Flutopfer in Ahrweiler: „Wir sind das Bagdad von Deutschland. Total zerbombt, total kaputt“

Die Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen sowie den Nachbarländern Belgien und Niederlande hat mehr als 200 Menschen das Leben gekostet und die Lebensgrundlage von Zehntausenden zerstört. Am Donnerstag bereiste ein Reporterteam der World Socialist Web Site das Katastrophengebiet, um mit Betroffenen zu sprechen und sich ein Bild von den Verwüstungen zu machen.

Der Landkreis Ahrweiler gehört zu den am schlimmsten heimgesuchten Gebieten. Allein dort kamen mindestens 128 Menschen ums Leben – etwa 150 werden noch vermisst. Häuser, Brücken und Straßen sind teilweise komplett zerstört. Auch nach mehr als einer Woche sind viele Ortschaften noch ohne warmes Wasser und Strom. Auch das Mobilfunknetz funktioniert an manchen Orten noch nicht.

Zerstörte Eisenbahn- und Autobrücke (Bundestraße 267) im Stadtteil Walporzheim (Foto: WSWS)

Während es viele Freiwillige gibt, die helfen, die Häuser und Straßen von den Schlamm- und Trümmermassen zu befreien, ist die staatliche Hilfe verschwindend gering. Mittlerweile ist bekannt, dass die hohen Todeszahlen eine direkte Folge der kriminellen Untätigkeit der Regierungen und verantwortlichen Behörden sind. Obwohl sie frühzeitig informiert waren, unternahmen sie nichts, um die Menschen zu warnen und Leben zu retten.

Viele Anwohner machen ihrer Wut Luft, sprechen über die dramatischen Ereignisse und berichten gleichzeitig über die enorme Solidarität, die sie aus der Bevölkerung erfahren.

Wolfgang

Wolfgang schildert, dass seine Frau und er von den herannahenden Fluten völlig überrascht wurden. „Als wir gesehen haben, wie das Wasser hier angelaufen kam, habe ich den Hund auf den Arm genommen und wollte schnell in die Gaststätte gegenüber. Als ich vor die Tür trat, ging mir das Wasser schon bis zum Knie, eine Welle hätte mich fast fortgerissen. Daraufhin bin ich mit meiner Frau sofort wieder ins Haus gegangen und wir haben versucht, die Tür zuzudrücken – wir hatten überhaupt keine Vorstellung. Die großen Baumstämme haben sämtliche Fenster kaputtgeschlagen, wodurch das Wasser zwischen 1,50 und 2 Meter hoch hier hereingeschossen kam. Wir mussten uns in die erste Etage retten.“

Bettina

„Wir haben überhaupt keine Vorwarnung bekommen“, sagt Bettina, die in Walporzheim seit Jahrzehnten ein Gasthaus betreibt. Als die Sirenen anschlugen, habe der Nachbarort längst unter Wasser gestanden, berichtet sie. Sie sei mit Nachbarn und Familie umgehend auf eigene Faust in die Stadt gefahren, um Sandsäcke zu holen: „Doch es gab keinen Sand mehr. Man sagte uns dort, wir sollen den Sand aus dem Sandkasten beim Spielplatz holen, aber der war ja schon überflutet.“ Anschließend, so Bettina, habe man ihnen leere Säcke mitgegeben, die sie selbst befüllen mussten, während sie schon hüfthoch im Wasser standen.

„Wir haben die Tür notdürftig mit den Säcken abgesichert, Tische vor die Türen gestellt und von drinnen Wasser abgezogen, das reinlief, so gut wir konnten. Ein Hausgast hat draußen im Wasser versucht, sein Auto festzuhalten, damit es nicht wegschwimmt. Ab 1 Uhr nachts standen wir dann am Fenster und haben beobachtet, ob das Wasser weiter steigt. Mittlerweile ist das Internet weg, Strom und Wasser gibt es auch nicht mehr.“

Zerstörte Autos und Berge von Schutt an der Ortseinfahrt Walporzheim (Foto: WSWS)

