Sachsen: Verfassungsschutz beobachtet Abgeordnete und Regierungsmitglieder

Der sächsische Verfassungsschutz hat über Jahre hinweg umfangreiche Datensammlungen über Abgeordnete von Regierungs- und Oppositionsparteien angelegt. Unter den Beobachteten befinden sich auch die beiden stellvertretenden Ministerpräsidenten der CDU-geführten Koalition, Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) und Umweltminister Wolfram Günther (Grüne).

Anfang Juni legte die für die Geheimdienstaufsicht zuständige Parlamentarische Kontrollkommission (PKK) einen Bericht über das Ausmaß der Überwachung vor. Anschließend gab der Inlandsgeheimdienst zu, „dass über viele Jahre nahezu zu allen Abgeordneten des sächsischen Landtages öffentlich zugängliche Informationen, ohne dass eine nachrichtendienstliche Relevanz zugrunde gelegen hätte, sowie deren personenbezogene Daten, gespeichert worden waren“. (unsere Hervorhebung)

Der sächsische Ex-Verfassungsschutzchef Gordian Meyer-Plath

Bekannt wurde die systematische Überwachung der gewählten Abgeordneten durch den Geheimdienst eher zufällig. Im Sommer vergangenen Jahres musste Geheimdienstchef Gordian Meyer-Plath gehen, weil er sich weigerte, auf Anweisung von Innenminister Roland Wöller (CDU) Daten über AfD-Abgeordnete zu löschen. Darauf stellten mehrere Mitglieder von SPD, Grünen und Linkspartei Auskunftsersuchen an den Verfassungsschutz und fanden heraus, dass auch über sie ausführliche Datensammlungen existierten.

Betroffen waren neben den Ministern Dulig und Günther und zahlreichen anderen auch der Fraktionsvorsitzende und Landesparteichef der Linkspartei, Rico Gebhardt, sowie die prominenten Abgeordneten Marco Böhme (Linke), Valentin Lippmann und Christin Melcher (Grüne) und Irena Rudolph-Kokot (SPD).

Da auch von ehrenamtlichen Mitarbeitern, wie einem ehemaligen Juso-Vorsitzenden in Leipzig, geheimdienstliche Akten angelegt wurden, dürfte dies aber nur die Spitze des Eisbergs sein. Nach Angaben des antifaschistischen Netzwerks „Leipzig nimmt Platz“ wurden auch Daten von Mitgliedern zivilgesellschaftlicher Gruppen gesammelt. Das Netzwerk hat deshalb eine Klage gegen den Verfassungsschutz angekündigt.

Die Informationen, die der Geheimdienst sammelte, bezogen sich vor allem auf Kritik der Beobachteten am Rechtsextremismus und dessen Unterstützung durch den Staat. So wurde vermerkt, wer welche Demonstration oder Aktion gegen Rechtsextremismus unterstützt und wer wann das Verhalten der Polizei oder die Maßnahmen der Regierung kritisiert hatte. Dabei stützte sich der Geheimdienst nicht nur auf Fernseh-, Radio- oder Zeitungsberichte, sondern wertete auch Studien und Social-Media-Aktivitäten aus und sammelte entsprechende Kommentare und Tweets auf Facebook und Twitter.

Aus dem Abschlussbericht der PKK geht hervor, was für Informationen der Verfassungsschutz sammelte. Er zitiert einige Antworten, die Abgeordnete auf ihr Auskunftsersuchen vom Verfassungsschutz erhielten.

Über den Landeschef der Linken Rico Gebhardt hatte der Geheimdienst u. a. folgende Information gespeichert: „Die Partei ‚Die Linke‘ wirft Herrn Kretschmer [dem CDU-Ministerpräsidenten] vor, sich als ‚Verlautbarungsorgan des Militärs‘ zu betätigen. In diesem Zusammenhang sagten Sie: ‚Wir wollen nicht zurück in die Zeit des „Kalten Krieges“, den wir überwunden glaubten‘.“

Dem Grünen-Abgeordneten Valentin Lippmann warf der Verfassungsschutz vor: „Im Nachgang an die ‚Querdenken-Demo‘ in Leipzig äußerten Sie sich in der dpa am 08.11.2020 kritisch über die Planungen zur Demonstration, das Versammlungsgeschehen und die Angriffe auf Gegenproteste, Journalisten und die Polizei.“ Seiner Kollegin Christin Melcher teilte er mit: „Sie waren Erstunterzeichnerin der Leipziger Erklärung 2018 – Zeit für Zivilcourage.“

