Russland hält Militärübungen in Zentralasien und China ab, während die USA ihren Truppenabzug aus Afghanistan abschließen

Vor dem Hintergrund des Abzugs der US-Truppen aus Afghanistan, der bis Ende August abgeschlossen sein soll, erobern die Taliban große Teile des Landes. Gleichzeitig hat Russland am Freitag, den 30. Juli, gemeinsame Militärübungen mit Turkmenistan begonnen, die bis zum 10. August andauern sollen.

Am 1. August begann Russland außerdem zehntägige gemeinsame Militärübungen mit den tadschikischen Streitkräften und den Streitkräften Usbekistans auf dem Truppenübungsplatz Harbmaidon an der afghanisch-tadschikischen Grenze. Tadschikistan und Afghanistan haben eine 1.303 Kilometer lange gemeinsame Grenze, die sich faktisch unter der Kontrolle der Taliban befindet.

In dem völlig verarmten Land befindet sich ein russischer Militärstützpunkt. Der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu äußerte sich diese Woche besorgt über eine Stärkung des Islamischen Staates in Afghanistan angesichts des Abzugs der US-Truppen. Weiter erklärte er, Russland stärke die militärischen Kapazitäten seines Stützpunkts in Tadschikistan und forciere die Ausbildung der tadschikischen Truppen.

Soldaten der tadschikischen Armee (Russisches Verteidigungsministerium, CC BY 4.0)

Am 22. Juli veranstaltete Tadschikistan seine größten militärischen Bereitschaftsübungen seit der Auflösung der Sowjetunion, an denen 100.000 aktive Soldaten, 130.000 Reservisten und 1.000 Panzerfahrzeuge teilnahmen. Laut Eurasianet haben Rekrutierungsoffiziere des tadschikischen Militärs das Land bereist und Listen von jungen Menschen zusammengestellt, die im Kriegsfall als Reservisten eingezogen werden können.

Zudem werden Russland und China vom 9. bis zum 14. August ihre ersten gemeinsamen Militärübungen seit Beginn der Corona-Pandemie durchführen. Moskau und Peking erklärten am Donnerstag in einer gemeinsamen Stellungnahme: „Die Übung soll die umfassende strategische Partnerschaft zwischen China und Russland in der neuen Ära konsolidieren, die praktische Kooperation und traditionelle Freundschaft zwischen den beiden Streitkräften vertiefen und weiter die Entschlossenheit und Fähigkeit beider Seiten zeigen, gegen terroristische Kräfte zu kämpfen und gemeinsam Frieden und Sicherheit in der Region zu gewährleisten.“

An den Übungen in der nordchinesischen autonomen Region Ningxia Hui werden etwa 10.000 Soldaten, sowie Flugzeuge, Artillerie und Panzerfahrzeuge teilnehmen. Beide Streitkräfte wollen eine gemeinsame Kommandozentrale einrichten, um die Übungen zu überwachen. In der Erklärung hieß es: „Die Truppen der beiden teilnehmenden Streitkräfte werden in gemischte Teams aufgeteilt, um gemeinsam Pläne zu erstellen und das Training zu absolvieren. Damit sollen die Fähigkeiten beider Streitkräfte in den Bereichen gemeinsame Aufklärung, Suche und Frühwarnung, elektronische Informationsangriffe und gemeinsame Angriffe und Eliminierung überprüft und verbessert werden.“

Während Russland und China ihre Militärübungen abhalten, haben die USA die Luftangriffe auf Afghanistan wieder aufgenommen, um die Regierungstruppen zu unterstützen, die nach dem Rückzug der USA sehr schnell Gebiete an die Taliban verloren haben. Der Kreml war auch über Meldungen besorgt, laut denen die USA eine Militärbasis in einer der ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien errichten wollen.

Angesichts der stockenden Verhandlungen zwischen den Taliban und der offiziellen afghanischen Regierung sowie der Vorbereitungen auf Militärübungen empfingen Moskau und Peking im Juli Delegationen der Taliban.

Am Mittwoch empfing Peking eine Delegation unter Führung des stellvertretenden Taliban-Anführers Mullah Abdul Ghani Baradar. Der zweitägige Aufenthalt war bisher der Besuch auf höchster Ebene durch die Taliban in China. Peking erklärte, die Taliban würden „eine wichtige Rolle im Prozess der friedlichen Versöhnung und des Wiederaufbaus“ des Landes spielen. China macht sich vor allem Sorgen wegen der potenziellen Stärkung der uigurischen Separatistenorganisationen, die langjährige Beziehungen zu den Taliban unterhalten. Dieese Beziehungen reichen zurück auf den von der CIA organisierten Krieg gegen die pro-sowjetische Regierung in Kabul in den 1980ern. Damals unterstützte China das Engagement der USA in Afghanistan gegen die Sowjetunion. Doch es stellte sich heraus, dass der Afghanistankrieg auch von zentraler Bedeutung für die Ausbildung und Bewaffnung der uigurischen separatistischen und terroristischen Organisationen wurde, die bis heute enge Beziehungen zum US-Imperialismus unterhalten.

