Intensivstationen in Griechenland überfüllt, Regierung öffnet trotzdem Schulen und Geschäfte

Wie ganz Europa erlebt auch Griechenland eine heftige dritte Pandemiewelle. Mit über 4.000 täglichen Neuinfektionen wurde Anfang April ein neuer Höchstwert erreicht. Fast 10.000 Menschen sind bereits an Covid-19 verstorben – etwa ein Drittel davon, rund 3.300 Menschen, in den letzten zwei Monaten.

Eine Rekordzahl von 847 Patienten muss derzeit invasiv beatmet werden. Bereits seit Monaten arbeiten die Intensivstationen am Limit und sind jetzt überfüllt. Allein in der Athener Region Attika müssen aktuell 48 schwerkranke Corona-Patienten außerhalb einer Intensivstation beatmet werden, weil nicht genug Intensivbetten vorhanden sind. Auch Dutzende Patienten mit anderen Erkrankungen, die ein Beatmungsgerät benötigen, erhalten kein Intensivbett.

Nikos Kapravelos, der die Intensivstation am Krankenhaus Papanikolaou in Thessaloniki leitet, bezeichnete die Situation letzte Woche als „Alptraum“, es gebe keine Kapazitäten mehr. Gegenüber dem Fernsehsender Open News betonte er, dass immer jüngere Patienten im Krankenhaus behandelt werden. In Griechenland sind bis jetzt bereits drei Jugendliche unter 17 Jahren, 66 Menschen zwischen 18 und 39 Jahren und 1.406 zwischen 40 und 64 Jahren verstorben.

Die Regierung unter der rechten Nea Dimokratia (ND) reagiert auf diese kritische Lage mit derselben Rücksichtslosigkeit und Verachtung für Menschenleben wie die herrschende Klasse weltweit. Sie lockert mitten in die dritte Welle hinein und setzt eine vehemente Öffnungspolitik im Interesse der Wirtschaft und Tourismusindustrie um.

Schüler zurück im Präsenzunterricht in Glyfada, einem Vorort der griechischen Hauptstadt Athen (AP Photo/Yorgos Karahalis)

Am 5. April durfte der Einzelhandel wieder öffnen, am 12. April begann der Präsenzunterricht in den weiterführenden Schulen (Lyzeen) – ohne nennenswerte Schutzmaßnahmen außer zwei Schnelltests pro Woche. Wie der Intensivmediziner Kapravelos kommentierte, haben die eingesetzten Selbsttests aber eine geringe Verlässlichkeit, so dass viele Fälle übersehen werden.

Nach einer Woche mussten bereits fast 200 Schulen wegen Corona-Ausbrüchen ganz oder teilweise wieder schließen. Nach den orthodoxen Osterferien, die am 2. Mai beginnen, sollen auch die Grund- und Mittelschulen öffnen. Neue Übertragungsorte wird das Virus auch in den Kirchen finden, die an Ostern voraussichtlich mit geringfügigen Hygienemaßnahmen öffnen dürfen. Vor einem Jahr, als die täglichen Infektionen noch unter 100 lagen, blieben sie hingegen geschlossen.

Gleichzeitig laufen die Vorbereitungen für die Tourismussaison, die am 14. Mai startet. Schon jetzt werden die Einreiseregeln schrittweise gelockert. Tourismusminister Charis Theocharis behauptete am Montag im Parlament, ganz Griechenland sei „absolut hygienisch sicher“ und kündigte an, Tourismusbeschäftigte bevorzugt impfen zu lassen. Dabei sind erst 7,2 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft.

Die pseudolinke Oppositionspartei Syriza (Koalition der radikalen Linken) befürwortet ebenfalls die Tourismusöffnung und fordert von der Regierung auch die Wiederöffnung der Außengastronomie.

Unter den Bedingungen der gegenwärtigen Pandemieentwicklung und der Verbreitung zahlreicher gefährlicher Mutationen bedeutet die Tourismusöffnung vor allem eins: Die Profite der Wirtschaft, die stark vom Tourismus abhängt, sollen um jeden Preis gesichert werden – auch wenn Tausende dafür sterben müssen. Im letzten Jahr war die Öffnung des Tourismus im Sommer ein wesentlicher Faktor für die massive Virusverbreitung im Herbst. Vorher hatte Griechenland aufgrund eines schnellen und strengen Lockdowns vergleichsweise niedrige Fallzahlen, die dann nach der Feriensaison in die Höhe schossen.

