„Demokratie“ in der Ukraine – Wofür riskiert die Nato einen Krieg?

Staatliche Gedenkfeiern und öffentliche Denkmale für Kriegsverbrecher, Massenmörder, Antisemiten und Nazi-Kollaborateure wie Symon Petliura, Stepan Bandera und Roman Schuchewytsch; Einbindung faschistischer Milizen in die offiziellen Streitkräfte; Vernetzung und militärische Ausbildung von Neonazis aus der ganzen Welt unter der schützenden Hand des Staates; mafiaähnliche Kämpfe um die Staatsmacht zwischen einer Handvoll Oligarchen; korrupte Justiz und Behörden; schreiende soziale Ungleichheit bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 412 Euro (April 2021) – das sind die herausragendsten Merkmale der ukrainischen „Demokratie“, für die die USA und ihre europäischen Nato-Verbündeten einen Krieg gegen die Atommacht Russland riskieren.

Gepanzerte Fahrzeuge des Regiments Azow in Mariupol ((Bild: Wanderer777 / CC BY-SA 4.0 / wikimedia)

„Nach wie vor ist es an den Ukrainern und an niemandem sonst, über ihre eigene Zukunft und die Zukunft dieses Landes zu entscheiden,“ erklärte US-Außenminister Antony Blinken am Mittwoch anlässlich eines Besuchs in Kiew. „Das ukrainische Volk hat sich 1991 für einen demokratischen und europäischen Weg entschieden. Es ist 2013 auf den Maidan gegangen, um diese Entscheidung zu verteidigen. Und leider seid ihr seither einer unerbittlichen Aggression aus Moskau ausgesetzt. Russland ist in das Gebiet der Krim eingedrungen, hat einen Konflikt in der Ostukraine angezettelt und systematisch versucht, die Demokratie der Ukraine zu untergraben und zu spalten.“ Ähnlich tönt es aus den europäischen Hauptstädten.

Jedes einzelne Wort dieser Aussage ist eine Lüge.

Nicht das „ukrainische Volk“ hat 1991 die Auflösung der Sowjetunion beschlossen, deren fester Bestandteil die Ukraine war, sondern drei stalinistische Funktionäre: Boris Jelzin (Russland), Stanislaw Schuschkewitsch (Weißrussland) und Leonid Krawtschuk (Ukraine). Sie trafen sich am 7. Dezember zur Jagd auf einer Datscha, wo sie nach erheblichem Wodka-Genuss ohne jede öffentliche Diskussion die Auflösung des Staats beschlossen, der aus der Oktoberrevolution von 1917 hervorgegangen war.

Es folgte ein Jahrzehnt der wilden Privatisierung, in dem ehemalige Funktionäre der Kommunistischen Partei und ihrer Jugendorganisation das gesellschaftliche Eigentum raubten und das hochentwickelte Erziehungs- und Gesundheitssystem zerschlugen.

Herrschaft der Oligarchen

Die Oligarchen, die es damals zu Reichtum brachten, beherrschen bis heute das politische Leben der Ukraine. Sie kontrollieren Wirtschaft und Medien, kaufen Richter und Abgeordnete und unterhalten ihre eigenen Parteien und Milizen.

Selbst die Europäische Union, die ihren „strategischen Partner“ Ukraine seit über zwei Jahrzehnten mit Geldern und Beratern unterstützt, gelangt zum Schluss: „Noch immer teilen Oligarchen, hohe Staatsdiener und korrupte Staatsanwälte und Richter den Staat unter sich auf, verschwinden Milliarden ins Ausland, ist die Ukraine mit wenigen Ausnahmen beim Aufbau eines Rechtsstaates ebenso wenig vorangekommen wie beim Kampf gegen die Korruption.“ So fasst die Süddeutsche Zeitung den Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofes (ECA) zur „Bekämpfung der Großkorruption in der Ukraine“ vom September letzten Jahres zusammen.

Ihre politische Orientierung und ihre internationalen Allianzen ändern die ukrainischen Oligarchen je nach Bedarf.

