Auf Antrag der rechtsextremen Partei Vox: Spanisches Gericht erklärt Lockdowns für verfassungswidrig

Das spanische Verfassungsgericht hat im Juli die zutiefst reaktionäre Entscheidung gefällt, die vom März bis Juni 2020 verhängten Lockdown-Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 für verfassungswidrig zu erklären. Der Antrag dazu stammte von der rechtsextremen Partei Vox. Das Gericht entschied mit sechs zu fünf Stimmen, dass die Einschränkungen zur Eindämmung des Coronavirus die Befugnisse im Rahmen des Alarmzustands überschritten hätten.

Der Parteichef der rechtsextremen Vox, Santiago Abascal, bei einer Sitzung des spanischen Parlaments in Madrid am 30. Juni (Susana Vera/Pool via AP)

Vox wird vermutlich bald einen zweiten Sieg vor dem Verfassungsgericht erzielen, diesmal mit seiner Klage gegen die Verlängerung des ersten Alarmzustands um sechs Monate, die im Oktober vom Kongress verabschiedet wurde. Der rechte Richter Antonio Narváez hat einen Urteilsentwurf verfasst, in dem er die Verlängerung für verfassungswidrig erklärt. Über diese Frage wird das Gericht am 14. September entscheiden.

Das Urteil in Spanien verschärt die Politik der „Herdenimmunität“, welche die gesamte europäische Bourgeoisie verfolgt. Diese Politik, nicht systemrelevante Arbeiter weiter arbeiten und das Virus ungehindert wüten zu lassen, um die Profite der Konzerne weiter zu mehren, wird zu weiteren Tausenden Todesopfern durch Covid-19 führen. Dies zeigte sich bisher am deutlichsten in Großbritannien, wo Premierminister Boris Johnson letztes Jahr während eines privaten Kabinettstreffens erklärte: „Keine verdammten Lockdowns mehr, und wenn sich die Leichen zu Tausenden stapeln.“

Dabei ist die Zahl der Covid-19-Fälle in Spanien auf den höchsten Stand seit Februar angestiegen. Trotz der klaren und wachsenden Gefahr durch die Delta-Variante hat die Regierungskoalition aus PSOE und Podemos alle nennenswerten Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus abgelehnt und stattdessen die spanische Tourismusbranche wieder geöffnet, sodass Bars, Restaurants und andere Betriebe uneingeschränkt wieder offen stehen. Der Sieben-Tages-Durchschnitt stieg in Folge dieser Entscheidung auf über 25.000 Infektionen pro Tag. Im Lauf der letzten Woche starben mehr als 200 Menschen an dem Virus, und die Zahl der Krankenhauseinweisungen stieg im gleichen Zeitraum um 33 Prozent.

Das Urteil ist der erste nennenswerte Sieg von Vox vor dem Verfassungsgericht. Die Arbeiterklasse muss ihn als ernste Warnung verstehen. Er zeigt die drohende Gefahr durch die extreme Rechte in Spanien und der ganzen Welt. Vox wurde durch die rechte und versöhnlerische Politik aller bürgerlichen Parteien gestärkt und ermutigt, vor allem der Partido Socialista Obrero Español (PSOE) und der pseudolinken Podemos. Obwohl Vox bei der Wahl nur eine geringe Stimmenzahl erzielte, übt sie immense Kontrolle über den Staatsapparat aus.

Das PSOE/Podemos-Regime hat mehrfach vor Vox kapituliert, u.a. bei deren Forderungen nach einem Ende der Corona-Einschränkungen und nach einer brutal immigrantenfeindlichen Politik. Ihre Reaktion auf das Urteil des Verfassungsgerichts verdeutlicht ihre Verachtung gegenüber demokratischen Rechten und ihre Gleichgültigkeit gegenüber der Gefahr durch Covid-19 und des drohenden Faschismus. Sie weigerten sich, das Urteil zu kritisieren und betonten nur bescheiden ihren „Repekt“ vor dem Gerichtsurteil.

Justizministerin Pilar Llop erklärte: „Die Regierung respektiert das Urteil zum Antrag von Vox, teilt aber seine Meinung dazu nicht.“ Sie fügte hinzu, die Lockdown-Maßnahmen, die im Rahmen des Alarmzustands verhängt wurden, „haben es uns ermöglicht, Hunderttausende von Menschenleben zu retten“.

Llop erklärte weiter: „Es war die Pflicht der Regierung, angesichts der Ausbreitung eines unbekannten Virus sofort dringende und angemessene Maßnahmen zu ergreifen.“ Sie zitierte „verschiedene internationale Studien“, laut denen die Lockdown-Maßnahmen „mehr als drei Millionen Todesopfer durch Covid-19 verhindert haben“.

Zweifellos haben die Lockdowns Millionen Menschenleben gerettet, aber die PSOE und Podemos lassen bei der Darstellung ihrer Pandemiepolitik einiges weg. Ihre Entscheidung für Lockdown-Maßnahmen vom letzten Frühjahr beruhte nicht auf dem Wunsch der europäischen Bourgeoisie, Menschenleben zu retten, sondern wurde ihr durch eine Welle von spontanen europaweiten Streiks im März und April aufgezwungen. Die PSOE/Podemos-Regierung lehnte diese Streiks ab und setzte die Polizei gegen die streikenden Stahlarbeiter von Sidenor im Baskenland ein, die das Recht auf häusliche Isolation einforderten.