Mittlerweile haben die Taliban einen Großteil der afghanischen Provinz an der Grenze zur chinesischen Provinz Xinjiang eingenommen. Hier lebt die Mehrheit der chinesischen muslimischen Uiguren, und die uigurischen Separatisten nennen sie „Ost-Turkestan“. Zuvor hatten die Taliban chinesische Investitionen begrüßt und Peking versichert, sie würden sich nicht in die inneren Angelegenheiten Chinas einmischen. Mohammad Naeem, ein Sprecher der politischen Abteilung der Taliban, erklärte am Mittwoch, sie hätten China „erneut versichert, dass von afghanischem Staatsgebiet keine Gefahr für die Sicherheit eines anderen Landes ausgehen wird.“

Anfang Juli waren Delegationen der Taliban zu Besuch in der turkmenischen Hauptstadt Aschchabad sowie in Moskau. Der Besuch einer Taliban-Delegation in Moskau am 7. und 8. Juli war sogar der dritte in diesem Jahr. Obwohl die Taliban von Russland seit 2003 als Terrororganisation verboten sind, pflegt die russische Regierung seit Jahren einen relativ offenen Kontakt mit ihnen.

Laut der russischen Presse versprachen die Taliban bei dem Treffen im Juli, sie würden aufgrund der „sehr guten Beziehungen“ mit Moskau nicht zulassen, dass Afghanistan zum Ausgangspunkt für Angriffe auf Russland würde. Die Taliban versicherten Moskau außerdem, sie würden weder die afghanisch-tadschikische Grenze, noch die Grenze zu irgendeinem anderen zentralasiatischen Land verletzen.

Wladimir Dschabarow, ein Mitglied des russischen Föderationsrats und der Regierungspartei Einiges Russland, erklärte gegenüber Gaseta.ru: „Wir werden mit jeder rechtmäßig errichteten afghanischen Regierung zusammenarbeiten. Wenn die Taliban die rechtmäßige Regierung werden, dann werden wir natürlich Beziehungen zu ihnen aufbauen – allerdings unter der Bedingung, dass sie sich unserem Land gegenüber nicht feindselig verhalten.“ Er fügte hinzu: „Russland hat keine so offen negative Beziehung mit ihnen [den Taliban] wie die Amerikaner.“

Der Politikexperte Stanislaw Pritschin mahnte an, die Taliban seien eine sehr heterogene Organisation, deren zentrale Führung keine glaubwürdigen Versprechen über das Vorgehen ihrer Truppen im Norden Afghanistans abgeben könne, weil sie sich aus verschiedenen Gruppen zusammensetzen, die teilweise ihre eigenen politischen Ziele verfolgen. Andrei Kasanzew von der Moskauer Hochschule für Wirtschaft erklärte im Interview mit Gaseta.ru, Russlands Hauptziel sei es, den IS an der Konsolidierung seiner Position in Afghanistan zu hindern.

In den letzten Monaten haben sich russische Außenpolitik-Denkfabriken zunehmend auf Analysen der Auswirkungen des US-Truppenabzugs auf Zentralasien und Russlands eigene außenpolitische Strategie konzentriert. Fjodor Lukjanow, Russlands führender Außenpolitikexperte, der enge Beziehungen zum Putin-Regime unterhält, schrieb vor kurzem in Russia in Global Affairs, der Rückzug sei das „Ende einer Epoche der amerikanischen und der Weltpolitik. [...] In gewisser Weise ist es Washington egal, was jetzt in Afghanistan und im Irak passiert. Biden spricht viel über Demokratie und Freiheit, aber er versteht, dass Amerikas Möglichkeiten begrenzt sind und dass Prioritäten gesetzt werden müssen. Seine Entscheidung ist klar: Positionierung gegen China durch die Vereinigung der ,freien Welt‘ gegen das Land. Die Truppen im Irak und Afghanistan zu behalten ohne irgendeine Hoffnung auf Erfolg, wird diesem Ziel nicht dienlich sein.“

Timofei Bordatschew schrieb in Russia in Global Affairs, der Kreml solle den Truppenabzug vom Standpunkt seiner Implikationen nicht nur für die regionale, sondern für die Weltpolitik betrachten. Er betonte, dass Russland in Bezug auf unmittelbare Sicherheitsbedrohungen mit den zentralasiatischen Staaten zusammenarbeiten sollte, um die Verteidigungskapazitäten zu stärken, und schrieb: „Sollten die Taliban an die Macht kommen oder das Land in einen neuen Bürgerkrieg stürzen, würde das wichtigen russischen Projekten nicht schaden. [...] Die neue Realität in Kabul ist keine Gefahr, sondern eine Gelegenheit, die bestehenden Formate der Beziehungen zu Partnern in der Region und darüber hinaus anzupassen.“

„Viel wichtiger“ als die unmittelbaren regionalen Auswirkungen sei für Moskau, „wie sich die neue Situation in Afghanistan auf Russlands Position in den Beziehungen zu China, Indien, der Türkei, dem Iran und sogar zu den USA und Europa auswirken wird.“ Bordatschew erklärte weiter, man solle besondere Aufmerksamkeit auf ein mögliches Engagement der Türkei in Afghanistan, die Auswirkungen der Situation auf Chinas Stellung in Pakistan und Südasien im Allgemeinen und die Auswirkungen auf die außenpolitische Strategie Indiens richten.

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