Mögliches Exportverbot der EU wird europäische Impfstoffkrise verschärfen

In Europa sind erbitterte Feindseligkeiten um die Versorgung mit Impfstoff gegen Covid-19 ausgebrochen.

Die Europäische Union (EU) und Großbritannien streiten sich seit Monaten über die Lieferung von Impfstoff des britisch-schwedischen Herstellers AstraZeneca. Großbritannien hat behauptet, dass es sein Abkommen mit AstraZeneca drei Monate früher abgeschlossen habe als die EU und deshalb nach dem Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ den Vorzug gegenüber der EU behalten müsse. Ende Januar kündigte die EU kurzzeitig ein Verbot von Impfstoffexporten nach Nordirland an. Dazu benutzten sie Artikel 16 des Nordirland-Protokolls, das ein Teil des Brexit-Abkommens ist.

Beide Seiten schüren erneut nationalistische Hysterie und machen sich gegenseitig Vorwürfe. Letzte Woche erreichte der Konflikt einen Höhepunkt, als die EU und Großbritannien sich gegenseitig handelspolitisch bedrohten und widersprüchliche Forderungen an AstraZeneca stellten.

Die Europäische Kommission, die als Exekutive der EU fungiert, will auf ihrem Gipfel am Donnerstag über ein Exportverbot von Impfstoffen nach Großbritannien abstimmen.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte letzte Woche gegenüber der Funke Mediengruppe erklärt: „Wir haben die Möglichkeit, einen geplanten Export zu verbieten. Das ist die Botschaft an Astrazeneca: Du erfüllst erst deinen Vertrag gegenüber Europa, bevor du beginnst, in andere Länder zu liefern.“

Von der Leyen warnte: „Und wir werden auch darüber nachdenken, ob Exporte in Länder, die höhere Impfraten haben als wir, verhältnismäßig sind (...) Mit anderen Worten, wir wollen zuverlässige Impfstofflieferungen, und wir wollen beim Export zwei Dinge sicherstellen: Gegenseitigkeit und Verhältnismäßigkeit (...) Wir sind bereit, alle Instrumente einzusetzen, die wir brauchen, um das zu erreichen. Es geht darum sicherzustellen, dass Europa seinen fairen Anteil bekommt.“

Berichten zufolge könnte von der Leyen von Notstandsvollmachten Gebrauch machen, um die Impfstofflieferungen an die EU zu erhöhen, u.a. durch Beschlagnahme von Fabriken und den Verzicht auf Patentrechte. Solche drakonischen Maßnahmen hat die EU bisher nur einmal benutzt: auf dem Höhepunkt der Ölkrise in den 1970ern.

Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace warnte am Sonntag in einem Interview mit Sophy Ridge von Sky vor möglichen Vergeltungsmaßnahmen gegen Brüssel: „Wenn Verträge gebrochen werden (...) ist das etwas sehr Schädliches für einen Handelsblock, der sich mit der Einhaltung rechtsstaatliche Prinzipien rühmt.“ Ein „hochrangiger britischer Insider“ äußerte sich gegenüber Politico am Sonntagabend aggressiver. Er erklärte, ein Exportverbot sei für die EU ein „schrecklicher Weg, wenn sie ihn einschlagen“.

Im Mittelpunkt der Krise steht ein Produktionswerk im niederländischen Leiden, das zusammen mit einem Werk in Belgien Bestandteile des AstraZeneca-Impfstoffs produziert. Das niederländische Werk wird von dem niederländischen Subunternehmen Halix betrieben, das in den Verträgen von AstraZeneca mit Großbritannien und der EU als Lieferant von Impfstoff genannt wird. Großbritannien fordert, dass die Produktion von Halix zuerst an das britische Impfprogramm gehen müsse. Die EU hingegen erklärte gegenüber Reuters: „Was bei Halix produziert wird, muss an die EU gehen.“

Bei Halix wurde bereits eine noch unbekannte Menge von Impfstoff produziert und gelagert. Bis vor ein paar Tagen hatte AstraZeneca noch keine Genehmigung der EU für den Halix-Betrieb beantragt. Ohne diese Genehmigung kann der dort produzierte Impfstoff jedoch nicht in der EU eingesetzt werden. Mittlerweile wurde jedoch eine Genehmigung beantragt, die Entscheidung der EU darüber wird für Mittwoch erwartet.

Die EU hat außerdem gefordert, dass zwei Werke in Großbritannien, die von Oxford Biomedica und Cobra Biologics betrieben werden, Impfstoff zur Verteilung nach Brüssel schicken. Beide Werke sind im Vertrag zwischen der EU und AstraZeneca als Lieferanten aufgeführt, haben aber noch nichts an die EU geliefert.

Von der Leyen wies darauf hin, dass dies so ist, obwohl Brüssel bereits zehn Millionen Dosen Impfstoff an Großbritannien geschickt hat. Sie sind Teil von mindestens 41 Millionen Impfstoffdosen, die seit dem 1. Februar von der EU an 33 Staaten ausgeliefert wurden.

Letzte Woche warnte die konservative Regierung des britischen Premierministers Boris Johnson, dass zwar fast 50 Prozent der britischen Bevölkerung mindestens eine Impfstoffdosis erhalten haben, es jetzt jedoch zu Versorgungsproblemen gekommen sei, die das Impfprogramm schon bald ins Stocken bringen würden. Diese Probleme gehen scheinbar nicht auf einen Lieferstopp der EU zurück, sondern auf Produktionsengpässe bei den Herstellern, vor allem bei AstraZeneca. Die Hauptursache des Engpasses, der die globale Verteilung des Impfstoffs beeinträchtigt, ist ein Lieferproblem in Indien. Mehr als vier Millionen Dosen, die nächsten Monat von Indien nach Großbritannien geliefert werden sollten, sind jetzt blockiert.