Über den Linken-Abgeordneten Marco Böhme hatte der Verfassungsschutz vermerkt: „Sie sind Unterstützer des Aktionsnetzwerks ‚Leipzig nimmt Platz‘ und riefen zum Protest gegen das Neonazifestival in Ostritz am 21.04.2018 auf.“

Wirtschaftsminister Dulig (SPD) warf der Geheimdienst vor: „Im Rahmen einer Studie des Göttinger Institut für Demokratieforschung zu Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland werden Sie mit der Äußerung benannt, dass auch die CDU eine Verantwortung dafür trägt, welche Zustände heute in Sachsen hinsichtlich Rechtsextremismus und Rassismus herrschen. Die CDU habe das Problem 25 Jahre lang verharmlost und relativiert. Auch kritisieren Sie, dass die CDU denen mit Misstrauen begegne, die sich stets gegen Rechtsextremismus und Rassismus engagiert haben.“

Rechtsextreme

Das systematische Sammeln von Daten über gewählte Abgeordnete und politische Aktivisten durch den sächsischen Inlandsgeheimdienst zeigt, wie weit die Vorbereitungen auf ein diktatorisches Regime fortgeschritten sind. Was autoritären Herrschern wie Wladimir Putin oder Alexander Lukaschenko regelmäßig vorgeworfen wird, war in Sachsen jahrelang gängige Praxis.

Das ist keine hypothetische Frage, der Verfassungsschutz geht auch direkt gegen von ihm Beobachtete vor. Zumindest in einem Fall ist dokumentiert, wie der sächsische Verfassungsschutz die Karriere eines hochqualifizierten muslimischen Ingenieurs gestützt auf ein, laut dem Anwalt des Betroffenen, „Gebräu aus Vermutungen“ und „üblen Nachreden und Gerüchten“ systematisch sabotierte.

Am 31. Dezember 2020 berichtete der Spiegel über den Fall. Der Betroffene, dessen Namen das Magazin auf seinen Wunsch nicht nannte, hatte über fünf Jahre hinweg mehrmals seinen Arbeitsplatz an öffentlichen und privaten Universitäten verloren, weil der Verfassungsschutz hinter seinem Rücken intervenierte und ihn fälschlicherweise als Islamisten denunzierte. Als die Sache bekannt wurde, erstritt er sich eine staatliche Entschädigung von 145.000 Euro.

In den Händen von Rechtsextremisten können die vom Verfassungsschutz gesammelten Daten tödliche Konsequenzen haben, wie der Fall Walter Lübcke sowie zahlreiche Morddrohungen gegen linke Aktivisten und Politiker zeigen.

Der Verfassungsschutz ist selbst ein Zentrum rechtsextremer Umtriebe. Im staatlichen Sicherheitsapparat agieren seit langem rechtsterroristische Netzwerke, wie das Hannibal-Netzwerk, die Waffen horten, Todeslisten anlegen und sich auf einen Tag X vorbereiten, um mit politischen Gegnern abzurechnen. Obwohl dies bekannt ist, bleiben sie weitgehend unbehelligt und werden vom Staat beschützt.

Gordian Meyer-Plath, der den sächsische Verfassungsschutz von 2013 bis 2020 leitete und unter dessen Verantwortung die Sammlung der Abgeordnetendaten fällt, ist alter Herr der schlagenden Verbindung Marchia Bonn, der er seit seiner Studienzeit angehört.

In den 1990er Jahren hatte Meyer-Plath als V-Mann-Führer beim brandenburgischen Verfassungsschutz Carsten Szczepanski (alias „Piatto“) im Gefängnis als Spitzel angeworben. Szczepanski war 1995 wegen versuchten Mordes an einem Lehrer aus Nigeria zu acht Jahren Haft verurteilt worden, wurde aber bereits nach drei Jahren wieder freigelassen. Danach arbeitete er für den Verfassungsschutz in der Führung der NPD und in gewalttätigen Neonazi-Netzwerken wie „Blood & Honour“ und „Combat 18“.

Szczepanski unterhielt enge Beziehungen zu Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Als diese 1998 untertauchten und die Terrororganisation NSU bildeten, warnte er den Verfassungsschutz. Trotzdem konnten die drei in den folgenden Jahren vom sächsischen Chemnitz aus unbehelligt zehn rassistische Morde und 15 Raubüberfälle begehen.

