„Weil das Personal weit über seine Grenzen hinaus arbeitet, können Patienten nicht angemessen versorgt werden“

Pflegerinnen und Pfleger in Großbritannien verurteilen Untätigkeit der Regierung angesichts der Omikron-Welle

Angestellte des britischen National Health Service (NHS, staatlicher Gesundheitsdienst) aus dem ganzen Land haben gegenüber NHS FightBack ihre Wut über die Johnson-Regierung geäußert, die das volle Ausmaß der Krise durch die Omikron-Welle nicht einmal anerkennt, geschweige denn etwas dagegen unternimmt.

Während jeder Tag neue Rekordwerte bei Infektionen und Hospitalisierungen bringt, sind die wiederholten Versprechen, die Überlastung des NHS zu verhindern, längst in Vergessenheit geraten.

Unfallnotaufnahme des Krankenhauses von Poole in Dorset (WSWS Media)

Am 30. Dezember meldete Großbritannien 189.213 neue Fälle, 116 Prozent mehr als vor einer Woche. Die Zahl der Todesfälle stieg im Vorgleich zur Vorwoche um 332, d.h. um 127 Prozent.

Bis zum Morgen des 30. Dezember wurden in Großbritannien 11.452 Menschen mit Covid-19 im Krankenhaus behandelt, was einem Anstieg von fast 1.000 an einem einzigen Tag und von 61 Prozent innerhalb einer Woche entsprach. In der Woche vor dem 26. Dezember wurden mehr als 500 Kinder mit Covid ins Krankenhaus eingeliefert. Diese Zahl wird erheblich steigen, sobald das Ausmaß der Infektionen über die Feiertage bekannt wird. Die Infektionen während der Neujahrsfeiern werden dann bald noch hinzukommen.

Experten der Universität Warwick haben gewarnt, dass die Zahl der Covid-Infektionen in England ohne weitere Maßnahmen auf bis zu 1,4 Millionen pro Tag, und die Zahl der Toten auf 3.000 pro Tag ansteigen könnten – selbst wenn Omikron nur halb so schlimm wäre wie Delta. Die Zahl der Hospitalisierungen pro Tag könnte auf 15.000 steigen.

Die einzige Reaktion auf die drohende neue Welle von Hospitalisierungen durch die Omikron-Variante war die Bekanntgabe von Plänen zur Einrichtung von „Covid-Zentren“ für Schnelltests und Impfungen, vorwiegend in den Parkhäusern von Kliniken. Bisher wurden diese Woche acht „Nightingale“-Behelfslazarette mit Platz für nur 100 Patienten errichtet. Zudem sollen notfalls Standorte für weitere 4.000 Betten bestimmt werden. Bisher wurde nicht angekündigt, mit welchem Personal diese zusätzlichen Betten ausgestattet werden sollen. NHS England hat bis jetzt noch nicht formell militärische Unterstützung angefordert, obwohl keine andere Option zur Verfügung steht.

Laut den jüngsten verfügbaren Daten von NHS England vom 19. Dezember fehlten in den Intensivmedizin-Einrichtungen des NHS 18.829 Beschäftigte wegen Covid-19, was eine Steigerung um 54 Prozent im Vergleich zur Vorwoche (12.240 Beschäftigte) bedeutet.

Die Krankenhäuser wurden obendrein angewiesen, ihre Leichenhallen zu überprüfen.

Ein NHS-Pfleger aus Nordwestengland erklärte, wie Stress und Ermüdung den Ausfall von Arbeitern weiter erhöht: „Alle sind nur müde und ausgelaugt. Die Belastung, in einer Covid-Station zu arbeiten – und dass das mit Omikron wieder passieren wird und es diesmal möglicherweise schlimmer werden kann, zermürbt die Leute.