Infolge stieg die Übersterblichkeit in Griechenland im letzten Jahr um etwa 7 Prozent. Den Angaben der Medien-NGO iMEdD zufolge starben rund 8.300 Menschen mehr als statistisch erwartet, davon geschätzt 61 Prozent an Covid-19, der Rest im Zusammenhang mit der Pandemie.

Um von den fatalen Konsequenzen ihrer Öffnungspolitik abzulenken, versucht die Regierung die Verantwortung für die Virusverbreitung auf die Bevölkerung abzuschieben. Da kamen ihr die Coronapartys am letzten Wochenende gerade recht. Zahlreiche Jugendliche verstießen gegen die Corona-Maßnahmen und feierten auf öffentlichen Plätzen in Athen – trotz der hohen gesundheitlichen Gefahren.

Sofort nutzte die herrschende Klasse die Partys für eine Medienkampagne im staatlichen Fernsehen und stellte die feiernden Jugendlichen als Hauptschuldige an den steigenden Infektionszahlen dar. Diese perfide Propaganda soll der Arbeiterklasse Sand in die Augen streuen und darüber hinwegtäuschen, wer in Wirklichkeit für die vielen Corona-Toten und Long-Covid-Erkrankten verantwortlich ist.

Die größten „Corona-Partys“ finden faktisch tagtäglich in den Betrieben, Lagerhallen, Büros und öffentlichen Verkehrsmitteln statt, wo Arbeiter und Angestellte dicht an dicht in Innenräumen zusammengepfercht und ohne ausreichenden Abstand und Schutzmaßnahmen der Ansteckungsgefahr ausgeliefert sind. Alle Unternehmen laufen trotz der Pandemie munter weiter, damit weder die Lieferketten noch die Höhenflüge der Aktienkurse unterbrochen werden.

Informationen über die Covid-Verbreitung in den Betrieben sind rar. Die Unternehmen schöpfen alle erdenklichen Mittel der Einschüchterung und Bedrohung ihrer Mitarbeiter aus, um Ausbrüche zu vertuschen. Hier nur einige Beispiele über das Infektionsgeschehen in der Arbeitswelt, die bekannt geworden sind:

Am 18. März musste ein Betrieb des Verpackungsunternehmens „Afoi Lalousi“ im Industriegebiet Avlona in der Region Attika, in dem rund 85 Arbeiter beschäftigt sind, wegen eines größeren Corona-Ausbruchs für fünf Tage schließen. In der Anordnung des Bürgerschutzministeriums wird von einer „hohen epidemiologischen Belastung“ gesprochen und vor einem „Risiko für die öffentliche Gesundheit“ gewarnt, jedoch ohne konkrete Angaben über die betroffenen Arbeiter.

Letzte Woche hat eine Mitarbeiterin der Supermarktkette Sklavenitis den Kampf gegen das Virus verloren – damit sind bereits drei Sklavenitis-Beschäftigte an Covid-19 verstorben. Die Supermarkt-Angestellten, die seit Beginn der Pandemie an der vordersten Front stehen, klagen über unzureichende Schutzmaßnahmen und viele Arbeitsunfälle aufgrund der hohen Arbeitslast. Anfang März traten auch 16 Fälle in einer Filiale in Thessaloniki auf.

Laut einer lokalen Branchengewerkschaft der Handels- und Dienstleistungsunternehmen in Patras wurden dort in diesem Jahr in zahlreichen Läden und Lagern Fälle entdeckt, die sich ausbreiteten, weil die Arbeitgeber frühzeitige Tests und Quarantänemaßnahmen verweigerten. So etwa in einem Lager von der Supermarktkette Lidl, das rund 60 Arbeiter beschäftigt. Dort wurde ein aufgetretener Coronafall drei Tage verheimlicht. Erst auf Druck der Belegschaft wurden schließlich alle Kollegen getestet – und 15 positive Fälle entdeckt.