So galt der reichste Mann des Landes, Rinat Achmetow (von Forbes geschätztes Vermögen: 7,6 Milliarden USD), lange Zeit als pro-russisch. Er kontrollierte unter anderem die inzwischen weitgehend zerstörte Kohle- und Stahlindustrie im Donezk-Becken und war zeitweise Abgeordneter der „Partei der Regionen“ des 2014 gestürzten Präsidenten Wiktor Janukowytsch. Das hinderte ihn nicht daran, sein Vermögen auch nach dessen Sturz weiter zu vermehren.

Der viertreichste Ukrainer, Ihor Kolomojskyj (1,8 Milliarden USD), galt lange als Förderer und Drahtzieher des derzeitigen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi, der die Präsidentenwahl 2019 dank einer Antikorruptionskampagne gewann. Kolomojskyj steht in den USA und anderen Ländern unter Anklage, im „größten Finanzbetrug des 21. Jahrhunderts“ eine Bank in seinem Besitz um mehr als fünf Milliarden Euro ausgeplündert zu haben. Die Pandora Papers haben nun aufgedeckt, dass anscheinend auch Selenskyi von diesem Betrug profitierte. Er und sein Umfeld besitzen mehrere Briefkastenfirmen in internationalen Steueroasen, auf die Gelder in zweistelliger Millionenhöhe flossen.

Petro Poroschenko, mit 1,6 Milliarden USD der siebtreichste Ukrainer, war von 2014 bis 2019 Präsident des Landes. Er machte sein Vermögen durch Süßwarenexporte nach Russland, war zeitweise Minister unter Präsident Janukowytsch und wandelte sich dann zum Ultranationalisten und Liebling des Westens. Nun steht er unter Anklage wegen Hochverrats. Er soll lukrative Geschäfte mit den Separatisten in der Ostukraine gemacht haben, während er als Präsident den Bürgerkrieg gegen sie anheizte. Poroschenko leugnet das und wirft Selenskyi vor, er wolle sich eines politischen Gegners entledigen.

Der Nationalismus diente den Oligarchen stets als Mittel zum Zweck. Sie schürten nationale Konflikte und förderten faschistische Strömungen, um von den sozialen Spannungen abzulenken und die Arbeiterklasse, die nach Jahrzehnten stalinistischer Unterdrückung und Geschichtsfälschung politisch orientierungslos war, zu spalten. Das war seit der Auflösung der Sowjetunion der Fall, nahm aber nach dem Maidan-Putsch von 2014 neue Dimensionen an. Seither werden die rechtsextremen Nationalisten und Faschisten systematisch in den Staatsapparat integriert.

Der Maidan-Putsch

Anders als Blinken behauptet, war der Maidan keine Entscheidung für Demokratie, sondern ein rechter Putsch. Der gewählte Präsident Janukowytsch, der zwischen Russland und den Westmächten lavierte, wurde mithilfe faschistischer Milizen und mit offener Unterstützung Washingtons und Berlins aus dem Amt gejagt und durch Poroschenko ersetzt.

Victoria Nuland, damals Abteilungsleiterin und heute Nummer drei im US-Außenministerium, paradierte persönlich auf dem Maidan, um die Proteste gegen Janukowytsch anzufeuern. Sie brüstete sich öffentlich, die USA hätten fünf Milliarden Dollar in einen Regimewechsel in der Ukraine investiert.

Auch der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, damals noch Außenminister, reiste nach Kiew, um mit den Oppositionsparteien und Janukowytsch dessen Ablösung auszuhandeln. Dabei arbeitete er direkt mit Oleh Tjahnybok, dem Chef der faschistischen Partei Swoboda, zusammen. Swoboda, die außer in einigen Gebieten der Westukraine kaum über Einfluss verfügte, steht in der Tradition der Organisation Unabhängiger Nationalisten (OUN), die im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaborierte und an Massenmorden beteiligt war. Sie unterhält unter anderem Beziehungen zur deutschen NPD.

Die Tinte unter Steinmeiers Vereinbarung war kaum trocken, als der Rechte Sektor, eine neofaschistische Miliz, das Zentrum von Kiew eroberte und Janukowytsch, der um sein Leben fürchtete, in die Flucht trieb.

