Perspektive

Vor einem Jahr wurde George Floyd von der Polizei ermordet

Vor einem Jahr, am 25. Mai 2020, wurde George Floyd Jr. von der Polizei in Minneapolis am helllichten Tag getötet, als der Polizist Derek Chauvin mehr als neun Minuten lang sein Knie in Floyds Hals drückte. Floyd flehte um sein Leben und rief wiederholt: „I can't breathe!" (Ich kann nicht atmen). Er lag mit dem Gesicht nach unten auf der Straße in Handschellen, und Umstehende flehten die Polizei an, mit der Folter aufzuhören.

Demonstration am 19. April 2021 in Minneapolis anlässlich des Prozesses gegen den ehemaligen Polizisten Derek Chauvin (AP Photo/Morry Gash)

Die Demonstrationen nach Floyds Tod weiteten sich schnell von lokalen Unruhen in Minneapolis zu einer Welle weltweiter Proteste aus, die ein Ende der Polizeibrutalität forderten. Die Demonstrationen waren multiethnisch und multinational geprägt. Proteste wurden auf jedem Kontinent in über 2.000 Städten und Gemeinden registriert. Allein in den USA nahmen schätzungsweise 15 bis 26 Millionen Menschen an den Demonstrationen teil, was sie zu den größten in der Geschichte der USA macht. Die Menschen besetzten die Straßen der größten Städte, und die Proteste breiteten sich auch im ländlichen Raum aus, auch in eher von Weißen bewohnten Gegenden.

Der unmittelbare Auslöser für die Massendemonstrationen war die Empörung über die unzähligen Tötungen durch Polizisten in den Vereinigten Staaten, doch es drückten sich darin auch tiefere gesellschaftliche Prozesse aus. Floyd wurde zu eine kritischen Zeitpunkt in der Ausbreitung der weltweiten Coronavirus-Pandemie getötet.

Nachdem die herrschende Klasse Ende März Billionen Dollar an die Banken verteilt hatte, begann sie mit einer systematischen Kampagne, um die arbeitende Bevölkerung zurück an ihre Arbeitsplätze zu zwingen. Gleichzeitig verstärkte die Reaktion der herrschenden Klasse auf die Pandemie enorm den Verfall des Lebensstandards bei Arbeitern und jungen Menschen, die erdrückende Verschuldung und das extreme Wachstum der sozialen Ungleichheit.

Die brutale Reaktion auf die Proteste, die zuvorderst von der Trump-Regierung ausging, zeigte deren Angst vor einer größeren sozialen Explosion. Die Städte verhängten Ausgangssperren, während das Weiße Haus und mehr als 30 US-Bundesstaaten über 96.000 Soldaten der Nationalgarde und anderer militärischer Einrichtungen aktivierten. Die Polizei wütete in allen US-Städten, egal ob von Demokraten und Republikanern regiert.

Die Reaktion der Trump-Regierung war ein Versuch, einen Staatsstreich vonseiten des Präsidenten vorzubereiten. Eine Woche nach dem Tod von Floyd hielt Trump seine Rosengartenrede, in der er drohte, sich auf das Aufstandsgesetz zu berufen, um das Militär auf heimischem Boden einzusetzen. Er warnte die Gouverneure, dass es sich um „eine Bewegung“ handele, die „niedergeschlagen“ werden müsse.

Die Demokraten hingegen unterstützten einerseits das Vorgehen der Polizei, versuchten aber auch, die Proteste zu kapern und sie in rassistische Fahrwasser zu lenken. Laut den Demokraten und ihren pseudolinken Unterstützern hatte die Polizeigewalt nichts mit Klassenfragen zu tun. Vielmehr handele es sich um einen „systematischen Rassismus“, für den nicht die Polizei als staatliche Institution, sondern die Bevölkerung als Ganzes verantwortlich sei. Dies war eine sehr öffentlichkeitswirksame und gut finanzierte Kampagne, bei der Unternehmen Dutzende von Millionen an Organisationen wie Black Lives Matter spendeten.

Zweifelsohne spielt Rassismus bei vielen Fällen polizeilicher Gewalt eine Rolle. Die rückständigsten und schlimmsten sozialen Elemente werden in den Reihen der Polizei und ihrer Sondereinheiten kultiviert, die letztlich die Interessen der kapitalistischen herrschenden Elite verteidigen.

Die unverhältnismäßig starke Gewalt gegen Minderheiten lässt sich jedoch vor allem mit dem hohen Maß an Armut unter eben jenen Minderheitengruppen erklären. Was die überwältigende Mehrheit der Menschen verbindet, die von der Polizei getötet wird, ist ihr sozialer Hintergrund, die Herkunft aus der Arbeiterklasse, und nicht ihre Hautfarbe oder „Rasse“.

In dem Jahr seit Floyds Tod wurden mehr als 1.000 Menschen von der Polizei getötet, in ihrer Mehrzahl Weiße. Weiße sind in jedem Jahr die größte Gruppe der von der Polizei getöteten Personen.