Mit Blick auf den Wiederaufbau ihres Hauses und der ganzen Region sagt Bettina: „Ich glaube nicht, dass dieser Schaden von der Regierung bezahlt werden wird. Ich weiß auch nicht, wo die versprochene ‚Soforthilfe‘ ist. Angeblich soll man eine E-Mail schreiben, aber die Netze sind ja blockiert. Wenn man nicht von außerhalb jemanden hat, der das macht, ist man völlig aufgeschmissen. Vor Ort sind keine Leute vom Staat, von irgendwelchen Behörden, die einem dabei helfen.“

„Man hätte das vorhersagen können – bei den ganzen Niederschlägen in Belgien, in Holland, hier überall in Deutschland“, stellt Bettina fest. „Bei so starken Regenfällen hätten sie das berechnen und eine Evakuierung vornehmen können. Das ist aber nicht geschehen, weil die Regierung sparen will: Eine Evakuierung kostet Geld, man muss die Leute unterbringen und versorgen. Sie haben die Kosten gescheut und wollten nicht dumm dastehen, wenn nachher doch nichts passiert.“

„Stattdessen wurde nichts getan, es ist überhaupt keine Warnung durchgegangen. Kein THW [Technisches Hilfswerk], keine Soldaten – gar nichts ist hier vorbeigefahren. Die ersten Tage nach der Flut waren nur freiwillige Leute hier. Bauern haben sich über Facebook organisiert und mit riesigen Baggern und Lkw hier alles weggeräumt. Die Polizei – schwer bewaffnet – stand auf der Brücke und hat zugesehen, wie das Wasser kommt und was es anrichtet. Mehr haben die nicht gemacht, weder einen Keller leer geschippt, noch irgendetwas weggeräumt.“

Offenbar, so Bettina, würden „die Gelder woanders investiert, zum Beispiel um das Militär aufzubauen. Aber in den Katastrophenschutz wurde scheinbar gar nichts investiert, denn der funktioniert überhaupt nicht.“

Die WSWS sprach auch mit vielen Freiwilligen, die aus dem ganzen Land gekommen sind, um zu helfen.

Aline, Steffi und Rosa

„Ich bin hierhergekommen, weil mich das Ganze bewegt hat“, sagt Steffi, die aus Thüringen angereist ist. „Deshalb habe ich direkt das Auto vollgepackt und bleibe bis Sonntag, um zu helfen.“ Aline aus Schwäbisch Hall fügt hinzu: „Ich habe mich mit einer Gruppe aus dem Raum Stuttgart organisiert und bin heute Nacht hergefahren. Die Bilder aus dem Fernsehen haben mich bewegt. Jeder hier tut sein Bestes.“

„Durch den Ort sind vier Meter Schlamm gefegt, die alles mitgerissen haben“, berichtet Rosa. „Ich habe so etwas noch nie gesehen. Noch heute stehen in den Kellern 40 Zentimeter Schlamm und darüber 20 Zentimeter Wasser. Die Menschen hier schaffen das nicht alleine. Eigentlich bräuchte es für jedes Haus zehn Helfer.“

Kai und Sven

Sven ist gemeinsam mit seinem Sohn Paul aus dem Bergischen Land angereist, um zu helfen. „Ich kann nur jeden aufrufen, dasselbe zu tun“, sagt er. „Hilfe wird hier an allen Ecken und Enden noch benötigt. Es ist anstrengend und schwer, aber die Menschen hier brauchen das ganz dringend.“

„Man sieht hier, dass wir alle zusammenstehen und uns helfen“, sagt Kai. „Das ist sehr wichtig, auch in der heutigen Zeit, wo man den Egoismus sehr hoch lobt. Wir zeigen Solidarität – in der Hinsicht ist es schon echt toll, was hier abgeht.“

Alwin

Alwin, der seit 45 Jahren ein Restaurant unterhält, sagt: „Bei uns im Viertel allein sind elf Menschen gestorben. Ein Mann hing vier Stunden lang in einem Baum und hat um Hilfe gerufen. Aber keiner konnte ihm helfen, weil die Autos schon an ihm vorbeischwammen. Es stand alles unter Wasser und unsere Existenz ist jetzt natürlich zerstört.“