Auch im letzten Jahr sickerten immer wieder Infektionscluster in Unternehmen durch: 30 Fälle in einem Fleischverarbeitungsbetrieb in Kavala, 50 Fälle in einem Olivenverarbeitungsbetrieb in Chalkidiki im August, 114 Fälle in einer Konservenfabrik in Nordgriechenland im Oktober.

Die tägliche Übertragung des Virus am Arbeitsplatz ist ein offenes Geheimnis. iMEdD Lab hat nach einer Auswertung für die Monate November und Dezember 2020 festgestellt, dass die meisten Neuinfektionen am Arbeitsplatz stattfanden. Von 758 überprüften Fällen seien 434 im beruflichen Kontext aufgetreten, etwa in Betrieben und privaten Unternehmen, und 166 in geschlossenen Einrichtungen wie z. B. Pflegeheimen, psychiatrischen Kliniken, Lagern und Rehabilitationszentren.

Auf einer Pressekonferenz des Gesundheitsministeriums am 3. April musste auch die Epidemiologin Vana Papaevangelou, die zum Beraterteam der Regierung gehört, einräumen: „Es ist bekannt, dass die Hauptverbreitung des Virus am Arbeitsplatz und zuhause stattfindet.“ Im gleichen Atemzug wird dann der Einsatz der Schnelltests angepriesen, was aber bei der gegenwärtigen Infektionslage eine Nebelkerze ist. Nur ein Lockdown, der die Schließung der Schulen, Kitas und nicht lebensnotwendigen Produktion umfasst und mit einem vollen Lohnausgleich für alle betroffenen Arbeiter und Eltern einhergeht, kann die Pandemie eindämmen.

Die herrschende Klasse verhindert nicht nur den notwendigen Lockdown, sondern verweigert auch jegliche Unterstützung des Gesundheitssystems. Laut einer Datenanalyse von iMEdD, die sich auf Angaben des Griechischen Verbands für Intensivmedizin im Januar und Februar stützt, unterschreiten von 51 untersuchten Covid-Intensivstationen 40 die staatlichen Voraussetzungen bei der Personalausstattung.

Trotz der desaströsen Unterbesetzung der Krankenhäuser hat die Regierung den Gesundheitsetat in diesem Jahr um weitere 572 Millionen gekürzt. Gleichzeitig behindert sie die Berichterstattung über die Bedingungen im Gesundheitswesen. Reporter ohne Grenzen kritisiert in ihrer aktuellen Einschätzung zu Griechenland, dass Journalisten eine Regierungserlaubnis einholen müssen, bevor sie in Krankenhäusern berichten dürfen. Das Gesundheitsministerium habe zudem seinem Personal untersagt, mit der Presse zu sprechen.

Unter Ärzten und Krankenpflegern mischen sich Einsatzbereitschaft und Erschöpfung immer mehr mit Wut und Empörung. Am 7. April protestierten Beschäftigte vor mehreren Krankenhäusern und dem Gesundheitsministerium in Athen. Zu den Sprechern gehörte auch der Arzt Kostas Katarachias, Vorsitzender eines Betriebsrats im Athener Krankenhaus „Agios Savvas“, der nach 13 Jahren Arbeit mitten in der Pandemie entlassen worden war, weil er die Zustände im Gesundheitswesen angeprangert hatte.

Die Gewerkschaft der Angestellten in öffentlichen Krankenhäusern (POEDIN) versucht die explosive Stimmung in den Krankenhäusern unter Kontrolle zu halten und hat deshalb für Donnerstag, den 22. April, zu einer fünfstündigen Arbeitsniederlegung in Attika und einer Demonstration zum Gesundheitsministerium aufgerufen.

POEDIN arbeitet eng mit der Regierung und den etablierten Parteien zusammen. Der Generalsekretär des Gewerkschaftsverbands, Christos Papanastasis, ist zugleich führendes Mitglied der ND-nahen Gewerkschaft DAKE und der Vorsitzende von POEDIN, Michalis Giannakos, gehört einer Gewerkschaftsfraktion an, die der sozialdemokratischen KINAL (früher Pasok) nahesteht.

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