G7 hält Krisengipfel ab, während sich der US-Rückzug aus Afghanistan beschleunigt

Während die USA auf dem Flughafen von Kabul hektische Evakuierungsmaßnahmen organisieren, hat sich Präsident Biden am Dienstag zu einem Online-Krisengipfel mit den Staatschefs der sieben führenden imperialistischen Mächte getroffen. Zehn Tage nach dem Fall des Marionettenregimes in Kabul wurde das Gipfeltreffen angesichts dieses historischen Debakels von heftigen Konflikten in den herrschenden Kreisen dominiert. Wie es die europäischen Mächte gefordert hatten, behielt Biden sich zwar vor, das Abkommen mit den Taliban zu verletzen und die US-Truppen auch nach Ablauf der vereinbarten Frist am 31. August im Land zu behalten. Allerdings machte er deutlich, dass die militärische Situation dies kaum möglich mache.

Die Taliban hatten die G7-Staaten – USA, Japan, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien und Kanada – vor dem Gipfeltreffen aufgefordert, sich an die ausgehandelte Frist zu halten.

Am Montag drohte Taliban-Sprecher Suhail Shaheen, bei einer Verletzung der Frist würde es zu Kämpfen mit den US-Truppen kommen, die am Kabuler Flughafen festsitzen. Er erklärte: „Präsident Biden hat angekündigt, dass die Streitkräfte bis zum 31. August abgezogen werden. Wenn sie [ihre Präsenz] verlängern, würde das bedeuten, dass sie die Besatzung verlängern. Wenn sie die Besatzung verlängern wollen, wird das zu einer Reaktion führen.“

US-Präsident Joe Biden (links) im Gespräch mit dem britischen Premierminister Boris Johnson während ihres Treffens am 10. Juni im britischen Cornwall im Vorfeld des G7-Gipfels. (Toby Melville/Pool Photo via AP)

Bidens Rede auf dem G7-Gipfel am Dienstag war geprägt von einem gewaltigen Widerspruch. Während er erklärte, ein demütigender US-Abzug sei in vollem Gange, kündigte er gleichzeitig an, die US-Regierung bereite Alternativpläne für einen Verbleib in Afghanistan vor. Es war mehr oder weniger offensichtlich, dass diese Behauptungen als Signal zu verstehen sind, dass die imperialistischen Mächte nicht vorhaben, sich aus der Region zurückzuziehen.

Zunächst lobte Biden die „Solidarität“ der G7-Staaten beim Thema Afghanistan. Er berichtete, US-Truppen hätten seit dem Zusammenbruch des von den USA unterstützten afghanischen Regimes 70.700 Menschen evakuiert, davon alleine 12.000 in den vorangegangenen 12 Stunden. Biden erklärte, die US-Truppen arbeiteten „mit Hochdruck daran“, die Evakuierungen bis zum 31. August abzuschließen. Die New York Times erklärte unter Berufung auf anonyme offizielle Quellen, Biden wolle „die Truppen bis zum 31. August abziehen“. Als Grund dafür werde die „sehr hohe Gefahr von Anschlägen“ genannt.

Dennoch erklärte Biden, Washington bereite Pläne vor, um die Frist bis zum 31. August zu ignorieren: „Ich habe das Pentagon und das Außenministerium um Notfallpläne zur Anpassung des Zeitplans gebeten, falls dies notwendig werden wird... Ich bin mir auch der gesteigerten Risiken bewusst, über die man mich informiert hat, und über die Notwendigkeit, diese Risiken zu berücksichtigen. Sie sind reale und beträchtliche Herausforderungen, die wir berücksichtigen müssen... Es ist eine unsichere Lage, es kam bereits zum Ausbruch von Schusswechseln. Es besteht das ernsthafte Risiko, dass wir scheitern, je länger es dauert.“

Biden kündigte an, er werde das Potential für „Anti-Terror“-Interventionen in Afghanistan beibehalten, allerdings müsse Washington keine Militärpräsenz in dem Land unterhalten: „Wir führen weltweit effektive Antiterror-Operationen durch – dort, wo wir wissen, dass der Terrorismus eine größere Bedrohung ist als heute in Afghanistan, und wir tun das ohne dauerhafte Militärpräsenz vor Ort. Und das Gleiche werden wir in Afghanistan mit unseren grenzübergreifenden Terrorabwehrkapazitäten tun.“

Das Debakel des US-Kriegs in Afghanistan entlarvt einmal mehr die Lügen, mit denen der 20 Jahre andauernde Krieg der amerikanischen und der Weltöffentlichkeit verkauft wurde. Billionen Dollar und Hunderttausende Menschenleben wurden unter dem Vorwand verheizt, es sei dringend notwendig, die Taliban zu stürzen, eine Demokratie in Afghanistan zu errichten und eine Nato-Militärpräsenz aufzubauen. Dies sei die einzige Möglichkeit, al-Qaida und andere Terrororganisationen daran zu hindern, das Land als ihre Basis zu benutzen. Doch diese Behauptungen waren politische Lügen.

Die US- und die Nato-Truppen müssen Afghanistan ohne Bedingung verlassen. Nachdem afghanische Männer, Frauen, Kinder in Dörfern und Städten fast zwei Jahrzehnte lang bombardiert oder Ziel von mörderischen Drohnenangriffen wurden, wirkt die angebliche Sorge der Nato um die Menschenrechte afghanischer Flüchtlinge völlig unglaubwürdig. Der politisch kriminelle Charakter der US-Kriege im Nahen Osten und Zentralasien in den Jahrzehnten nach der stalinistischen Auflösung der Sowjetunion 1991 ist entlarvt.