Als der NSU 2011 schließlich aufflog, wurden beim sächsischen Verfassungsschutz die Spuren verwischt und mehr als 800 Aktenstücke zur rechtsextremen Szene vernichtet. Verantwortlich für die Vernichtungsaktion war kein anderer als Dirk-Martin Christian, Meyer-Plaths heutiger Nachfolger. Er hatte von 2007 bis 2012 die Zentralabteilung des Geheimdiensts geleitet.

Als der damalige Verfassungsschutzpräsident Reinhard Boos wegen dieser angeblichen „Panne“ zurücktrat, trat Meyer-Plath an seine Stelle. Er setzte den Geheimdienst vor allem gegen Linke und Antifaschisten ein, während er seine schützende Hand über rechtsextreme Terrornetzwerke und die AfD hielt.

Als im Sommer 2018 ein rechtsextremer Aufmarsch in Chemnitz, bei dem AfD-Politiker und führende Neonazis Seite an Seite marschierten, bundesweites Aufsehen erregte, verteidigte der Verfassungsschutz den Aufmarsch und beschuldigte stattdessen die Organisatoren eines Anti-Nazi-Konzerts, zu dem 70.000 Zuhörer kamen, sie gäben Linksextremisten eine Plattform, um mit „ihrer extremistischen Ideologie auf Nichtextremisten“ einzuwirken.

PKK vertuscht den Fall

Trotz dieser langen rechtsextremen Tradition und den Gefahren, die sich daraus ergeben, bemüht sich die PKK, das Ausmaß des Skandals zu verharmlosen und zu vertuschen. Ihr Bericht gelangt zwar zum Schluss, dass die Speicherung der Abgeordnetendaten „klar rechtswidrig“ sei, zieht daraus aber weder politische noch personelle Konsequenzen. Dies ist umso bemerkenswerter, als die fünfköpfige PKK aus je einem Mitglied aller im Landtag vertretenen Parteien besteht. Es gibt darin also eine „rot-rot-grüne“ Mehrheit gegen CDU und AfD.

Anstatt die politischen Gefahren klar zu benennen, führt die PKK die Datensammlung auf eine fehlerhafte Nutzung der Software DOMEA zurück, eines zentralen elektronischen Archivierungssystems, das eine Volltextrecherche aller gespeicherten Dokumente erlaubt. Weil gespeicherte Zeitungsartikel, profane Verwaltungsakten und brisante nachrichtendienstliche Informationen nicht sauber getrennt worden seien, habe das System auf Anfrage die beanstandeten Informationen über die Abgeordneten zusammengestellt.

Aus welchen Motiven die Daten überhaupt ins System eingespeist wurden, beantwortet diese absurde Rechtfertigung allerdings nicht. Dies zu rekonstruieren sei der Kommission nicht mehr möglich, heißt es in dem Bericht. Die PKK muss jedoch kleinlaut einräumen, dass Gründe, warum auch Informationen über die Unterstützung des Protest gegen das Neonazifestival in Ostritz oder die „Leipziger Erklärung 2018 – Zeit für Zivilcourage“ „überhaupt erhoben wurden, indes schwieriger zu finden“ sind.

Sie bemüht sich, auch dafür eine Rechtfertigung zu finden. Sie spekuliert, dass dies beispielsweise „im Zuge von Einsatzvorbereitungen der Landespolizei“ und dem damit einhergehenden Informationsaustausch geschehen sei. Statt Aufklärungsarbeit leistet die PKK also Kreativarbeit zur Rechtfertigung der Bespitzlung.

Bei anderen Daten muss auch die Kommission einräumen, dass „es kaum mehr möglich“ sei, „eine halbwegs plausible Erklärung für die Erhebung und Speicherung zu ersinnen“. Bei den gespeicherten Facebook-Kommentaren scheint ihr „selbst bei kreativer Anstrengung kein Weg denkbar“, warum diese gespeichert wurden. Stattdessen bleibe „nur der Schluss, dass sie vom LfV selbst erhoben wurden“, dass ein Geheimdienstmitarbeiter sie „auf der Basis nicht nachvollziehbarer Kriterien als erhebungs- und speicherwürdig beurteilt“ habe. „Der betroffene Abgeordnete war somit Objekt nachrichtendienstlicher Informationsbeschaffung.“

