71. Internationale Filmfestspiele Berlin

„Natural Light“ – wie Krieg und Barbarei ein menschliches Gesicht zeichnen

Die Berlinale 2021 fand Anfang März in Form von Online-Vorführungen ausgewählter Filme vor Fachpublikum des Europäischen Filmmarkts und einigen Journalisten statt. Das Publikum soll erst im Juni eine Mehrzahl der Filme zu sehen bekommen. Dann wird auch die offizielle Preisverleihung stattfinden.

István Semetka (Ferenc Szabó) in "Natural Light" (Bild: Tamás Dobos)

Es ist ein Antikriegsfilm der besonderen Art. „Es reizte mich, einen Spielfilm ausschließlich auf ein scheinbar regungsloses Gesicht zu stützen“, sagt der junge ungarische Regisseur Dénes Nagy zu seinem Wettbewerbsbeitrag in der diesjährigen Berlinale „Natural Light“ (Természetes fény), der den Silbernen Bären für Regie erhielt. Er bezeichnet dies als das Wesentliche seines Films.

In der Tat ist das dunkle, zerfurchte Gesicht des ungarischen Unteroffiziers István Semetka immer präsent, sparsam beleuchtet von Lichtstrahlen, die in einem Sumpfgebiet ab und zu durch die Bäume brechen. Semetka gehört zu den 100.000 Soldaten des mit Hitler verbündeten ungarischen Horthy-Regimes, die auf dem besetzten sowjetischen Gebiet gegen die Partisanen eingesetzt werden.

Zwar ist der Film angesiedelt im Zweiten Weltkrieg, doch geht er über diese konkrete Vergangenheit hinaus. Er ist auch mehr als eine Antwort auf das heutige Ungarn, wo die Regierung unter Orbán die faschistischen Kollaborateure der Nazis als Helden feiert.

István Semetka ist kein Held. Er ist ein einfacher ungarischer Bauer, der für einen Krieg rekrutiert wird, den er instinktiv ablehnt, gegen den er aber nicht rebelliert. Vom Krieg gegen die Partisanen und den Strafaktionen gegen die Zivilbevölkerung sieht und hört man nicht viel, Dialoge gibt es kaum – umso brutaler klingen die Schläge und Schreie, wenn Dorfbewohner terrorisiert und auf dem Dorfplatz zusammengetrieben werden.

Es sind Bauern wie Semetka. Sein Blick ist auf ihre Füße gerichtet, die das karge Licht in einer schaurig-dunklen Umgebung anstrahlt: knorpelig und alt, schmutzig, in zerfetzten Bauernlatschen, dazwischen nackte Kinder-, Mädchenfüße. Bilder, die unter die Haut gehen.

Bei einer Streife im Wald fällt der Kommandeur dem Partisanenfeuer zum Opfer, und Semetka muss kurzfristig die Einheit leiten. Er zeigt Mitgefühl mit der Dorfbevölkerung, die in die Scheune eingesperrt worden ist. Als das Licht auf das Gesicht eines jungen Mädchens mit ihrem Säugling fällt, kommt er ihrer Aufforderung „Hol uns Wasser“ nach. Die junge Mutter gibt zuerst einen Schluck ihrem Kind und reicht dann den Becher in die Runde der anderen Mitgefangenen.

Man spürt die tiefe Scham unter der unbewegten Miene Semetkas. Es ist nicht sein Krieg. Und doch sieht er keine Möglichkeit einzugreifen. Nagy sagt dazu: „Es ist ein Mann, der niemanden verletzen möchte, der vor Gewalt zurückschreckt, aber zur gleichen Zeit Komplikationen und Probleme für sich selbst vermeiden will. Man könnte sagen, er ist ein guter Mensch. Aber er ist auch ein schwacher Mensch.“ Diese Widersprüchlichkeit wollte er zeigen.