Der britische Premierminister Boris Johnson bei einer Pressekonferenz zur Corona-Pandemie am 18. März 2021 (Quelle: Simon Dawson / No 10 Downing Street-FlickR)

Laut einer Analyse des Guardian „droht dem britischen Covid-Impfprogramm im Falle eines Exportverbots der EU eine Verzögerung von zwei Monaten, was die Pläne der Regierung für eine Wiederöffnung der Wirtschaft im Sommer zunichtemachen würde“. Der Guardian hat eine Studie bei dem Datenanalyse-Unternehmen Airfinity in Auftrag gegeben, laut der ein Exportverbot des Impfstoffs von Pfizer und BioNTech aus Belgien und Deutschland nach Großbritannien das Ziel gefährden würde, jedem Erwachsenen bis zum 5. August die erste Impfung zu verabreichen. Die Regierung will die Wirtschaft am 20. Juni wieder vollständig öffnen.

Als Reaktion darauf nahm Johnson panische Verhandlungen mit einzelnen EU-Regierungschefs auf. Letzte Woche sprach er mit dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte und seinem belgischen Amtskollegen Alexander de Croo. Am Sonntag verhandelte er mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Premierminister Emmanuel Macron.

Am Montag erklärte Johnson, er habe sich „davon überzeugt“, dass die EU-Regierungschefs „keine Blockaden“ des Exports von Covid-Impfstoffen wollen. Später erklärte er, London setze „das Impfprogramm so schnell wie möglich um, aber eine Impfkampagne, die Entwicklung von Impfstoffen und ihre Verteilung sind internationale Projekte und erfordern internationale Kooperation“.

Johnsons Regierung ist für ca. 150.000 Covid-Todesopfer verantwortlich und zunehmend mit Streiks konfrontiert. Mehrere Quellen berichten, er erwäge deshalb einen Teilrückzug. Die Daily Mail berichtete am Montag, das niederländische Werk habe „genug Rohstoff für fünf Millionen Impfstoffdosen (...) Hohe Kreise aus der Downing Street erklärten gegenüber der Times, die britische Regierung wolle sich den riesigen Bestand mit der EU teilen, um einen offenen Handelskrieg um den Impfstoff zu verhindern.“

Auf abstoßende Art und Weise inszenieren sich Johnson und von der Leyen als moralisch überlegen über den jeweils anderen. Beide führen einen Handelskrieg, beiden geht es nicht um die katastrophalen Folgen für die öffentliche Gesundheit, die es hätte, wenn sie sich den Impfstoff nicht teilen. Ihnen geht es nur darum, dass eine Verzögerung bei der Verteilung des Impfstoffs die vollständige Wiederöffnung der Wirtschaft hinauszögern und die Konzerne bei der Anhäufung von Profiten behindern könnte.

Führende EU-Politiker treten offen für ein Exportverbot von Impfstoffen ein, um zu zeigen, dass die EU eine wichtige Macht in den bevorstehenden Handels- und Militär-Konflikten sein kann. Manfred Weber, ein führendes CSU-Mitglied und Vorsitzender der konservativen EU-Parlamentsfraktion, erklärte im Spiegel: „Die Europäische Union sollte jetzt ein temporäres Exportverbot für alle in der EU produzierten Impfstoffe in Betracht ziehen. (...) Wir brauchen etwas mehr ,EU First‘ (...) Wir als Europäer haben mit unseren Möglichkeiten nach wie vor die Chance, bei den Ersten zu sein, die die Pandemie stoppen können. Aber wenn wir unsere Herangehensweise nicht ändern, hat das nicht nur substanzielle ökonomische Folgen, weil die Europäer dann massiv an Wirtschaftskraft verlieren, während China und die USA durchstarten.“

Unabhängig von den umittelbaren Folgen der europäischen Impfstoffkrise schafft sie die Grundlagen für künftige Handels- und Militär-Konflikte und weitere vermeidbare Verluste von Menschenleben aufgrund einer tödlichen Krankheit. Auf dem Kontinent, zu dem einige der reichsten kapitalistischen Staaten der Welt gehören, ist die EU stolz darauf, dass 55 Fabriken Impfstoffe produzieren. Allerdings gibt es nicht die geringste Koordination in der Frage, wie die Impfung der Bevölkerung sichergestellt werden soll.

Weil die EU-Staaten keinen Plan auf wissenschaftlicher Grundlage ausarbeiten, um Impfstoff zu produzieren und zu verteilen, wurden nur 13 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal geimpft. Während im Frühjahr die Zahl der Infektionen in ganz Europa wieder zunimmt, gibt es in der gesamten EU noch immer 20 Millionen ungenutzte Impfstoffdosen.

Der einzige Ausweg aus der Pandemie ist eine internationale Lösung, für die die Arbeiterklasse im Interesse der Menschheit kämpft. Dieser Kampf muss auf einem sozialistischen Programm basieren, der die Interessen der Gesellschaft vor das Profitstreben der Konzerne und die Spaltung der Welt in konkurrierende Nationalstaaten stellt.

Loading