Der Streik der Berliner „Gorillas“-Kuriere und der Kampf gegen extreme Ausbeutung

Mitte vergangener Woche traten rund hundert Beschäftigte des Berliner Lebensmittel-Lieferdienstes Gorillas in einen spontanen Streik. Anlass war die fristlose Kündigung eines „Riders“, wie die Auslieferungsfahrer im Fachjargon genannt werden.

Gorillas agiert offensichtlich nach dem Prinzip „Hire and Fire“. Auf Twitter schilderte der betroffene Gorilla-Mitarbeiter Santiago was passiert war. Für ihn völlig überraschend sei er am Mittwochvormittag, zum Ende seiner Schicht, auf dem Gehweg vor dem Lager des Lieferdienstes am Checkpoint Charlie in Berlin von einer Frau angesprochen worden, die sich nicht vorgestellt, aber erklärt habe, er sei mit sofortiger Wirkung entlassen. Er sei überrascht und empört gewesen und habe versucht, Kollegen zu erreichen, um sie zu informieren.

Solidarität mit Santiago

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Wenige Stunden später versammelten sich knapp 70 Gorillas-Beschäftige aus verschiedenen Schichten und Standorten vor dem Lager des Lieferdienstes und forderten eine Erklärung von Seiten der Geschäftsleitung. Als die ausblieb, wurde spontan entschieden, die Arbeit niederzulegen und zu streiken. Vor dem Eingang zum Lager wurden die Fahrräder zu einer Barrikade aufgetürmt und der Zugang blockiert.

Um die Situation zu entschärfen, habe dann ein verantwortlicher Manager von Gorillas entschieden, den Betrieb im Lager „Charlie“ vorzeitig einzustellen und mit den Beschäftigten zu diskutieren. Dieses Gespräch sei aber „sehr unbefriedigend“ gewesen. Deshalb hätten die Fahrer sich entschlossen, den Kampf auszuweiten. In einem Fahrradkonvoi von etwa 100 Teilnehmern fuhren die Streikenden nach Berlin-Mitte, um das dortige Lebensmittellager zu blockieren, was allerdings von einem Großaufgebot der Polizei verhindert wurde.

Zusätzlich zur Forderung, die fristlose Kündigung von Santiago rückgängig zu machen und ihn wieder einzustellen, verlangten die Streikenden nun die Abschaffung der sechsmonatigen Probezeit und das Ende aller willkürlichen Kündigungen. Künftig dürfe es keine Entlassung mehr geben, ohne dreimalige vorherige Abmahnung.

Als Vorwand für die Kündigung diente, dass Santiago an diesem Tag zu spät zum Dienst erschienen war. Er hatte allerdings rechtzeitig seinen Schichtleiter (Rider-Op) informiert. Entgegen den Aussagen des Managements, es habe „negatives Feedback“ über ihn gegeben, erklärten Kollegen, Santiago sei sogar ganz oben im Ranking der besten Rider gewesen. Auf einer Protestkundgebung gegen die Entlassung wurde betont, dass die Kündigung als Drohung gegen alle Beschäftigte verstanden werden müsse.

Die Geschäftsführung nutzt die für eine solche Tätigkeit sehr lange Probezeit von sechs Monaten, um kritische Mitarbeiter ohne Angabe von Gründen zu feuern. Gorillas-Gründer und CEO Kağan Sümer erklärte gegenüber Medien dreist, wenn „jemand entlassen wird, dann geschieht das im Interesse unserer Community“.

Am Donnerstag wurden die Streiks und Blockaden am Standort Prenzlauer Berg fortgesetzt. Bereits im Februar war es zu einem spontanen Streik gekommen, nachdem infolge des harten Wintereinbruchs eine sichere Auslieferung der Waren durch das Management nicht gewährleistet werden konnte.

Gorillas verspricht, Kunden innerhalb von 10 Minuten mit Lebensmitteln zu beliefern. Um dies umsetzen zu können, wurden in kurzer Zeit Tausende Beschäftigte angestellt. Vor allem junge Menschen, Studenten, häufig aus dem Ausland, die dringend einen Job benötigen, um über die Runden zu kommen, werden angeheuert. Für die anstrengende Tätigkeit zahlt Gorillas lediglich 10,50 Euro pro Stunde. Arbeitshetze und Kostendruck sind groß. Bei einer Liefergebühr von 1,80 Euro müssen binnen Minuten Waren gepackt und bei allen Wetter- und Verkehrsbedingungen schnell ausgeliefert werden.