Seither sind solche faschistische Milizen ein fester Bestandteil des politischen Lebens des Landes. Sie terrorisieren politische Gegner und halten den Krieg gegen die pro-russischen Separatisten in der Ostukraine in Gang. So kamen am 2. Mai 2014 im Gewerkschaftshaus von Odessa über 40 Gegner des neuen Regimes ums Leben, als Faschisten das Gebäude in Brand setzten und die Opfer daran hinderten, es zu verlassen.

Das Asow-Regiment

Eine Schlüsselrolle unter den rund 80 rechtsextremen Milizen, die für den Kampf gegen die ostukrainischen Separatisten aufgebaut und ausgerüstet wurden, spielt das Asow-Regiment. Gegründet von Andriy Biletsky, der im Laufe des Maidans aus dem Gefängnis befreit wurde, wo er eine Haftstrafe wegen Mordes absaß, machte es aus seiner Bewunderung für die Nazis nie ein Hehl. Biletsky bekannte sich zum „Kreuzzug der weißen Nationen der Welt gegen die semitisch geführten Untermenschen“. Die Symbole des Asow-Regiments, Wolfsangel und Schwarze Sonne, waren von Hitlers SS im Zweiten Weltkrieg benutzt worden.

Trotzdem wurde die Miliz von Staat und Oligarchen finanziert und ausgerüstet. Präsident Poroschenko lobte sie 2014 bei einer Preisverleihung: „Das sind unsere besten Kämpfer.“ Biletsky wurde in Fernseh-Talkshows gefeiert und 2014 ins Parlament gewählt. Schließlich wurde die Miliz offiziell in die ukrainische Nationalgarde integriert, wo sie ein eigenes Regiment bildet.

„Dieser Status ging mit einem Waffenarsenal einher, das keine andere rechtsextreme Miliz auf der Welt für sich beanspruchen kann, darunter kistenweise Sprengstoff und Kampfausrüstung für bis zu 1.000 Soldaten,“ berichtet das US-Magazin Time, das vor einem Jahr einen umfangreichen Bericht über die faschistische Miliz veröffentlichte.

Asow sei weit mehr als eine Miliz. „Sie verfügt über eine eigene politische Partei, zwei Verlage, Sommerlager für Kinder und eine Bürgerwehr, die Nationale Miliz, die neben der Polizei auf den Straßen der ukrainischen Städte patrouilliert.“ Ihr militärischer Flügel verfüge über „mindestens zwei Trainingsbasen und ein riesiges Waffenarsenal, von Drohnen und gepanzerten Fahrzeugen bis hin zu Artilleriegeschützen.“

Die staatliche Förderung faschistischer Milizen hat die Ukraine zu einem Zentrum für die militärische Ausbildung und politische Vernetzung von Neonazis aus der ganzen Welt gemacht. Time zitiert den Sicherheitsexperten und früheren FBI-Agenten Ali Soufan, nach dessen Schätzung „in den letzten sechs Jahren mehr als 17.000 ausländische Kämpfer aus 50 Ländern in die Ukraine gekommen sind“. 40 US-Kongressabgeordnete forderten das US-Außenministerium deshalb auf, Asow als ausländische terroristische Organisation einzustufen, wurden aber abgewiesen.

Die Partei Nationalkorps, der politische Arm von Azow, hat nach eigenen Angaben rund 10.000 Mitglieder und unterhält intensive Beziehungen zu faschistischen und Neonaziorganisationen auf der ganzen Welt – darunter Die Rechte, Der III. Weg und die Identitären in Deutschland, CasaPound in Italien und Groupe Union Défense in Frankreich.

Olena Semenyaka mit Hitlergruß und Hakenkreuzfahne (Bild: varisverkosto.com)

Chefideologin und internationale Sekretärin des Nationalkorps ist die 34-jährige Olena Semenyaka. Eine Studie der George Washington University bezeichnet sie als „First Lady of Ukrainian Nationalism“. Semenyaka hat Philosophie studiert und sich dabei auf die Vorbilder der neuen Rechten – Julius Evola, Alain de Benoist, Martin Heidegger, Ernst Jünger, Carl Schmitt, Armin Mohler u.a. – konzentriert. Ursprünglich eine Anhängerin des russischen Faschisten Aleksandr Dugin, tritt sie heute – ähnlich wie die Identitären und Steve Bannon – für eine paneuropäische Allianz von Ethnostaaten ein.