Um den Krieg zu beenden, muss die Arbeiterklasse in einer unabhängigen, sozialistischen Antikriegsbewegung mobilisiert werden. Innerhalb der herrschenden Klasse gibt es keine Fraktion für den Frieden, und der G7-Gipfel hat gezeigt, dass sich der Kurs der EU und Kanadas nicht grundlegend von dem der USA unterscheidet.

Vor dem G7-Gipfel hatte dessen wichtigster Organisator, der britische Premierminister Boris Johnson, „sicheres Geleit für alle, die Afghanistan verlassen wollen, bis zum 31. August und darüber hinaus“ gefordert. Weiter erklärte er: „Ich habe eine völlig realistische Haltung gegenüber den Taliban und glaube nicht, dass irgendwer so tun will, als sei das keine sehr schwierige Situation. Aber das heißt nicht, dass wir unsere Druckmittel ignorieren sollten.“

Johnson regte an, dass die G7-Staaten afghanische Gelder in Überseebanken beschlagnahmen und dem Land, das durch die jahrzehntelange Nato-Besetzung zerstört ist, die Wirtschaftshilfe verweigern könnten. Er erklärte, sie könnten beschließen, „diese immensen Geldmittel irgendwann freizugeben, damit die Regierung und das Volk von Afghanistan sie benutzen können...“

Auch von europäischen Regierungsvertretern und dem kanadischen Premierminister Justin Trudeau kamen aggressive Forderungen. Trudeau erklärte nach dem Treffen vor der Presse: „Ich habe betont, dass Kanada bereit ist, nach Ablauf der Frist am 31. im Land zu bleiben, wenn dies irgend möglich ist... Wir wollen so viele Leute wie möglich retten, und wir Kanadier sind bereit, dies zu versuchen.“

Der französische Präsident Macron erklärte vor dem Gipfel, die Nato-Mächte hätten eine „moralische Verpflichtung“ zur Rettung von Afghanen, die vor den Taliban fliehen. Der Élysée-Palast forderte Biden zwar auf, nach Ablauf der Frist am 31. August in Afghanistan zu bleiben, kündigte aber an, sich an die Entscheidung der USA „anzupassen“.

Der deutsche Außenminister Heiko Maas erklärte, Deutschland verhandele mit den USA, der Türkei und anderen Ländern darüber, wie sich der Betrieb am Kabuler Flughafen auch nach der militärischen Evakuierung aufrechterhalten lässt. Er fügte hinzu, das Ende der militärischen Evakuierung dürfe nicht die letzte Chance sein, die Menschen aus Afghanistan heraus zu bekommen.

Die US-Niederlage in Afghanistan verschärft die Rivalitäten zwischen den Großmächten in Zentralasien. Zwischen dem US-Imperialismus, China und Russland sowie den europäischen imperialistischen Mächten verschärfen sich die Spannungen um wirtschaftlichen und strategischen Einfluss in der Region. Die New York Times veröffentlichte eine Kolumne des chinesischen Oberst Zhou Bo mit dem Titel „China ist bereit, in Afghanistan die Lücke zu füllen“, der einen Einblick in die immense potenzielle Umverteilung der wirtschaftlichen und politischen Macht bietet, welche die Regierungsvertreter der USA und der europäischen Mächte fürchten.

Zhou schrieb: „Nach dem Rückzug der USA kann Peking Kabul anbieten, was es am meisten braucht: politische Unparteilichkeit und wirtschaftliche Investitionen. Afghanistan wiederum hat das, was China am meisten schätzt: Gelegenheiten zum Aufbau von Infrastruktur und Industrie – in diesen Bereichen hat China wohl die größten Kapazitäten – und Zugang zu unerschlossenen Bodenschätzen im Wert von einer Billion Dollar, darunter die für die Industrie wichtigen Metalle wie Lithium, Eisen, Kupfer und Kobalt.“

Der Abzug der USA würde Chinas Infrastrukturprojekt „Belt and Road“ begünstigen und Wirtschaftswachstum und wirtschaftliches Wachstum sowie Integration unter chinesischer Führung in der Region ermöglichen. Zhou schrieb, der US-Krieg in Afghanistan habe Chinas Präsenz begrenzt. „Afghanistan war bisher ein attraktives, aber fehlendes Stück in dem riesigen Puzzle. Wenn China das Belt-and-Road-Projekt von Pakistan durch Afghanistan ausweiten kann, beispielsweise mit einer Autobahn von Peschawar nach Kabul, würde das eine kürzere Landverbindung zu den Märkten im Nahen Osten eröffnen.“

Zhou äußerte die Hoffnung auf eine Zusammenarbeit zwischen den USA und China: „Keines unserer beiden Länder will, dass Afghanistan in einen Bürgerkrieg abgleitet. Beide unterstützen eine politische Lösung, in der Afghanistan von der eigenen Bevölkerung regiert und besessen wird. Afghanistan ist eine Arena, in der zwei konkurrierende Riesen gemeinsame Sache machen können.“

In Wirklichkeit zeigt die Geschichte, wie unwahrscheinlich es ist, dass sich der US-Imperialismus oder seine europäischen Verbündeten friedlich mit einem Rückschlag in Zentralasien abfinden. Zweifellos bereiten sie noch rücksichtslosere Maßnahmen vor, um den zunehmenden Niedergang ihrer regionalen und globalen Stellung umzukehren. Die entscheidende Aufgabe ist, die politischen Lehren aus dem historischen Debakel des US-Imperialismus zu ziehen und in der Arbeiterklasse eine Bewegung gegen weitere Angriffskriege aufzubauen.

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