Auf die Frage, ob er mit den Maßnahmen der Behörden zufrieden sei, antwortet Alwin: „Nein, auf keinen Fall. Von unserem Landrat und unserem Bürgermeister kam viel zu wenig. Wenn so ein Hochwasser in Schuld ist, dann haben wir hier noch zwei Stunden Zeit. Dann kann man jedem Bescheid sagen, dass er sein Haus zu verlassen hat, sein Auto in Sicherheit bringt und seine Wertsachen mitnimmt. Das Wasser kann man nicht mehr verhindern, aber die 125 Toten, die wir jetzt schon haben – das musste nicht sein. Da ist schon einer zu viel.“

Auch er bestätigt, dass die Katastrophe völlig unvermittelt über die Bewohner hereinbrach, obwohl die Behörden zu dem Zeitpunkt längst gewarnt waren: „Nein, da kam gar keine Warnung. Wir haben die Pegelstände selbst im Internet nachgeschaut und haben gesagt: Das ist jetzt verdammt hoch, wir müssen etwas tun. Als die Feuerwehr uns Stunden später dazu bewegen wollte, das Haus zu verlassen, haben wir uns dagegen entschieden. Stattdessen sind wir in den ersten Stock gegangen und hatten wenig später das Wasser 1,95 Meter hoch im Haus stehen. Wenn wir rausgegangen wären, wären wir vielleicht auch ertrunken, so wie viele andere auch.“ Das Wasser sei so schnell gestiegen, dass Viele es nicht rechtzeitig auf einen Berg geschafft hätten.

Freiwillige Helfer in der Altstadt von Ahrweiler (Foto: WSWS)

„Was die Kreisverwaltung angeht, bin ich nicht zufrieden. Aber dass wir die vielen Freiwilligen hatten, die gleich am Anfang mit aufgeräumt haben – das war enorm.“ Umso unverständlicher sei, „dass die Bauern dann wieder nach Hause fahren sollten und es hieß, die Bundeswehr und das THW würden das jetzt alleine machen. Und von der Kreisverwaltung kam gar nichts, man hat da keinen mehr gesehen.“

Dass so viele Menschen gestorben sind, sei das Ergebnis des „totalen Versagens“ der staatlichen Behörden: „Es gibt genügend 3D-Modelle, die zeigen, dass niemand sterben würde, [wenn man rechtzeitig einen Berg besteigt]. Aber wenn keiner Bescheid weiß und sagt: Wir gucken jetzt mal, wie hoch das Wasser steigt, ist das fahrlässig, grob fahrlässig. Ich gehe davon aus, dass die Versicherungen gar nicht alles abdecken können. Es wird zwar viel gespendet, aber der Schaden beträgt doch bestimmt 50 Milliarden Euro. Wo soll das ganze Geld herkommen?“

„Wie viele Leute sind denn betroffen?“, fragt Alwin mit Blick auf die vom Bund in Aussicht gestellten „Soforthilfen“ über 200 Millionen Euro: „Es hat doch jeder Haushalt 100.000, 200.000, 500.000 in den Sand gesetzt. Wie soll das verteilt werden und wer verteilt das? Man kann die Region hier jetzt nicht platt machen. Wenn jedes zweite Haus leer bleibt oder nicht mehr aufgebaut wird, dann ist das hier eine Geisterstadt. Einer hat zu mir gesagt: Wir sind das Bagdad von Deutschland. Total zerbombt, total kaputt. Und wie viele Tote wir hier haben! Das hat es in Deutschland noch nie gegeben.“

„Natürlich hätte man das vermeiden können! Meiner Meinung nach hätten die Feuerwehr und die Polizei sofort umherfahren und alle Leute warnen müssen. Die hätten ab fünf Uhr hier durchfahren können. Dann hätten wir hier keine Toten.“

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