Am Montag, fast ein Jahr nach Floyds Tod, zeigt ein neu veröffentlichtes Video aus Tennessee, wie Gefängniswärter des Marshall County Jail fast vier Minuten lang auf dem Rücken eines gefesselten Mannes knien. William Jennette, ein 48-jähriger weißer Mann, starb während der brutalen Behandlung am 6. Mai 2020, nur wenige Tage bevor die Polizei Floyd ermordete.

In dem Video ist zu hören, wie die Polizei Jennette verhöhnt, während er die Männer darauf hinweist, dass er keine Luft bekommt. Man hört ihn rufen: „Hilfe! Sie werden mich umbringen!“ Und er schreit, dass er nicht atmen kann. Einer antwortet: „Du sollst nicht atmen, du dummer Bastard.“ Das Marshall County Medical Examiner's Office stufte Jennettes Tod als Tötungsdelikt ein, aber die Grand Jury lehnte es ab, einen der beteiligten Gefängniswärter anzuklagen.

Jennettes schrecklicher Tod wurde von den Leitmedien damals nicht thematisiert, weil sein Tod - fast derselbe wie der von George Floyd - nicht in das Narrativ passt, dass Polizeigewalt ein Problem des in der amerikanischen Gesellschaft tief verwurzelten systemischen Rassismus ist. Die New York Times und andere große Medien berichten fast nie über die Polizeigewalt gegen weiße Jugendliche und Arbeiter.

Die World Socialist Web Site vertritt den Standpunkt, dass der Versuch, Polizeibrutalität allein als Rassismusproblem zu erklären und sogar die Opfer unter der weißen Bevölkerung zu ignorieren, nur die Klassenfrage hinter der ausufernden Polizeigewalt in Amerika verschleiern soll.

Die Klassenfragen wiederum sollen vertuscht werden, um den notwendigen Schritt zu blockieren, der Polizeigewalt tatsächlich etwas entgegenzustellen: Dies ist die Entwicklung einer Bewegung in der Arbeiterklasse, die Arbeiter aller Herkünfte, Hautfarben und Nationalitäten vereint. Dies ist die einzige Grundlage für den Widerstand gegen Ungleichheit, Unterdrückung und alle Ausdrucksformen von Rückständigkeit - einschließlich den von der herrschenden Klasse aufgepeitschten Rassismus, der die arbeitende Bevölkerung spalten soll.

Die Masse an Polizeigewalt in den Vereinigten Staaten ist das Produkt einer von Klassengegensätzen zerrissenen Gesellschaft, die durch ein noch nie dagewesenes Maß an sozialer Ungleichheit gekennzeichnet ist. Die Konzentration des Reichtums in den Händen der oberen Gesellschaftsschichten hat im vergangenen Jahr massiv zugenommen, im Jahr 2020 kamen 412 neue Milliardäre hinzu.

Was hat sich im letzten Jahr geändert? Die Demokraten - die jetzt die Kontrolle über das Weiße Haus und beide Kammern des Kongresses haben - haben soziale Reformen zugunsten der arbeitenden Bevölkerung versprochen, aber die Polizei tötet weiterhin Menschen im gleichen Umfang wie seit 2013, durchschnittlich drei Menschen pro Tag. Das mit Fanfaren angekündigte Gesetz George Floyd Justice in Policing Act of 2020, mit dem angeblich Maßnahmen einführt werden, um die Strafverfolgungsbehörden zur Verantwortung zu ziehen, hat sein Momentum im Kongress verloren und wird nicht innerhalb der von Präsident Joe Biden gesetzten Frist zur Polizeireform kommen.

Die Biden-Regierung demonstriert einmal mehr, dass die Demokraten ebenso wie die Republikaner rücksichtslose Verteidiger des kapitalistischen Staates und seiner Polizei sind.

Es hat sich jedoch auch eine andere Entwicklung abgezeichnet – der Beginn einer explosiven Opposition in der Arbeiterklasse gegen die Politik der herrschenden Klasse in Form von Kämpfen der Autoarbeiter, Erzieher, Arbeiter im Gesundheitswesen, Stahlarbeiter, Bergarbeiter und anderer Teile der Arbeiterklasse. Sie streben danach, sich von der Kontrolle der Gewerkschaften zu lösen, die eng mit Staat und Unternehmen zusammenarbeiten.

Die Pandemie hat einen enorm radikalisierenden Einfluss auf das Bewusstsein der arbeitenden Bevölkerung und der Jugend – und zwar aller Hautfarben und Nationalitäten. Diese soziale Kraft, mobilisiert auf der Grundlage eines sozialistischen Programms, stellt die tatsächliche Basis dar, auf der Widerstand gegen die grassierende Polizeigewalt in den Vereinigten Staaten geleistet werden kann.

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