Nach dem Afghanistan-Debakel: Berlin und Brüssel verfolgen eigenständige europäische Kriegspolitik

Deutschland und die Europäische Union verstärken nach dem Debakel in Afghanistan ihre Offensive für eine eigenständige europäische Kriegspolitik. Auf einem informellen Treffen im slowenischen Kranj diskutierten die EU-Verteidigungsminister am Donnerstag über die Aufstellung einer schnellen Eingreiftruppe, die auch unabhängig vom US-Militär agieren kann.

Die EU-Verteidigungsminister posieren für ein Gruppenfoto vor dem Brdo Kongresszentrum im slowenischen Kranj am 2. September 2021 (AP Photo/Darko Bandic)

Der Rückzug der USA aus Afghanistan werde die EU dazu veranlassen, ihre eigenen ständigen Streitkräfte aufzustellen, erklärte der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borell, nach dem Treffen.

„Es ist klar, dass der Bedarf an mehr europäischer Verteidigung noch nie so offensichtlich war wie heute nach den Ereignissen in Afghanistan“, sagte Borrell. „Es gibt Ereignisse, die als Katalysator für die Geschichte dienen. Manchmal passiert etwas, das die Geschichte vorantreibt, es schafft einen Durchbruch, und ich denke, die Ereignisse in Afghanistan in diesem Sommer sind einer dieser Fälle.“

Die europäischen Mächte hatten zunächst mit einer Mischung aus Desillusion und Empörung auf den Abzug der US-Truppen und den schnellen Zusammenbruch des pro-westlichen Marionettenregimes in Kabul reagiert. Nun wollen sie sich so aufstellen, dass sie in Zukunft in der Lage sind, Militäroperationen wie in Afghanistan auch ohne die Unterstützung Washingtons durchzuführen.

Europäische Verteidigungspolitik werde „nur glaubhaft sein, wenn wir auch in der Lage sind, außerhalb unserer Grenzen komplizierte militärische Operationen zu starten“, erklärte der amtierende EU-Komissar für Binnenmarkt und Industriepolitik, Thierry Breton, gegenüber der Süddeutschen Zeitung. Dafür sei eine schnell zu mobilisierende EU-Eingreiftruppe notwendig, „mit allem, was das für Logistik, Vorbereitungen und Kommandostrukturen bedeutet – und mit Blick auf die Risiken für jene Frauen und Männer, die für Europa im Einsatz wären“.

Bereits vor dem Treffen in Kranj hatte Borell einen Gastbeitrag in der New York Times veröffentlicht. Unter dem Titel „Europa, Afghanistan ist dein Weckruf“ plädierte er darin für die Aufstellung einer europäischen Streitmacht und eine weitere Steigerung der europäischen Verteidigungsausgaben.

„Neben dem Ausbau zentraler militärischer Fähigkeiten“, darunter „Lufttransport und Luftbetankung, Führung und Kontrolle, strategische Aufklärung und weltraumgestützte Mittel“, brauche die EU „Streitkräfte, die leistungsfähiger, verlegefähiger und interoperabler sind“. Gleichzeitig werde „der Europäische Verteidigungsfonds, der eingerichtet wurde, um die Verteidigungskapazitäten der EU zu stärken“, in den nächsten Jahren „mit knapp 8 Milliarden Euro ausgestattet“.

Borell ließ keinen Zweifel daran, dass es der EU dabei nicht etwa um „Menschenrechte“ und „Demokratie“ geht – die Propaganda, mit der die US-geführten Militärinterventionen in Afghanistan, Libyen oder im Irak gerechtfertigt wurde –, sondern um die Durchsetzung imperialistischer Interessen mittels Kriegs.

„Eine strategisch autonomere und militärisch fähigere EU wäre besser in der Lage, die kommenden Herausforderungen in Europas Nachbarschaft und darüber hinaus zu bewältigen“ und „die Verteidigung seiner Interessen zu stärken“, schreibt Borell in der Times.

Die EU müsse nicht nur „Bedrohungen“ wie „die Gefahr erneuter Terroranschläge“ und „irreguläre Migration“ bekämpfen, sondern auch andere Mächte zurückschlagen. China, Russland und der Iran würden bereits jetzt „mehr Einfluss in der Region [Zentralasien] haben“, während Pakistan, Indien, die Türkei und die Golfmonarchien sich neu positionierten. Europa könne „nicht zulassen, dass sie nach dem westlichen Abzug die einzigen Gesprächspartner für Afghanistan sind“, und müsse „sein Engagement neu ausrichten“.

Besonders aggressiv gebärdet sich der deutsche Imperialismus. In einem Statement beklagte die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), dass die Europäer nicht in der Lage gewesen seien, den Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan zu verhindern. „Wir Europäer haben gegen die Entscheidung der USA zum Abzug kaum Widerstand geleistet, weil wir mangels eigener Fähigkeiten keinen leisten konnten“, klagte sie auf Twitter.

Das ist unmissverständlich. Wäre es nach Berlin gegangen, hätte der brutale 20-jährige Kriegseinsatz, der Hunderttausende Menschenleben gekostet hat und auf die imperialistische Kontrolle und Ausbeutung des rohstoffreichen und geostrategisch wichtigen Landes zielte, fortgesetzt werden müssen. Für Kramp-Karrenbauer und die deutsche Bourgeoisie lautet die zentrale Lehre aus Afghanistan nicht weniger, sondern mehr Aufrüstung und Krieg.