Einige von uns haben sich im Laufe dieses Jahres aufgrund von Stress freinehmen müssen. Fast alle von uns hatten Covid in unterschiedlichem Ausmaß. Ich habe mit Beratern, Ärzten und Pflegern gesprochen, die alle sagten, dass sie, als sie durch das Virus krank wurden, glaubten, sie müssten sterben.“

Es kam zu ernsthaften Problemen auf Stationen, wenn Patienten verlegt wurden, bevor ihr Covid-Status bestätigt war.

„Wir hatten vor Kurzem einen Ausbruch. Ein Patient wurde aus einem anderen Krankenhaus zu uns geschickt, bevor sie dort seinen Untersuchungsbefund erhalten hatten – das ist üblich, um Betten frei zu bekommen. Das Ergebnis war positiv, deshalb mussten wir alle sechs Patienten auf der Station als Positive behandeln.“

Ein Medizinstudent in einer Notaufnahme erklärte, dass Unstimmigkeiten bei der Personalbesetzung bedeuteten, dass „Ärzte die Aufgaben nicht angemessen delegieren können und gezwungen sind, spontan nach der Situation am jeweiligen Tag Entscheidungen zu treffen“. Dies führt zu „einer Beeinträchtigung der Patientenbetreuung sowie Stress und Burnouts beim NHS-Personal“.

Der Personalmangel hat zu einem rigorosen Triage-System geführt, nach dem nur die am stärksten gefährdete „rote“ Gruppe von Patienten sofort behandelt wird. „Patienten auf der ,gelben‘ und ,grünen‘ Liste müssen warten, bis alle anderen schwer erkrankten Patienten behandelt wurden. Das kann mehrere Stunden oder mehrere Tage dauern.“

Ein Patient musste zwei Tage warten, bis er einen Platz bekam und behandelt wurde. „Einer der Hauptgründe dafür ist Personalmangel.“

Die begrenzte Zahl von Ärzten und Pflegern im Verhältnis zur steigenden Zahl von Patienten in der Notaufnahme hat eine „Lose-Lose-Situation geschaffen, in der das Personal über seine Grenzen hinaus arbeitet und Patienten nicht angemessen behandelt werden können“.

Ein Pfleger, der am University Hospitals Dorset NHS Foundation Trust arbeitet, erklärte, dass derzeit 159 seiner Kollegen wegen Covid-19-Symptomen fehlen. Das sind doppelt so viele wie in der Vorwoche. Weitere 65 befinden sich in Isolation oder Quarantäne. Er erklärte: „Letzte Woche musste das Abstrich-Team in Isolation gehen, nachdem sich einige von ihnen mit dem Virus angesteckt hatten.“

Aufgrund von Personalmangel wurden für Hunderte von Schichten in den nächsten Tagen Pflegekräfte über Agenturen inseriert. „Viele von ihnen werden nicht besetzt werden, obwohl sie als Anreiz 50 bis 100 Pfund pro Schicht zahlen.“

Das bedeutet, dass nicht nur normale Stationen in gefährlichem Ausmaß unterbesetzt wären, sondern auch Spezialabteilungen wie Intensiv- und Notfallstationen.

„Ein Kollege in der Intensivstation sagte mir, zeitweise habe eine Pflegekraft drei Patienten in kritischem Zustand pflegen müssen.“

Unter diesen Umständen könnte ein einzelner kleiner Vorfall oder eine Konzentrationsschwäche schnell die Sicherheit der Patienten gefährden. Er beschrieb, dass in der Notfallabteilung „fast jeden Tag enormer Druck herrscht“. Regelmäßig warten Dutzende von Krankenwagen außerhalb der Klinik, um ihre Patienten zu übergeben.

„Manchmal müssen Sanitäter ihre ganze Schicht, mehr als elf Stunden, draußen vor dem Gebäude warten.“

Die Bettenbelegung ist gefährlich hoch: „Häufig sind mehr als 95 Prozent aller Betten belegt. Das schafft enorme Probleme für Patienten und Personal. Der Schlaf und die Ruhe der Patienten werden ständig gestört, auch in der Nacht, weil sie ständig verlegt werden, um neue Patienten aufzunehmen.