Unter diesem enormen Druck sind die Arbeitsbedingungen nahezu unerträglich. Das ZDF beschreibt die Auswirkungen folgendermaßen: Rückenschmerzen durch schwere, sperrige Lieferungen; kurzfristige, kaum mit dem Privatleben zu vereinbarende Arbeitseinsätze; unsichere Lohnzahlungen; permanenter Druck.

Auch Der Spiegel bezeichnet die Arbeitsbedingungen als „teilweise die Hölle“. Von mehreren anderen Lieferdiensten wurden auch gefährliche Arbeitsbedingungen durch Corona bekannt. Häufig können in den engen Lagern Abstandsregeln nicht eingehalten werden. Auch Desinfektionsmittel und FFP2-Masken sind nicht überall vorhanden.

Gegenüber Zeit-Online beschrieb eine Fahrerin die harte Arbeit. Sie klagte über die teilweise sehr schweren Waren, etwa Flaschen im Rucksack, die über Kopfsteinpflaster auf Rädern ohne Federung transportiert werden müssen. Obwohl nicht mehr als zehn Kilogramm pro Auftrag getragen werden sollen, werde das nicht kontrolliert. Die schweren Transporte hätten bei ihr zu blauen Flecken am Rücken geführt. In einem offenen Brief an ihre Kollegen schrieben mehrere Mitarbeiter: „Wir sind keine Rennpferde, wir sind Fahrer.“

Um im Konkurrenzdruck zu bestehen, greifen die Lieferdienste zu immer drastischeren Mitteln, um die Beschäftigten zu überwachen und unter Druck zu setzen. Der Essenslieferdienst Lieferando wurde jüngst heftig kritisiert, nachdem der Bayerische Rundfunk berichtet hatte, die Kurierfahrerinnen und -fahrer würden per Ortungs-App überwacht. Um für das Unternehmen tätig zu sein, müssen Mitarbeiter die App auf ihr Handy laden. Dabei ist unklar, welche Daten darüber ausgelesen werden.

Tatsächlich ist das Geschäftsmodell des gefeierten Start-ups auf der extremen Ausbeutung der Beschäftigten aufgebaut. Gorillas wurde im Frühjahr 2020, am Anfang der Corona-Pandemie, gegründet. Investoren steckten innerhalb von nur vier Monaten mehr als 280 Millionen Euro in den Lebensmittel-Lieferdienst, womit dieser in Rekordzeit die Marktbewertung von einer Milliarde Dollar erreichte. Damit zählt das Unternehmen in Business-Kreisen als „Einhorn“.

Der Markt der Lieferdienste ist in den letzten Jahren rasant gewachsen, und ein Ende ist derzeit nicht in Sicht. Im Gegenteil: Mehrere Konkurrenten, die mit Gorillas um Marktanteile wetteifern, stehen in den Startlöchern. So hat nun auch das türkische Unternehmen Getir seine Tätigkeit auf Deutschland ausgedehnt.

Getir wird als Pionier der Express-Lebensmittellieferung bezeichnet. 2015 wurde das Unternehmen in Istanbul gegründet und verzeichnete mit der Pandemie im letzten Jahr ein enormes Wachstum. In dreißig türkischen Städten kann über die App derzeit bestellt werden. Seit Ende Januar ist das auch in London und Amsterdam möglich. Neben dem amerikanischen Markt sind nun auch Deutschland und Frankreich im Fokus. Dazu brachte das Unternehmen insgesamt 550 Millionen US-Dollar von Investoren auf. Getir bringt es auf eine Marktbewertung von 7,5 Milliarden US-Dollar.

Weitere Lieferdienste mit angeblich noch kürzeren Lieferzeiten und geringeren Kosten sollen auf den Markt drängen. Auch der Lieferdienst Flink steht in direkter Konkurrenz zu Gorillas. Das in Kooperation mit dem Einzelhandelsriesen Rewe aufgebaute Start-up sammelte ebenfalls in kürzester Zeit 245 Millionen Euro Startkapital ein und ist mittlerweile in 18 Städten in Deutschland aktiv.