Man müsse „jetzt europäisch stärker werden, um auf Augenhöhe mit den USA das westliche Bündnis insgesamt stärker zu machen“, so die Verteidigungsministerin. Dabei dürfe man nicht bei „der Frage stehenbleiben, ob wir eine ‚europäische Eingreiftruppe‘ wollen oder nicht“. Die zentrale Frage für die Zukunft der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sei, „wie wir unsere militärischen Fähigkeiten in der EU endlich gemeinsam nutzen! Mit welchen effektiven Entscheidungsprozessen, echten gemeinsamen Übungen und gemeinsamen Missionen.“

Um die Kriegspläne umzusetzen, könnten in der EU „Koalitionen von Willigen nach der gemeinsamen Entscheidung aller vorangehen“. Auch müsse man prüfen, ob die EU-Mitgliedsstaaten „regionale Verantwortungen für Sicherheit festlegen, gemeinsam Spezialkräfte trainieren und wichtige Fähigkeiten wie strategischen Lufttransport und Satellitenaufklärung gemeinsam organisieren“. Deutschland sei „zu diesen Themen“ bereits „mit interessierten EU-Staaten im Gespräch“.

Arbeiter und Jugendliche auf dem ganzen Kontinent müssen dies als Warnung verstehen. Die herrschende Klasse in Deutschland arbeitet seit langem fieberhaft daran, Europa unter ihrer Führung zu organisieren, um sich nach zwei verlorenen Weltkriegen wieder zu einer außenpolitischen und militärischen Großmacht aufzuschwingen. Bereits nach der deutschen Wiedervereinigung und der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie vor 30 Jahren plädierten führende Politiker und Militärs für eine stärkere Rolle Deutschlands in Europa und der Welt.

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 verkündeten dann der damalige Bundespräsident Joachim Gauck und sein sozialdemokratischer Nachfolger Frank-Walter Steinmeier gemeinsam mit der aktuellen Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen (CDU), endgültig die Rückkehr des deutschen Militarismus. Es folgten eine massive Aufrüstung der Bundeswehr, die Verlegung von deutschen Kampftruppen an die russische Grenze und neue Kriegseinsätze im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika. Inmitten der Corona-Pandemie schlachtet die herrschende Klasse nun das Debakel in Afghanistan aus, um die begonnene Offensive voranzutreiben.

Die Bundesregierung kann nur deshalb so aggressiv auftreten, weil ihr Kurs auch von den nominell „linken“ Oppositionsparteien unterstützt wird. Mehr als zwei Jahrzehnte, nachdem die Grünen den ersten deutschen Kriegseinsatz seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Kosovo mit auf den Weg gebracht haben, stehen sie an der Spitze der deutsch-europäischen Kriegsoffensive.

Im Wahlkampf kritisiert die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock die Große Koalition in Bezug auf eine deutsch-europäische Großmachtpolitik durchgehend von rechts. Im letzten Triell warf sie CDU/CSU und SPD vor, sich international „wegzuducken“ und forderte eine „aktivere deutsche Außenpolitik“.

Auch die Linkspartei steht mit beiden Beinen im Lager des deutschen Imperialismus. Bei den Wahlen schielt sie auf ein Regierungsbündnis mit den Hartz-IV- und Kriegsparteien SPD und Grüne und hat längst klargestellt, dass sie als Teil einer möglichen rot-rot-grünen Bundesregierung die Nato und deutsche Auslandseinsätze befürworten würde.

Am 25. August unterstützte die Linke den „Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan“. Während sich die Mehrheit der Fraktion enthielt, stimmten fünf Abgeordnete, darunter ihr sicherheitspolitischer Sprecher Matthias Höhn, offen für den Einsatz.

Die Pläne der herrschenden Klasse, die USA als führende Interventionsmacht zu ersetzen, haben etwas Größenwahnsinniges. Doch sie müssen todernst genommen werden. Letztlich befeuern die gleichen grundlegenden Widersprüche des Kapitalismus, die hinter der Aggression des US-Imperialismus stehen und nach dem Abzug aus Afghanistan immer direkter die Gefahr eines Nuklearkriegs mit Russland und China heraufbeschwören, die deutsch-europäische Kriegsoffensive.

Diese wiederum verschärft die Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten selbst – auch innerhalb Europas.

Die einzige Möglichkeit, einen vernichtenden dritten Weltkrieg zu verhindern, ist der Aufbau einer Antikriegsbewegung der internationalen Arbeiterklasse. Die objektiven Voraussetzungen dafür reifen schnell heran. In der Perspektive zur letzten Rede von US-Präsident Joe Biden zum Debakel in Afghanistan schreiben wir:

Der demütigende Rückzug aus Afghanistan markiert nicht nur das Scheitern der US-Politik in diesem Land, sondern das Scheitern einer ganzen Strategie und Weltanschauung – des Programms der globalen Vorherrschaft und innenpolitischen Reaktion, das seit 30 Jahren verfolgt wird. Angesichts der wachsenden sozialen Ungleichheit und der mörderischen, profitorientierten Corona-Politik der herrschenden Klasse weltweit trifft das Debakel in Afghanistan mit einem Wiederaufleben des Klassenkampfs in den USA und international zusammen und hat revolutionäre Implikationen.

Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) kämpft in der Bundestagswahl dafür, die sich entwickelnden Kämpfe der Arbeiter – darunter die wichtigen Streiks der Lokführer, Pfleger und Lieferbeschäftigten in Deutschland – mit einer sozialistischen und internationalistischen Perspektive zu bewaffnen, um die Kriegsentwicklung zu stoppen und ihre Ursache – das kapitalistische Profitsystem – zu beseitigen.

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