Anfang vergangenen Jahres bekam sie eine halbjährige Stelle als Forscherin am geisteswissenschaftlichen Institut in Wien. Die Universität zog den Auftrag erst zurück, als sich in den sozialen Medien ein Sturm der Empörung erhob. Ein Foto Semenyakas mit Hakenkreuz-Flagge und Hitlergruß war viral gegangen.

Faschismus und Krieg

Die prominente Rolle, die Neonazis und Faschisten im ukrainischen Staat spielen, ist kein Geheimnis. Es sind keine geheimdienstlichen Informationen erforderlich, um sie zu erkennen, eine kurze Google-Recherche genügt. Die Politiker und Journalisten, die wild entschlossen sind, für die Ukraine einen Krieg gegen Russland zu riskieren, wissen, wofür sie eintreten. Sie haben den braunen Sumpf selbst geschaffen, um ein Bollwerk gegen Russland und gegen die europäische Arbeiterklasse aufzubauen.

Die USA beliefern die ukrainischen Streitkräfte und Milizen seit Jahren mit Waffen und Ausbildern, wohl wissend, dass faschistische Milizen davon profitieren. Als US-Präsident Barack Obama 2015 ein entsprechendes Gesetz unterzeichnete, schloss es finanzielle und militärische Unterstützung für das Asow-Regiment ausdrücklich nicht aus, obwohl dies allgemein erwartet worden war.

Die New York Times hat mehrmals reich bebilderte Reportagen über die Bewaffnung und militärische Ausbildung von Zivilisten veröffentlicht, die für einen Guerillakrieg ausgebildet werden.

„Nichtmilitärische Verteidigung ist in der Ukraine nichts Ungewöhnliches. Freiwilligenbrigaden bildeten 2014, im ersten Jahr des Krieges gegen russische Separatisten, das Rückgrat der Streitkräfte im Osten des Landes, als das ukrainische Militär in Trümmern lag,“ heißt es in einer entsprechenden Reportage vom 26. Dezember 2021. „Das wird nun formalisiert, sie werden zu Einheiten der neu gegründeten Territorialen Verteidigungskräfte, einem Teil des Militärs.“ Die Ausbildung werde sowohl von der staatlichen Armee wie von „privaten paramilitärischen Gruppen wie der Ukrainischen Legion“ durchgeführt.

Es ist offensichtlich, dass hier eine stramm rechte Bürgerkriegsarmee entsteht, die auch gegen Oppositionelle oder streikende Arbeiter im eigenen Land eingesetzt werden kann. Trotzdem – oder gerade deshalb – wird der Ruf nach Waffenlieferungen an die Ukraine auch in Deutschland und Europa immer lauter. Vor allem die deutschen Grünen, die jetzt mit Annalena Baerbock die Außenministerin stellen, treten seit langem dafür ein.

Die Kriegsvorbereitungen gegen Russland und der Aufbau faschistischer Milizen sind zwei Seiten ein und derselben Entwicklung. Das kapitalistische System befindet sich in einer ausweglosen Krise. Die soziale Ungleichheit ist so hoch wie noch nie. Während weltweit über 15 Millionen an Covid-19 starben und hunderte Millionen ihr Einkommen verloren, haben sich die Spitzen der Gesellschaft enorm bereichert. Das ist auch in der Ukraine der Fall. Laut Forbes wuchs das Vermögen der 100 reichsten Ukrainer in einem Jahr um 42 Prozent auf 44,5 Milliarden US-Dollar.

Die herrschende Klasse erwartet eine soziale Explosion, und sie reagiert darauf wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Faschismus und Krieg. Nur eine internationale Bewegung der Arbeiterklasse, die für den Sturz des Kapitalismus und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft kämpft und jede Form von Nationalismus zurückweist, kann eine solche katastrophale Entwicklung stoppen.

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