nordrhein-Westfalen und Brandenburg – bei der Öffnung von Schulen und Einzelhandel hinweggesetzt. Und schließlich ließ Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am Dienstag die Verabreichung des Impfstoffs AstraZeneca stoppen, ohne dies mit der Wiedereinführung von Schutzmaßnahmen zu verbinden.

Der Widerstand von Arbeitern und Jugendlichen muss einen unabhängigen politischen Ausdruck finden, um ein Massensterben zu verhindern, das weit über das der ersten beiden Wellen hinausgehen würde. Es müssen unabhängige Aktionskomitees aufgebaut werden, die sich aus Schülern, Lehrern, Eltern und Schulpersonal zusammensetzen und von ihnen demokratisch kontrolliert werden. Die Pandemie kann nur besiegt werden, wenn ein europaweiter Schul- und Generalstreik organisiert wird, der Schulen und Kitas schließt und Industrie und öffentliches Leben auf das lebensnotwendige Niveau herunterfährt.

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