Wir standen in den letzten 20 Monaten ständig unter unerbittlichem Druck, und es scheint nicht nachzulassen.“

Der Pfleger erklärte: „Das Krankenhaus wird direkt nach den Feiertagen von Covid-Patienten geradezu überschwemmt werden und wir werden die volle Last dieser Katastrophe mit immer weniger, bereits ausgebranntem Personal tragen müssen.“

Die Pflege der Patienten hat bereits in der letzten Zeit gelitten: „Mehr als 52.000 Patienten mussten in unserer Einrichtung auf planbare Eingriffe warten, mehr als 3.000 davon schon länger als ein Jahr.

Wir verstehen sehr gut, was die Patienten brauchen, aber wir können es ihnen nicht geben, weil wir nicht genug Personal haben. Diese Situation zehrt an der Psyche und der Moral.“

Die Entscheidung der Regierung, das Coronavirus über Weihnachten und Neujahr in der Bevölkerung wüten zu lassen, wird Anfang 2022 zu noch mehr Fällen und unweigerlich zu mehr Todesfällen führen.

Eine junge Pflegerin aus London erklärte gegenüber der Nursing Times: „Mehrere Mitglieder meines Teams haben sich krankgemeldet, nachdem sie mit Covid-Fällen in Kontakt gekommen sind oder selbst positiv getestet wurden. Die Folge ist, dass die Dienstälteren unter größerem Druck stehen, um die Arbeit mit einer schwindende Personaldecke und erhöhtem Tempo für die verbleibenden Mitarbeiter zu organisieren.“

Sie erklärte, die Lage fühle sich an wie „ein Rückfall in den März 2020, nur dass ich damals mehr Hoffnung hatte als jetzt“.

Eine ehemalige Pflegerin schrieb auf Twitter: „Der Hauptgrund, warum ich auf unsere Regierung wütend bin: Ich war eine Intensivpflegerin, jetzt habe ich widerwillig den Job aufgegeben, den ich einmal geliebt habe. Ich bin eine Pflegerin, die Angstzustände und Depressionen entwickelt hat. Ich bin eine Pflegerin, die Schlafparalyse und häufig Alpträume hat. Mein Leben hat sich für immer geändert.“

In Nursing Notes erschien am Freitag ein Artikel mit der Überschrift: „Mehr als die Hälfte der Pflegekräfte wollen zum Winteranfang kündigen.“ Auf Facebook erschienen dazu innerhalb weniger Stunden fast 200 Kommentare.

Paul schrieb: „Wir haben in meiner Intensivstation in den letzten drei Monaten fünf Pflegekräfte verloren, viele weitere wollen nicht nur die Abteilung verlassen, sondern den Beruf ganz aufgeben.“

Viele erklärten, sie könnten nicht auf die Rente warten und würden nicht in den Beruf zurückkehren. Eine Pflegerin, die erst vor Kurzem ihre Ausbildung abgeschlossen hatte, erklärte, sie erwäge die Suche nach einer anderen Stelle. Eine Pflegerin im Mutterschaftsurlaub erklärte: „Ich habe Angst zurückzukehren. Ehrlich gesagt, beunruhigt mich der Gedanke sehr.“

Georgie erklärte, sie habe sich wegen Depression und Stress sechs Monate krankschreiben lassen: „Ich werde in einer Woche wieder anfangen, und ich habe Angst!“

Die WSWS ruft alle Pflegerinnen und Pfleger sämtlicher medizinischer und sozialer Einrichtungen auf, ihre Erfahrungen mit uns zu teilen. Lest und diskutiert die Erklärung zum Global Workers’ Inquest und sendet uns eure Erfahrungen in der Pandemie sowie Berichte über eure Arbeitsbedingungen.

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