Bulgarien: Massenhafte Enthaltung bei Neuwahlen

Die Parlamentswahl in Bulgarien vom 11. Juli hat einmal mehr die tiefe politische Krise in dem osteuropäischen EU-Staat ans Licht gebracht. Die Protest-Partei ITN („Es gibt so ein Volk“) von Slawi Trifonow, die als Sieger aus der Wahl hervorging, wird noch nicht einmal von jedem zehnten Wahlberechtigten unterstützt. Das Ergebnis ist beispielhaft für die Situation in Osteuropa, wo die Mehrheit der Bevölkerung tiefes Misstrauen gegen die gesamte politische Elite hegt.

Ein Fußgänger vor Wahlwerbung in der bulgarischen Stadt Kjustendil (AP Photo/Visar Kryeziu)

Die Wahlbeteiligung lag insgesamt bei nur 42 Prozent. Selbst in der Hauptstadt Sofia ging nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten an die Urnen. In der Region Kardschali lag die Beteiligung bei nur 28 Prozent. Die ITN erzielte mit 24,1 Prozent einen hauchdünnen Vorsprung vor der rechts-konservativen GERB von Ex-Premier Bojko Borrissow, die 23,5 Prozent der Stimmen erreichte.

Die Koalition für Bulgarien, ein Zusammenschluss mehrere „linker“ Parteien um die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) und die Bulgarische Kommunistische Partei (BKP), verlor noch einmal an Stimmen und kam auf nur noch rund 13 Prozent. Ebenfalls im Parlament vertreten sind die Demokratische Partei (DB), die Partei der türkischen Minderheit (DSP) und die anti-Korruptionspartei ISMV.

Es waren bereits die zweiten Parlamentswahlen in diesem Jahr. Im April erreichte die Wahlbeteiligung mit 47,5 Prozent bereits einen historischen Tiefstand. Borrissows GERB konnte damals mit einem knappen Vorsprung stärkste Kraft werden. Es gelang der zutiefst diskreditierten Partei allerdings nicht, einen Koalitionspartner zu finden. Der vormalige Regierungspartner hatte den Wiedereinzug ins Parlament verpasst und Parteien, die rechnerisch als Koalitionspartner in Frage gekommen wären, lehnten eine Zusammenarbeit ab.

Aber auch Trifonov gab das Mandat zur Regierungsbildung nach den Wahlen im April zurück. Beobachter gehen davon aus, dass er damit gezielt auf neuerliche Wahlen spekulierte, um daraus als stärkste Kraft hervorzugehen. Infolge dessen wurde Stefan Janew durch den Präsidenten Rumen Radew als Interimsministerpräsident installiert.

Das Wahlergebnis der letzten Wahlen ist eine Ohrfeige für das gesamte politische Establishment Bulgariens. Borrissow, der seit neun Jahren fast ununterbrochen regierte, ist in weiten Teilen der Bevölkerung verhasst. Dies hatte sich schon nach der Wahl 2017 gezeigt. Um eine hauchdünne parlamentarische Mehrheit zu erreichen, ging GERB eine Koalition mit dem faschistischen Parteienbündnis Vereinigte Patrioten (VP) ein. Dem Bündnis gehörten die Nationale Front zur Rettung Bulgariens, die Innere Revolutionäre Mazedonische Organisation (WMRO) und die rechtsextreme Partei Ataka an.

Im vergangenen Jahr hatten über zwei Monate hinweg fast jeden Tag Tausende Menschen gegen den Premier und die Regierung demonstriert. Sie forderten ihren Rücktritt, Neuwahlen und grundlegende Reformen im Staatsapparat.

Borrissow, der seine Karriere in der stalinistischen BKP begonnen hatte, gilt als Verkörperung eines Systems, das von Korruption und einer engen Verflechtung von Oligarchie, Politik und Staat geprägt ist. Obwohl die Proteste von ebenso diskreditierten Figuren organisiert wurden, drückte sich darin eine weit verbreitete Opposition gegen die politischen und sozialen Zustände im Land aus. Laut Transparency International weist das Land das höchste Niveau an Bestechlichkeit in der EU auf.

In der EU wurde Borrissow trotz zahlreicher Skandale als verlässlicher Partner geschätzt. Seine Partei, die offen mit faschistischen Kräften koalierte, ist weiterhin Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP). In den europäischen Hauptstädten wurde Borrissow vor allem für seine pro-europäische Ausrichtung und die Distanz zum Kreml gelobt.