Seither setzen sich sämtliche europäischen Regierungen mit aller Kraft dafür ein, die Einschränkungen aufzuheben und die Bevölkerung zu einer „neuen Normalität“ der Koexistenz mit dem Virus zu zwingen. Aufgrund dieser verbrecherischen Weigerung, mit wissenschaftlichen Mitteln auf die Pandemie zu reagieren, sind in ganz Europa mehr als 1,1 Millionen Menschen gestorben, mehr als 100.000 davon in Spanien. Millionen haben Familienmitglieder und Freunde verloren oder leiden an verheerenden Langzeitfolgen.

Der Verfassungsrichter Cándido Conde-Pumpido, einer der fünf Richter, die gegen das Urteil gestimmt haben, verurteilte es, weil es eine wissenschaftliche Politik gegenüber dem Virus verhindert: „Es löst nichts, sondern schafft ein ernsthaftes politisches Problem und entwaffnet den Staat gegenüber der Pandemie', so der Richter. Das Urteil 'erfüllt keinesfalls ernsthafte juristische Kriterien“.

Vox setzt mit ihrer Klage ihr Bemühen fort, die Pandemie zur Durchsetzung eines Polizeistaats zu nutzen. Als Reaktion auf das Urteil forderte die Partei Ministerpräsident Pedro Sánchez zum Rücktritt auf. Parteichef Santiago Abascal ließ eine bösartige Hetztirade gegen Lockdowns als „größte Einschränkung von Rechten in der Geschichte“ publizieren. Auf Twitter behauptete er fälschlicherweise: „Nur Vox hat dagegen gestimmt.“ In Wirklichkeit haben auch Vox-Abgeordnete im März 2020 die Ausrufung des Alarmzustands unterstützt und im Kongress für seine Verlängerung gestimmt.

Erst als die Streikwelle abebbte, lehnte Vox alle Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie entschieden ab und verurteilte Lockdowns als „sozialkommunistischen“ Angriff auf die Freiheit Spaniens. Im Oktober organisierte sie landesweite Proteste gegen eine Politik der häuslichen Isolation und verurteilte Einschränkungen zum Schutz der Gesundheit als „totalitär und absurd“.

Die spanischen Richter haben Mitschuld für Vox' Kampagne für eine Diktatur auf sich geladen. Das zeigt ihr Urteil über den Alarmzustand im März. Darin wird nichht erklärt, ob Lockdown-Maßnahmen eine angemessene Reaktion auf die Pandemie seien, sondern es stützt sich auf eine juristische Formalität. Laut dem Gericht besitzt die Regierung durch den Alarmzustand nicht genug Vollmachten für weitreichende Einschränkungen. Stattdessen könne nur ein Ausnahmezustand, der viel weiterreichende Befugnisse hätte, die soziale Distanzierung durchsetzen.

Ein Ausnahmezustand wurde seit dem Übergang Spaniens zur parlamentarischen Demokratie 1978 noch nie ausgerufen. Dieser würde der Regierung diktatorische Vollmachten verleihen, u.a. zur Verhaftung von Personen und der Durchsuchung von Privatwohnungen ohne Durchsuchungsbefehl. Sie könnte Streiks verbieten, Medien und Kommunikationsnetzwerke einstellen und private Telefone ohne richterliche Anordnung anzapfen. Die Behörden könnten außerdem Ausländer aus Spanien abschieben, Staatsbürger aus ihrem Haus werfen, Waffen beschlagnahmen und bewaffnete Posten auf den Straßen aufstellen.

Das Argument des Gerichts, dass nur ein faschistischer Polizeistaat eine wissenschaftlich basierte öffentliche Gesundheitspolitik umsetzen kann, ist eine politische Lüge. Damit will die herrschende Elite ihre Pläne für eine Diktatur umsetzen. Es ist klar, dass die Ausbreitung der Delta-Variante die Krankenhäuser in Spanien an ihre Grenzen bringen und zu einem neuen Anstieg der Todesfälle führen wird. Umso mehr muss das Urteil den Arbeitern in Spanien und der Welt eine Warnung sein.

Sollte sich die herrschende Klasse erneut zur Einführung von Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus gezwungen sehen, vermutlich durch ein neues Aufflammen des Klassenkampfs, werden mächtige Kräfte im kapitalistischen Establishment darauf drängen, einen faschistischen Polizeistaat zu errichten. Da sie durch die politische Kriminalität ihrer Pandemiepolitik diskreditiert ist, würde sie nicht aus einer Position der Stärke agieren, sondern aus einer Position immenser Schwäche. Allerdings können die Arbeiter nur Widerstand gegen diesen Kurs in Richtung faschistische Herrschaft leisten, wenn sie sich von Podemos und deren diversen politischen und gewerkschaftlichen Anhängseln distanzieren.

Die wichtigste Aufgabe ist die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse. Sie muss einen internationalen Kampf gegen die kapitalistische Durchseuchungspolitik und die wachsende Polizeistaatsgefahr aufnehmen. Dazu muss sie unabhängige Aktionskomitees in allen Betrieben und Schulen aufbauen, um Arbeiter und Jugendliche über das Virus aufzuklären und gegen seine Ausbreitung zu mobilisieren. Notwendig sind Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI) in Spanien, Europa und der ganzen Welt.

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