Der harte Konkurrenzkampf war bereits in der Vergangenheit bei anderen Lieferdiensten zu beobachten. So erreichte der Lieferdienst Lieferando Monopolstatus durch die Übernahme von Foodora und den Rückzug von Deliveroo. Der niederländische Mutterkonzern des Essenslieferanten, Just Eat Takeway, steigert seinen Umsatz 2020 um mehr als die Hälfte auf rund 2,4 Milliarden Euro.

Der Arbeitskampf der Gorillas-Beschäftigten erfährt breite Unterstützung. In den sozialen Medien, wie beispielsweise auf Twitter, finden sich Dutzende von Solidaritätserklärungen aus vielen Ländern. Es wird immer deutlicher, dass die Formen extremer Ausbeutung immer mehr Menschen betreffen. Hier ist ein neuer, wichtiger Teil der Arbeiterklasse entstanden: jung, kämpferisch und bestens international vernetzt.

Die miserablen Arbeitsbedingungen, bei denen Höchstleistung verlangt und oft weniger als der Mindestlohn bezahlt wird, von sozialer Absicherung, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Rentenbeiträgen etc. ganz zu schweigen, sind nicht mehr die Ausnahme, sondern werden mehr und mehr zur Regel.

Viele Unternehmen, auch in den industriellen Kernbereichen der Auto- und Zulieferindustrie, Elektroindustrie, Stahlverarbeitung usw. haben die Corona-Pandemie zum Anlass genommen, Massenentlassungen, Lohnsenkungen und schlechtere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Unternehmensteile werden ausgegliedert und Arbeiter werden gezwungen, unter drastisch verschlechterten Bedingungen zu arbeiten.

Deshalb sind die herrschende Klasse und die Bundesregierung über die wachsende Kampfbereitschaft, wie sie sich bei dem spontanen Gorilla-Streik gezeigt hat, sehr besorgt. Sie haben Angst, dass sich die Militanz der Prekär-Beschäftigten mit dem wachsenden Widerstand gegen Massenentlassungen und Lohnsenkungen in Industriebetrieben, Verkehrsunternehmen und Verwaltungen verbindet.

Um dem entgegenzutreten, sollen in Lieferdiensten und anderen Bereichen der Prekär-Beschäftigung Betriebsräte gebildet werden. Ziel ist es, mit Hilfe der Gewerkschaften spontane Streiks und eine breitere Mobilisierung von Arbeitern zu verhindern. Deshalb wurde im vergangenen Monat ein sogenanntes „Betriebsrätemodernisierungsgesetz“ im Bundestag verabschiedet, das die Gründung von Betriebsräten erleichtern soll. Auch bei Gorillas wurde im Frühjahr in enger Zusammenarbeit mit der DGB-Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) die Gründung eines Betriebsrats eingeleitet.

Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) lehnt diese Initiative ab. Durch einen Betriebsrat unter Leitung der NGG werden sich die Arbeitsbedingungen nicht verbessern. Überall dort, wo die NGG oder andere Gewerkschaften Einfluss haben, wurden in den vergangenen Jahren Löhne und Arbeitsbedingungen verschlechtert.

Das Betriebsverfassungsgesetz verpflichtet den Betriebsrat zur „vertrauensvollen Zusammenarbeit“ und zur Einhaltung aller Vereinbarungen. Auch ist es dem Betriebsrat verboten, zu Streiks und Arbeitskampfmaßnahmen aufzurufen. Stattdessen ist er verpflichtet, sich für das „Betriebswohl“ einzusetzen.

Durch die Bildung eines Betriebsrats wird die Sklavenarbeit bei Gorillas nicht abgeschafft, sondern vertraglich geregelt und zementiert. Gleichzeitig werden die Möglichkeiten, spontane Streiks zu organisieren, wesentlich erschwert, denn während der Laufzeit von Tarifverträgen herrscht gesetzliche Friedenspflicht, d.h. Streikverbot.

Wir schlagen den Beschäftigten von Gorillas vor, statt einem Betriebsrat ein Aktionskomitee zu gründen, das auf der Tradition der Arbeiterräte basiert. Ein solches Aktionskomitee ist in der Lage, Verbindung zu Arbeitern in anderen Produktions- und Verwaltungsbereichen und in anderen Ländern aufzunehmen und eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, um die Sklavenarbeit nicht zu „humanisieren" und erträglich zu gestalten, sondern abzuschaffen.

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