Die rücksichtslose Politik zeigte sich besonders in der Corona-Pandemie. Über 18.100 Todesopfer forderte das Virus seit Beginn der Pandemie. Darüber hinaus kam es zu massenhaften Entlassungen und der dramatischen Senkung von Löhnen in vielen Branchen.

Doch wie alle anderen Parteien ist auch Trifonows ITN in keinster Weise eine Alternative zur GERB. Der 54-jährige Trifonow ist seit Jahrzehnten in Bulgarien als Sänger und Entertainer bekannt. Erst im Februar 2020 gründete er die ITN. Ähnlich wie eine Reihe anderer prominenter und wohlhabender Individuen in anderen Ländern konnte auch Trifonow aus der Wut gegenüber den etablierten Parteien Kapital schlagen. Trotz seiner offen zur Schau getragenen Feindschaft gegen die „Elite“ ist er bestens mit den politischen und wirtschaftlichen Größen des Landes vernetzt.

Sein Demokratieverständnis drückte sich in einem Facebookpost aus, den er unmittelbar nach der Wahl abgesetzt hatte. Trotz einer Rekordwahlenthaltung sprach er von einem „guten Tag für die bulgarische Demokratie“. Das Wahlprogramm der ITN besteht aus kaum mehr als vagen Aussagen gegen Korruption und für mehr Wohlstand. Außenpolitisch steht Trifonow für eine Fortsetzung des pro-europäischen Kurses und strebt einen raschen Beitritt zur Euro-Zone an – eine Politik, die schon in den letzten Jahren von massiven sozialen Angriffen gegen die Bevölkerung begleitet wurde.

Die ITN kündigte zunächst unmittelbar nach der Wahl an, eine Minderheitsregierung einzurichten und ein Kabinett zu benennen. Dabei sollten ausdrücklich keine Koalitionsverhandlungen mit anderen Parteien geführt werden. Dem geplanten Kabinett aus mehrheitlich unbekannten Wirtschafts- und Finanzexperten sollte Nikolai Vasilev vorstehen. Vasilev war zwischen 2001 und 2009 mehrmals Minister und gehörte der rechtsgerichteten Nationalen Bewegung für Stabilität und Fortschritt (NDSW) an.

Nachdem es gegen die Ankündigung, einen solch diskreditierten Politiker ohne jede demokratische Legitimation zum Premier zu machen, heftigen Widerstand in den sozialen Medien gab, zog Trifonov seine Ankündigung nach nur drei Tagen wieder zurück.

Nun will die ITN mit zwei nicht näher genannten Parteien in Koalitionsgespräche gehen, wie Vize-Chef Toshko Yordanov ankündigte. Wahrscheinlich sind Verhandlungen mit der DB und der ISMV, die ebenfalls ihren Wahlkampf allein gegen Korruption ausrichtete. Wie ITN-Vertreter verlautbaren ließen, soll es bald neue Vorschläge für ein Kabinett geben.

Politikexperten in Sofia gehen davon aus, dass die Regierungsbildung erneut scheitern könnte. „Genau wie nach der Wahl im April erwarte ich ein stark zersplittertes Parlament, in dem keine einzige Partei in der Lage ist, ein Kabinett zu bilden“, erklärte Genoveva Petrova von Alpha Research. Ruzha Smilova, die Politikwissenschaft an der Universität Sofia lehrt, sieht dies ähnlich. „Selbst wenn ITN sich mit den Protestparteien zusammentun würde, hätten sie keine Mehrheit im Parlament“, so Smilova. „Trifonov müsste sich für bestimmte Politiken Unterstützung bei den traditionellen Parteien suchen, mit denen er bisher nicht zusammenarbeiten wollte.“

Um zu verhindern, dass die herrschende Klasse einmal mehr eine rechte, arbeiterfeindliche Regierung zusammenschustert, müssen die Arbeiter in Bulgarien und ganz Osteuropa die Lehren aus den Erfahrungen seit der kapitalistischen Restauration vor 30 Jahren ziehen. Damals ist nicht der Sozialismus gescheitert, sondern der Stalinismus.

Alte und neue kapitalistische Cliquen können nur deshalb immer wieder die Politik bestimmen, weil es der Arbeiterklasse an einer unabhängigen Perspektive und Führung fehlt. Eine solche gilt es nun zu entwickeln. Die Grundlage dafür liegt in der Geschichte der trotzkistischen Bewegung, die das marxistische Programm des sozialistischen Internationalismus gegen Stalinismus und Sozialdemokratie verteidigt hat.

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