Als ein neuer Kommandeur kommt und ihn auf Streife in den Wald schickt, richtet Semetka einen langen Blick auf die Scheune, in dem die Menschen eingesperrt sind – man ahnt Schreckliches. Semetka folgt aber dem Befehl. Als sein Trupp zurückkehrt, ist das lodernde Feuer der Scheune durch die Bäume zu sehen.

Später, beim Bericht im Hauptquartier, erwähnt Semetka das brutale Verbrechen nicht. Er schweigt mit versteinertem Gesicht, als der General erklärt: „Lasst uns das alles vergessen!“ und ihn auffordert, ein paar Tage Urlaub bei seiner Familie zu machen. Am Ende sieht man ihn im fahrenden Zug, ein unbewegtes, finsteres Soldatengesicht – gegenüber das Gesicht eines Zivilisten aus der Jetztzeit, ausgeruht, freundlich, sorglos, mit einem Hang zur Selbstgefälligkeit.

Allein dieser Kontrast macht schaudern. Wie der Regisseur im Interview sagt, gibt es auch heute ringsum Krieg. Er habe aufzeigen wollen, wie Menschen plötzlich in eine unbekannte Situation geraten, nicht wissen, was sie erwartet, und zu spät erkennen, was gespielt wird.

„Natural Light“ stützt sich auf einen Roman gleichen Titels von Pál Závada, der 2014 erschienen ist und zu den Bestsellern in Ungarn gehört. Die Romanfigur Semetka wird mit dem Trauma der Erlebnisse im Krieg nicht fertig und begeht einige Jahre später Selbstmord.

Allerdings entnimmt Nagy nur einen kleinen Ausschnitt des Romans aus dem Jahr 1943. Er wollte diese Geschichte nicht zu Ende führen, sagt er, sondern sich auf einen Moment konzentrieren: „Welche Dinge haben ihn dazu gebracht, Teil des Mordens zu werden? Welche Entscheidungen hat er auf dem Weg dahin nicht getroffen?“ Er wolle einen Menschen zeigen, der seine Lage „zu spät erkennt“, betont der Regisseur, und fügt hinzu: „Ich denke, dass auch wir sehr leicht in eine solche Situation geraten können.“

Um seinen Film möglichst authentisch zu gestalten, hat Nagy sein Darstellerteam nur mit Amateuren besetzt. Jahrelang suchte er die passenden Personen in der ungarischen, litauischen und russischen Landbevölkerung. Auch der Drehort sollte die tatsächliche Situation im Zweiten Weltkrieg möglichst lebendig werden lassen. Die ungarischen Darsteller wurden Tausende von Kilometern an die litauisch-russische Grenze gebracht, wo ihnen die Darsteller der sowjetischen Dorfbewohner gegenüberstanden. Sie befanden sich wie im realen Krieg an unbekanntem Ort mit Menschen unbekannter Sprache, die wie sie selbst zur einfachen Landbevölkerung gehörten.

Zu seinen künstlerischen Mitteln gehören Bilder der Natur mit ihren vier Elementen Wasser, Erde, Feuer und Luft, die „niemals freundlich oder sanft oder zivilisiert auftreten“, sondern rau, mächtig, gleichgültig gegenüber dem menschlichen Leben. Hinzu müsse man das Fleisch zählen, das zu Beginn des Films gezeigt wird, wenn die Soldaten einen Elch aufschneiden – laut Nagy sei dies heute die einzige Gelegenheit einer ungeschützten Konfrontation mit der Natur.

Zu seinen Vorbildern zählt Nagy den berühmten sowjetischen Filmemacher Andrej Tarkowskij, insbesondere dessen mehrfach ausgezeichneten Film „Andrej Rubljow“ über die russische Geschichte des Spätmittelalters, in dem das Verhältnis von Künstler und Gesellschaft im Mittelpunkt steht.