Statt der geheimdienstlichen Überwachung von gewählten Abgeordneten auf den Grund zu gehen, erteilt der PKK dem Landesverfassungsschutz die politische Absolution und lobt die Bemühungen des neuen Geheimdienstchefs: Löschung der illegalen Datensätze, mehr „Sensibilisierung“ der Geheimdienstler und striktere „Relevanzprüfung“ der gespeicherten Daten. Zusammenfassend hält der Nachbericht fest: „Die vom LfV Sachsen ergriffenen Maßnahmen werden von der PKK als erforderlich und sachgerecht bewertet.“

Eine Warnung

Die Überwachung von gewählten Abgeordneten und politischen Aktivisten durch den sächsischen Verfassungsschutz und deren Verharmlosung durch sämtliche Parteien sind ein Warnsignal. Obwohl sie selbst von der Überwachung betroffen sind, spielen die Vertreter von Linkspartei, SPD und Grünen diese herunter und stärken den zutiefst undemokratischen, von Rechtsextremismus verseuchten Geheimdienst, anstatt ihn aufzulösen.

Kurz vor der Bundestagswahl hat die Große Koalition die Befugnisse von Polizei und Geheimdiensten massiv ausgeweitet. Wie die WSWS berichtete, hat der Bundestag weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit insgesamt neun entsprechende Gesetze und Gesetzesänderungen verabschiedet.

Dabei sind die rechten Machenschaften des Verfassungsschutzes nicht auf Sachsen beschränkt. Hans-Georg Maaßen, der seit 2012 das Bundesamt für Verfassungsschutz leitete, arbeitete eng mit der AfD zusammen und verfolgte systematisch sozialistische Organisationen.

Er war dafür verantwortlich, dass die Sozialistische Gleichheitspartei als „linksextremistische Partei“ und „Beobachtungsobjekt“ mit der Begründung in den Verfassungsschutzbericht 2017 aufgenommen wurde, sie sei „gegen die bestehende, pauschal als ‚Kapitalismus‘ verunglimpfte staatliche und gesellschaftliche Ordnung, gegen die Europäische Union (EU), gegen vermeintlichen Nationalismus, Imperialismus und Militarismus sowie gegen die Sozialdemokratie, Gewerkschaften und auch gegen die Partei DIE LINKE“.

Als Maaßen 2018 wie seine sächsischen Kollegen den rechtsextremen Aufmarsch in Chemnitz unterstützte, war er nicht mehr zu halten und musste gehen. Seither wirbt er am rechten Rand der CDU für AfD-Positionen, hetzt gegen „die Gefahren der sozialistischen Ideologie“ und wettert gegen „orchestrierte“ Einwanderung zur „Zersetzung unserer Gesellschaft“.

Doch Maaßens Abgang hat nichts verändert. Das von ihm ausgewählte Personal ist geblieben. Sein Nachfolger Thomas Haldenwang, jahrelang sein Stellvertreter, führt seinen Kurs fort. Die SGP wird weiterhin im Verfassungsschutzbericht erwähnt, obwohl sie gegen diese Verletzung ihrer elementaren demokratischen Grundrechte geklagt hat, die an Bismarcks Sozialistengesetze und die Verfolgung von Sozialisten durch die Nazis anknüpft.

Die systematische Aufrüstung des staatlichen Sicherheitsapparats und die Stärkung faschistischer Kräfte richten sich gegen die Arbeiterklasse. Angesichts zehntausender Corona-Toten sowie wachsender Armut, Arbeitslosigkeit und sozialer Ungleichheit bereitet sich die herrschende Klasse darauf vor, jede Art von Opposition und Widerstand einzuschüchtern und niederzuschlagen. Das ist eine internationale Entwicklung.

Linke, SPD und Grüne unterstützen die Aufrüstung des Staatsapparats, weil sie das kapitalistische System bedingungslos verteidigen und eine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse weit mehr fürchten als eine rechte Diktatur.

Die einzige Partei, die dieser rechten Verschwörung in der Bundestagswahl entgegentritt und die ersatzlose Auflösung des Verfassungsschutzes fordert, ist die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP). Als deutsche Sektion der Vierten Internationale kämpft sie für die Mobilisierung der internationalen Arbeiterklasse für ein sozialistisches Programm.

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