Die Filme Tarkowskijs erzeugen mit einer fast statischen Bildsprache nachhaltige Stimmungen. Er wolle mit dem Zuschauer „nicht über eindeutig nacherzählbare Inhalte kommunizieren“, schrieb der in Paris 1986 gestorbene Tarkowskij in seinem Buch „Die versiegelte Zeit“, sondern „psychische Grundzustände reanimieren“, die allgemeingültig und verständlich seien. Die „Logik des Poetischen“ sei ihm „näher als die traditionelle Dramaturgie“ und reine „Ereignisverkettung“, da diese auf einer „Banalisierung der komplexen Lebensrealität“ beruhe.

Als weitere Vorbilder nennt Nagy den litauischen Film „Trys dienos“ vonSharunas Bartas (1991) und den französischen Film „Flandern“ (2006) von Bruno Dumont, der in Cannes den Grand Prix gewann und von einem Mann in einem Krieg im Nahen Osten erzählt, wo er die Schrecken des Kriegs erlebt und sich zunehmend bedenkenlos daran beteiligt.

Dénes Nagys eindrucksvoller Debüt-Spielfilm hat verdientermaßen einen Silbernen Bären erhalten. Die letzten beiden Weltkriege haben die Humanität der Barbarei geopfert, und Millionen Menschen haben sich in dieses Gemetzel hineinziehen lassen und zu spät die Katastrophe erkannt. Die Folgen eines künftigen Weltkriegs mit Atomwaffen, das ist der Umkehrschluss seines nachdenklichen Films, ohne dass er dies ausspricht, dürfen nicht zu spät verstanden werden.

Allerdings gerät der Film am Ende in eine philosophisch fragwürdige Sackgasse und tendiert zu einem christlich-humanistischen Ausblick. Während er völlig korrekt die Widersprüchlichkeit des Individuums aufzeigt, verharrt er auf einem Standpunkt, der das Problem in der Natur des Menschen sieht. Die gesellschaftliche Ursache der Kriege damals und heute, eine von sozialer Ungleichheit zerrissene kapitalistische Welt, bleibt im Dunkeln. Bevor Semetka im Zug sitzt, wird eine kurze Szene von Gläubigen einmontiert, die vor Heiligenbildern niederknien und beten.

Nagy sagt dazu in seinem Interview: „Die Frage richtet sich an uns, an mich. Wir glauben zu wissen, was richtig und falsch ist, wer versagt hat und wer erfolgreich war. Wir glauben, dass wir uns ein klares Urteil über die Dinge um uns herum angeeignet haben, wir glauben, dass wir wissen, was unsere Aufgabe im Leben ist. Der Film will dieses Bild von uns selbst in Frage stellen.“

So landet er schließlich dabei, die wichtigste Grundlage der Humanität, Aufklärung und Vernunft, zu relativieren. Nagy wörtlich: „Ich möchte zeigen, dass das, was die Menschen eigentlich eint, diese Art von Zerbrechlichkeit ist, und nicht das Bewusstsein. In diesem Sinne ist diese Zerbrechlichkeit das, was wir alle teilen, während das Bewusstsein uns trennt.“

Solche kulturpessimistischen Positionen speisen sich vor allem aus dem stalinistischen Verrat an der internationalen sozialistischen Perspektive. Der 41-jährige Nagy war gerade neun Jahre alt, als die Politik der stalinistischen Bürokratie zur Rückkehr zum Kapitalismus geführt hatte und die bisherige gesellschaftliche Ordnung zusammenbrach.

Gerade in Ungarn, wo die Niederschlagung des Arbeiteraufstands von 1956 tiefe Narben hinterlassen hat, und wo heute eine rechtsextreme Regierung die Superausbeutung der ungarischen Arbeiter durchsetzt, sind bewusste Lehren aus den Erfahrungen der damaligen und heutigen Semetkas notwendig: Nicht der Sozialismus ist gescheitert, sondern der Stalinismus. Die weltweite Vereinigung der Arbeiter und damit der Menschen, ohne Krieg und Barbarei, ist das ureigenste Programm des Sozialismus und erfordert die Beseitigung des kapitalistischen Profitsystem.

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